„...und irgendetwas gab es immer nicht.“

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Hausfront / Fotos (c) Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Ein Weg durch die Jahre: 20 Jahre Mauerfall – ein Grund, Menschen zu treffen, mit ihnen zu sprechen. Hier das vierte Gespräch: Über Alltag, Selbstbewusstsein und das Zuhause. Berlin Mitte, Leipziger Straße. Wir treffen Dieter Schumann. Seit 1978 arbeitet er hier erst als Elektriker, 1989 wurde er Hausmeister, ist es auch heute noch.

Damit ist er der dienstälteste Hausmeister in diesem Gebäudekomplex aus sechs Häusern. Von dem Wandel, den er in diesen 31 Jahren erlebt hat, berichtet er. Die Häuser hier waren damals im Besitz des "Dienstleistungsamtes für ausländische Diplomaten" der DDR und die Wohnungen waren reserviert für Diplomaten, ausländische Journalisten, Handelsvertretungen und frei für nur einige DDR-Bürger. Man kann von hier aus direkt auf die Häuser der Kochstraße und das Springer-Hochhaus gegenüber sehen. Wenige hundert Meter entfernt trennte die parallel verlaufende Mauer die beiden deutschen Staaten und drei bis vier Gehminuten entfernt befand sich der ehemalige Grenzübergang ‚Checkpoint Charly’.

hpd: „Herr Schumann, hier, an der Leipziger Strasse in Sichtweite der ehemaligen Grenze haben Sie gearbeitet. Konnte jeder Mensch hierher kommen oder bedurfte es einer Sondererlaubnis?“

Dieter Schumann: „Die Leipziger Straße war hier vor dem Mauerfall offen, für jeden zugänglich und kein gesperrtes Gebiet. Im Gegenteil, es war ein beliebter Anziehungspunkt. Gegenüber gab es einen Feinkostladen mit speziellem Warenangebot: Es wurden Südfrüchte angeboten, spezielle Wurst, Kaviar, Marmelade, Käse, Artikel eben, die es in der Republik so nicht zu kaufen gab. Und so kam es, dass Leute aus Halle, Magdeburg und so weiter hier ankamen, um dann in kleineren Mengen auch für ihre Freunde einzukaufen. Ein Stück weiter Richtung Potsdamer Platz gab es den „Dacia“, ein Geschäft für PKW-Ersatzteile. Berlin wurde generell bei der Warenlieferung bevorzugt bedient. Der Gendarmenmarkt ist nur zwei Minuten entfernt und war immer belebt.“

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Gendarmenmarkt, 1986 und 2009

 

Hinein geborgen wurde Dieter Schumann 1952 in den Arbeiter- und Bauernstaat. Eine glückliche Kindheit, die der mit seinen Eltern in Altglienicke erlebte, eher am ländlichen Rand von Berlin. Auch 1961, also der Mauerbau, war nicht weiter erschütternd. „Man konnte dann eben einfach nicht mehr mal so ’rüberfahren’“. Dafür gab es andere Pflichten. FDJ- und Pionier-Treffen störten offensichtlich eher seine individuelle Entwicklung.
Unruhe, Unzufriedenheit? Das Leben war gut. Schwierig war es, Wohnungen zu bekommen, die waren eher Ehepaaren vorbehalten. Die DDR hatte ihre Wohnungsbauprogramme an den Stadtrand verlegt, zum Beispiel nach Marzahn und Hohenschönhausen.

„Meine Frau und ich haben nicht wegen der Wohnung geheiratet, sondern weil wir uns lieb hatten und so ist es immer noch; eine Wohnung haben wir dann eben auch noch bekommen. Allerdings nach einigen Jahren Wartezeit. Wir haben dafür gearbeitet und Geld bezahlt, aber dann hatten wir eine 2-Raum Wohnung. Die war nicht so glücklich vom Architekten geplant, aber wir hatten alles – uns, eine Wohnung und Arbeit.“

Reisen? – Ja, als Jugendlicher war Dieter Schumann schon in Polen. Einfach war es nicht, die DDR ließ 30 Mark pro Tag als Reisegeld und Umtausch zu. Das war mit Benzin, Übernachtung und Essen sehr wenig. So war Reisen für ihn, damals Mitte 20, und seine junge Frau erst einmal abgetan.

