Wertbewusstsein bei Religiösen und Säkularen

(hpd) Nicht zufällig zum 150-jährigen Bestehen des Bundes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands (BFGD) legt der promovierte Philosoph und Religionswissenschaftler Erich Satter dieses Buch vor, das sich mit der Beziehung zwischen Ästhetik und Ethik befasst.

Der besonders im freireligiösen und freigeistigen Raum bekannte Denker und Sachbuchautor Erich Satter legt uns nach zahlreichen Büchern und Vorarbeiten im Bereich von Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik ein neues, bedeutendes Werk vor, das in einer staunenswerten Materialfülle und präzisen Argumentationsform Werte und Wertbewusstsein in Religion und Philosophie, Ethik und Ästhetik darstellt und analysiert. Eines der Charakteristika dieser Publikation ist, dass sie alle Denkrichtungen objektiv zu würdigen versucht, aber nie so radikalkritisch wird, dass sie das Kind mit dem Bad ausschüttet.

Das zeigt sich besonders deutlich in Satters Analyse einer enormen Anzahl von Religionsdefinitionen. Am Ende bleibt Religion erhalten, aber nicht mehr als metaphysische Beziehung zu Gott oder Göttern, Geistern oder Dämonen, sondern als „Orientierung im Dasein in sozialer Gebundenheit und Reflexion von Geist und Gefühl“. Damit hat Satter die Religion sozusagen endgültig säkularisiert und humanisiert, obwohl man dabei freilich fragen kann, ob er sie auf diese Weise nicht in praktischer Philosophie oder Soziologie aufgelöst hat. Evtl. wäre auch der Begriff Geist durch den der Ratio zu ersetzen, weil ersterer zu viele Assoziationen an die deutsche idealistische Philosophie (Hegel, Fichte, Schelling etc. bis hin zu Max Schelers „Die Stellung des Menschen im Kosmos“) weckt.

Mit einer ähnlich stupenden Materialfülle wartet Satter in seiner Darstellung bedeutender ethischer Systeme auf. Das Resultat seiner Analysen: ein negativer Utilitarismus, der das Leid in der Welt zu verringern und die Zustände, die zum Leid führen, zu verbessern bzw. abzuschaffen sucht.

Allerdings hätte Satter diese durchaus plausible negativ-utilitarische Ethik durch systematische Einbeziehung der Tierwelt erweitern sollen, denn Humanisten aller Couleur erkennen inzwischen immer klarer, dass das Humanum ohne eine grundlegende Änderung der Zustände, in denen sich die Tierwelt durch unsere Schuld befindet, ohne einen prinzipiellen Wandel in unserem Verhältnis zu den Tieren bis hin zur Abstellung unserer kannibalischen Essgewohnheiten nicht gerettet werden kann. Ohne Tier-Ethik keine Human-Ethik!

Als eminenter und umfassender Kenner erweist sich der Autor schließlich auch bei der Charakterisierung der zahlreichen freireligiösen, freigeistigen und freidenkerischen Gruppierungen in Deutschland, in denen er Symptome einer neuen „Zweiten Achsenzeit“ sieht, in der die Religion als säkularisierte, konfessionsfreie, entkirchlichte zu echter Toleranz und Dogmenfreiheit findet und damit auch den Staat befreit aus seiner immer noch bestehenden Abhängigkeit von den Kirchen und dem Muss, sie bis in die Gesetzgebung und Rechtsprechung hinein zu privilegieren. Durch die Pontifikate des Wojtyla- und des Ratzinger-Papstes hat diese Abhängigkeit trotz abnehmender Kirchenmitgliedszahlen nicht etwa ab-, sondern sogar noch zugenommen.

Bei einem so umfangreichen, viele Einzelheiten enthaltenden Werk sind selbstverständlich kleinere Fehler nicht zu vermeiden gewesen. Der Rezensent erwähnt sie auch nur, weil diese ausgezeichnete Publikation weitere Auflagen verdient, in denen diese marginalen Defizite dann nicht mehr auftauchen sollten. So sollte auf S. 81 ff der Buddhismus insgesamt nicht unter »Pantheismus« subsumiert werden. In seiner Ursprungsform ist er wohl eher eine atheistische Ethik. Das Eingangszitat zur Darstellung des Buddhismus auf S. 81 stammt nicht von Buddha, sondern von Erich Fromm.

Sodann: Sicherlich wird die historisch-kritisch vorgehende Exegese, die uns verdienstvoller Weise die Entmythologisierung und Enttabuisierung der geoffenbarten „Heiligen Schriften“ des Alten und Neuen Testaments gebracht hat, mit Satter nicht übereinstimmen, wenn er erklärt, dass man den Text der Bibel nicht „nach dem Buchstaben auslegen“ dürfe, ihn vielmehr „als Gleichnis und Metapher lesen“ solle, „wie es eine exakte Exegese erfordert“. Man dürfe „Bibeltexte nicht wörtlich nehmen, sondern muss sie hermeneutisch ausdeuten“. Gerade wenn man das täte, wäre jeder Heiligsprechung der biblischen Texte, selbst der gewalttätigsten und grausamsten, Tür und Tor geöffnet.

Satters Buch beweist eine enzyklopädische Fach- und Sachkenntnis, schürft aber in vielen Hinsichten tiefer als Enzyklopädie-Artikel. Daher wäre es nützlich, einer weiteren Auflage seines Werkes ein Personen- und Sachregister beizufügen. Fast unrealisierbar ist wohl der Wunsch, die genauen Mitgliederzahlen der freidenkerischen, frei-geistigen und freireligiösen Gemeinschaften einzuarbeiten. Abgesehen von diesen Marginalien: Es ist ein imposantes, unsere Kenntnisse bereicherndes, unser Denken anspornendes Buch!

Hubertus Mynarek

Erich Satter, Wertbewusstsein im Spiegel von Religion und Postmoderne, Neu-Isenburg 2009 (Angelika Lenz Verlag), 456 Seiten, 25,00 €.