Die Tschechoslowakei mit Prag war dann doch wieder einmal ein Reiseland. Politisch ist ihm zu der Zeit nichts Besonderes aufgefallen. Alle paar Jahre gab es eine Reise vom FDGB. „Da war ich sehr enttäuscht und hatte es mir doch anders vorgestellt.“ Als er gefragt wurde, ob er Genosse werden wolle, wusste er nicht, wozu das gut sein sollte. Erarbeitet hatte er sich alles selber und brauchte niemandem für irgendetwas danke schön zu sagen.

„Wann kam bei Ihnen erstmals an, dass andere politische Veränderungen suchten?“

„So richtig ist mir das aufgefallen, als Künstler ausgereist sind. Manfred Krug zum Beispiel. Da habe ich mir schon überlegt, warum will der denn weg? Der hat hier doch eine gute Anerkennung und Einbindung, hat gut Geld verdient…“

„Wer hat Ausreiseanträge gestellt und sind auch Menschen ausgereist, die Sie kannten?“

„Ein Schulfreund hat den Antrag gestellt, sein Vater war in West-Berlin. Ich hatte den Eindruck, viele sind rüber gegangen, um besser zu leben, vielleicht auch um zu Reisen und eben die Meinung frei zu sagen. Hier konnte man ja nur der staatlichen Vorgabe zunicken oder gar nichts sagen.

„Gab es Gründe für die DDR-Bürger auch stolz zu sein?“

„Na, ja, natürlich konnte man zum Beispiel auf die Erfolge bei der Olympiade stolz sein. Es ist ja erst später festgestellt worden, dass gedopt wurde. Wir hatten den Eindruck, die trainieren fleißig, die arbeiten fleißig, es waren ja freigestellte Sportler. Der Sport war ihre Arbeit. Sie waren meist der Polizei oder der Armee zugestellt. Wie später die Erkenntnis mit den Dopingmitteln herauskam, war es eben nicht mehr so schön.“

„Hätten Sie gerne etwas an der DDR geändert? Wären Sie beispielsweise einem der Politiker als Freund zu Hause begegnet, hätten Sie ihm sagen können, Du hör mal, ich …“

„Klar, hätte ich das …“


„ ... und was hätten Sie ihm gesagt?“

„Reisefreiheit, wär’s gewesen, die hätte ich mir gewünscht. Die meisten Menschen sind aus der DDR nicht raus gekommen oder doch nur in bestimmte sozialistische Länder. Nur ganz wenig Menschen durften nach Jugoslawien oder Cuba. Bulgarien, da war die Reise sehr teuer, da musste man erst mal 5.000 Ost-Mark haben, um 14 Tage ans Schwarze Meer zu fahren und das ist schon eine ganze Menge.“

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Verlauf der Mauer in Berlin-Mitte

 

„Sind Sie der Ansicht, dass die fehlende Reisefreiheit einen Schritt zur Auflösung des Staat darstellte?“

„Ich denke ja. In den späteren Jahren vor der Wende durften die Ungarn alle zwei Jahre ins westliche Ausland fahren und haben von ihrem Staat begrenzte Devisen bekommen. Die Polen durften fahren, die Jugoslawen sowie so. Ja, ich denke schon, dass in der Reise-Unfreiheit ein wesentlicher Grund zu suchen war.“

„Wann ging es Ihres Erachtens los, dass die Bürger deutlich gemacht haben, dass sie so nicht mehr wollten und die Regierung dieses auch erkannte? Ist ihnen eine Zäsur in Erinnerung?“

„1968. Der Einmarsch der DDR in die Tschechoslowakei. Das haben die Tschechen nicht so gern gesehen und waren schon sauer auf die DDR und uns Bürgern war das verständlich.“

„Wenn Sie jetzt einen großen Zeitsprung machen von 1968, 10, 15, 19 Jahre weiter …“

„In Polen ging es mit Solidarnosc weiter. Uns hat man in die Betriebe bestellt, begann zu agitieren, um uns auf den Sozialismus einzuschwören. Die Bewegung in Polen sei angeblich von außen gesteuert und wieder kamen Gedanken auf, Mensch, das kann doch nicht alles gut sein. Es gibt doch Werte wie Freiheit, Veränderung. Ja, so war das damals und ein Punkt kam zum anderen.“


„Wann war es für Sie nicht mehr zu übersehen, dass es ein Volk gab, das dieses System so nicht mehr wollte?“

„Als Gorbatschow an die Macht kam. Man sah ihn als Hoffnungsträger an und wir haben schon gewaltige Veränderungen gemerkt. Wir wurden vom Betrieb aus zur damaligen Karl-Marx-Allee geschickt und die sind ihren Tschaikas nur durchgerast, während wir da standen als Wachsfiguren und konnten noch nicht einmal etwas sehen. Ich denke, man wollte ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit Gorbatschow unterbinden. Er war als Hoffnungsträger bei Honecker nicht so gerne gesehen. Es heißt doch, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, und das hat sich nun bewahrheitet.“


„Sie sagen sehr deutlich, Sie seien kein politischer Mensch sondern ein Familienmensch und gut war es für Sie, in Ruhe gelassen zu werden. Trotzdem möchte ich nachfragen: Wie war es bei Ihnen und Ihren Freunden, Kollegen, haben sie den Politikern eher geglaubt oder eher hier rein, da raus?“

„Den Politikern geglaubt? … Zum Beispiel die Wahlbeteiligung oder Planerfüllung? Nein, es war doch mehr eine Misswirtschaft und irgendetwas gab es immer nicht. Immer hat was gefehlt, ob es Waschmittel war oder Fleisch, und dann haben sie von 110 Prozent Soll-Erfüllung gesprochen. Nein, da hat doch keiner mehr zugehört …. “


„Gab es Politiker, denen geglaubt wurde?“

„Vor der Wende sicherlich. Modrow aus Dresden zum Beispiel. Was er dann später gemacht hat, das ist eine andere Sache, der hat die Stasi sich selbst auflösen lassen. Ob das nun richtig war? Ganz gewiss nicht.“

„Hatten Sie persönlich oder durch Ihre Arbeit Kontakt mit der Stasi?“

„Nein. Dass Hausmeister und so viele Bürger für die Staatssicherheit gearbeitet haben oder auch angestellt waren, das war und ist mir unverständlich. Ich war entsetzt darüber, dass man so viele Leute dazu rekrutiert hatte.“


„Haben Sie Anhaltspunkte zur Stasi in Ihrem Privatleben?“

„Einen. Ich hatte mich beworben und meine alte Nachbarin von gegenüber kam mit: ’Du Dieter, hier waren zwei Leute, die haben sich nach Dir erkundigt, was Du so machst und wo Du so mit Deinem Motorrad rum fährst, welchen Umgang Du hast.’ Da war mir schon klar, dass ich überprüft worden war.“

„Sie sprachen von Misswirtschaft. Wie war es mit einem Auto.“

„Ich hatte mein Motorrad verkauft und mir für 6.000 Ostmark einen 10 Jahre alten Trabant gekauft, schön grau war er. Es ging gleich los, erst war der Motor kaputt und wenn man keinen in der Werkstatt kannte, musste man lange warten. Erst hat es gedauert, bis die Ersatzteile angeschafft wurden, dann waren keine Termine frei. Zwölf Jahre habe ich dann auf einen neuen Trabant gewartet und zwei Jahre vor der Wende war er dann da.“

„Fährt er noch?"

„Nein, den hat einer zu Schrott gefahren.“

Hochhäuser rechts und links der Mauer

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Springerhochhhaus (2009) mit Spruchband 

 

„Leipziger Straße, also Ihr Arbeitsplatz, war in Sichtweite der Grenze und mit einer Höhe von 13 Stockwerken überragten die Häuser die Mauer. Konnten sie rüber gucken?“

„Nur begrenzt. Natürlich haben wir erst nach der Wende erkannt, wie hell die Schaufenster waren, überhaupt die Läden, die Straßen, die Beleuchtung …, Reklame, das war dann, wie wir alles sehen konnten, einfach überwältigend. Den Straßenverkehr, die Leute, das konnten wir wohl erkennen, aber die Einzelheiten eben doch nicht.“


„War es überhaupt für Sie interessant, hinzugucken?“

„Interessant schon, aber ich kam ja sowieso nicht in den Westen. Es gab ja keinen Ausweg. Verwandte hatte ich nicht im Westen. Einen Ausreise- oder Besuchsantrag stellen konnte ich nicht, wie also sollte ich dahin fahren?“


„Wussten Sie von Republik-Flüchtlingen?“

„Ja, schon. Entweder, dass sie erschossen wurden. Das haben wir im SFB gesehen. Oder, wenn es aus dem Bekanntenkreis jemand war, dann hieß es, Du, der wollte abhauen, den haben sie verhaftet, eingesperrt. Die Republik-Flüchtlinge, die nicht raus kamen, waren meistenteils zwei bis drei Jahre im Gefängnis und wurden dann ausgetauscht, also freigekauft.“

„Welche Gefühle traten bei Ihnen auf?“

„Eine Verhärtung, denn eigentlich konnte ich die Menschen nicht richtig verstehen. Der Druck musste so groß gewesen sein und oft haben sie ihre Familie verlassen und die Kinder blieben hier zurück.“

„Wie das Jahr 1989 den Lauf nahm, den wir alle kennen, wie war das für Sie, welche Auswirkungen kamen auf Sie zu?“

„Für mich war das sehr, sehr ungewöhnlich. In der Nacht, als die Grenze aufgemacht wurde, saßen wir hier in der Leipziger Straße „Am Tresen“, das war eine Gaststätte, und gegen 22 Uhr kam’s dann mit: „Habt ihr schon gehört, die Grenzen sind auf“. Keiner hat’s geglaubt. Wir sind alle nach Hause und meine Frau und ich haben dann ewig vor dem Fernseher gesessen. Die Öffnung vom Checkpoint Charly war zu sehen. Ich hatte erst gedacht, wer weiß, vielleicht lassen sie nur die, die Druck machen gehen und dann sind die Grenzen wieder zu und ich komme nicht mehr zurück, da war ich ein bisschen unsicher. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass die Politiker so einfach ihre Posten aufgeben. Wir brauchten für ein gemeinsames Land keine zwei Regierungen, keine doppelten Präsidenten und Minister…. Politisch war das schon eine ungemütliche Situation, denn es gab ja noch die Russen als Besatzungsmacht. Würden die eingreifen? – Fragen hingen in der Luft. War ja aber nicht so, wie gesagt, dann bin ich rüber, hab in Rudow einen alten Schulfreund besucht. Der war ganz überrascht und zur Begrüßung hieß es: „Was macht ihr denn hier?“. Also, der hatte gar nichts mitgekriegt.

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  Checkpoint Charly (1980) und heute

 

Am 3. Tag, also am 11. November, sind wir rüber gelaufen. Mitten in einer Schlange, immer drei, vier Leute nebeneinander, 1 ½ Stunden, an der Leipziger Straße angefangen über die Charlottenstraße bis zum Checkpoint Charly. – Wir sind nur gegangen, keiner hat uns mehr kontrolliert. Daran kann ich mich wie heute erinnern … Und die haben uns umarmt, uns 10 West-Mark in die Hand gedrückt, damit wir was kaufen konnten, wir hatten ja nichts. Und rein in den Bus, alles war rammelvoll, da hat keiner nach Fahrkarten gefragt. In der Karl-Marx-Straße haben wir uns die Häuser und Geschäfte angeguckt. Und dann sind wir zusammen mit einem Freund auf den Ku-Damm. Da war noch mehr los.

Am folgenden Tag haben wir auch unseren Sohn mitgenommen. Wieder auf der Karl-Marx-Straße blieb er stehen: 'Papa, Papa, komm doch mal schnell, was ist denn das?'. Wub – Sexläden gab es in der DDR doch nicht. Also Neuland und mit: 'Frag’ Deine Mama', war ich erst einmal aus dem Schneider.“


„Es gab keine Sex-Shops?"

„Na, ja, mit der Liebe und Sex war in der DDR alles problemlos. Man konnte relativ schnell heiraten, wurde auch schnell geschieden. Die Frauen mussten dann weiter arbeiten und für sich selber sorgen. Für die Kinder hat man Alimente bezahlt – aber warum keine Sexläden – kann ich gar nicht sagen.“


„Ist es aus Ihrer Sicht jetzt und hier verklemmter?“

„Ja. Hier geht man überlegender an alles heran. Sehen Sie einmal allein bei Hartz IV, da ist so vieles zu bedenken und hat Konsequenzen. In der DDR konnte die Frau, wenn sie ein Kind nicht wollte, problemlos die Schwangerschaft abbrechen, also abtreiben.“

„Was bedeutet problemlos abtreiben?“

„Ja, sie ist zum Arzt gegangen, hat ihre Situation geschildert und dann bekam sie einen Termin für den Abbruch. Es konnte durchaus sein, dass es in der Klinik keinen herzlichen Empfang gab. Vor einer Frau habe ich gehört, sie habe sich in der Klinik, ich möchte mal sagen, nicht gerade willkommen gefühlt, aber es wurde eben das gemacht, was die Frau wollte.“

„Wer hat aus Ihrer Sicht die Wende tatsächlich herbeigeführt. Wo war die Feder dafür, die Antriebskraft?“

„Meiner Meinung nach waren es die Kirchen, die Jugendliche um sich gesammelt hatten, beispielsweise hier in Berlin die Gethsemanekirche. Dann die Montagsdemonstrationen in Leipzig und in Dresden und dann ging es hier in Berlin auch los, dass immer mehr Bürger zeigten, wie unzufrieden sie waren. Wir haben zugesehen, wie die Leute über die Tschechei in die Bundesrepublik gekommen sind. Politisch denke ich, war Ungarn mit der Grenzöffnung im Frühjahr 1989 ein Wegbereiter.“

   

„Am 4.11.2009, also aktuell, wird die Partei Die Linke an die Ost-Berliner Großdemo vor 20 Jahren erinnern. Zur Diskussion stand, so hieß es, den 41. Jahrestag und eine Erneuerung der DDR zu bedenken. Wie sehen Sie das?"

„Das glaube ich nicht.“

„Doch, die Feier wird sein."

„Ja, das weiß ich auch, aber die DDR war wirtschaftlich am Ende. Die Politik, die die alte Regierung unter das Volk gebracht hat, die will jemand wieder haben? Nein das glaube ich nicht.“

„Glauben Sie, es handelt sich hier um einen gedanklichen Trugschluss oder die Aktivierung ehemaliger Ost-Bürger im Zusammenschluss mit West-Bürgern?“

„Na ja, das weiß ich nicht. Ich kann mir nur vorstellen, dass die alten Genossen so etwas wollen. Es gibt zusätzlich ein wenig Zulauf durch die große Arbeitslosigkeit, also Hoffnung von der Partei aus auf die Leute, die keine Arbeit finden und sich dort einbinden lassen. Das wären die, die sagen, ich habe früher besser gelebt, da brauchte ich mich nicht zu sorgen und brauchte mich nicht so viel zu kümmern. Ich persönlich denke, die DDR wäre sowieso Pleite gegangen.“


„Wenn Sie auf die vergangene Zeit zurück blicken, was hat sich für Sie persönlich verändert?“

„Ich bin zufrieden. Ich bin gerne in der Bundesrepublik. Ich kann reisen, reise auch gerne. Konsumartikel, na ja, die waren in der DDR relativ teuer. 12.000 Mark war der Preis für einen Trabant, Verdienst war 800. Da können Sie sich ausrechnen, Lebensmittel runter, was zum Leben blieb. Mir fällt aber auf, dass die Soziale Marktwirtschaft eher verdrängt wird, dass nur das Kapital zählt.“


„Haben Sie persönlich immer einen bezahlten Arbeitsplatz gehabt?“

„Ja, ich hatte auch keinen Wechsel der Arbeitgeber und das von der Lehrzeit an. Deshalb geht es mir auch relativ gut gegenüber den Menschen, die fünf Arbeitgeber hatten und dabei drei Insolvenzen erleben mussten. Na, ja, die kommen nicht so schnell auf die Beine. Ich hatte in meinem Arbeitsleben viel Glück. Meine Frau hat über die Vermittlung des damaligen Dienstleistungs-Amtes im „Haus der Ungarischen Kultur“ im Verkauf gearbeitet und wurde 1990 gleich entlassen. Sie hatte dann Glück, weil sie mit bei den ersten Arbeitslosen war und gleich eine Umschulung in West-Berlin beginnen konnte. Unser Sohn arbeitet auch schon. Er hat bei VW Audi Karosserie-Bauer und –Klempner gelernt und arbeitet jetzt auf dem Flugplatz bei einer Sicherheitsfirma.

„Der Häuserkomplex Leipziger Straße, in dem Sie nun im 31. Jahr arbeiten, war im DDR-Staatsbesitz? Nach 1989 sind viele Menschen von einem Haus in das Nachbarhaus gezogen. Worin lag der Sinn?“

„Ja, es war Staatsbesitz und der Bund hat sechs Häuser übernommen. Die Umzüge waren ganz normal. Nach der Wende wurden die Wohnungen erst nur an Bundesbedienstete vermietet. 1995 hat die Sanierung begonnen. Erst kam die Außenfassade. Die Balkone wurden verkleidet als Wintergarten. Angefangen wurde Leipziger Straße 63 und 62 und so ging es bis zur Nummer 60. Die Mieter wurden umgesetzt, ein Haus nach dem anderen leer geräumt.


„Jedes Haus für sich ist groß, 13 Stockwerke. Insgesamt rund 800 Wohnungen, dann die Geschäftsräume. Waren so viele Mieter ausgezogen, dass dann mit den Umsetzungen ein ganzes Haus geräumt werden konnte?“

„Nach der Wende sind die Leute schlagartig ausgezogen. Dann wurde saniert. Gedämmt, Badezimmer, Fliesen - eben alles modernisiert. Die Vermutung von Asbest-Verseuchung hat sich nicht bewahrheitet.
Wenn ein Haus fertig war konnten die Mieter sich entscheiden, ob sie in die ehemalige Wohnung zurück oder bleiben wollten. Die Modernisierung hatte Hand und Fuß. Die Mieten wurden nicht zu teuer rauf gesetzt. Ich fand das gut so.“

„Kamen bei den Räumarbeiten Überraschungen aus Stasi-Hinterlassenschaften zu Tage?“

„Na, ja, zum Beispiel in der Wohnung eines ZDF-Korrespondenten war ein Durchbruch zur Nachbarwohnung und hinter der Tapete wurde abgehört, was der Korrespondent gesprochen hatte. Es wusste doch keiner, welche DDR-Bürger alle für die Stasi gearbeitet haben und die zum Beispiel sind nach der Wende schlagartig ausgezogen.“

Das Sperrgebiet

„Noch einmal zurück zu der Zeit vor dem 9. November 1989. Wie war es, sich so nahe der Mauer und des Potsdamer Platz aufzuhalten?“

„Na, bis zur Mauer kam man nicht. Wilhelmstraße, also vor dem Potsdamer Platz, war Schluss. Dort war die Wendeschleife für die Busse. Danach war Sperrgebiet, da durfte man nicht rein und hat auch nichts gesehen. Ganz von weiten war eine Mauer zu sehen, aber das war nicht die richtige Mauer, das war nur eine Vor-Mauer. Die Mauer selbst haben wir nur im West-Fernsehen gesehen. Das gleiche auch in Altglienicke, wo ich jetzt wohne, da war früher die Köpenicker Straße, nach der Wende umbenannt in Neudecker Weg und der führt nach Rudow. Auch dort war ein Sperrgebiet. Wer dort hin zur Arbeit musste oder dort wohnte, der hatte einen speziellen Ausweis und wenn Besuch kommen wollte, das ging auch nur mit einem speziellen Ausweis, der zu beantragen war. Mit vielem kann man sich arrangieren, zumal wenn man dort Zuhause ist“.


„Ihre erste Reise, Herr Schumann, wohin ging sie?“

„Nach der Wende? Nach Italien, Gardasee, 17 Stunden Fahrzeit, da waren wir bedient.“

„ Im Trabi?“

„17 Stunden im Reisebus.“


„1989-1990 war das schon mehr als eine spannende Zeit?“

„Ja, klar - schön, spannend, die Leute haben uns herzlich empfangen. Ich fand’s gut. Man konnte in der Zeit so viel erleben, alles Mögliche war neu und jeder hat es anderes erlebt. Morgens kam von allen Seiten: Hast du dieses und das schon gesehen, den Botanischen Garten, den Funkturm, Kino, das Ku-Dorf…. es gab vieles zu verarbeiten. Was ist heute – jeder ist sich wieder selber der nächste, alles ist ein bisschen kühler. Mein Sohn zum Beispiel, der hat diese Probleme nicht, die hängen mehr in meiner eigenen Generation und wir sterben irgendwann aus und dann ist Berlin Berlin.“

Das ist Dieter Schumann. Danke für dieses Gespräch.

Die Fragen stellte Evelin Frerk.

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Die anderen Gespräche:

Gespräch 5: „Der Baum der Verwandlung blüht ewig.“

Gespräch 3: "Findet eine Revolution statt, wird doch gearbeitet“

Gespräch 2: „Wir waren zwar alle aufgeklärte Marxisten...“

Gespräch 1: „Leben im Wandel des ‚Systems'"