In eigener Sache: Textarchiv / Toxische Papiere

Zur Vergegenwärtigung dessen, worum es sich (beispielsweise) handelt, dokumentiert Herbert Gerl aus dem Kernbestand des „Buch der Bücher“; zum einen aus dem Alten Testament und dem Propheten Jesaja, zum anderen aus dem Neuen Testamen und den Schriften des Paulus. Es verdeutlicht die Sichtweise eines zornigen Vatergottes, der sich nicht anders zu helfen weiß als seinem Zorn seinen unschuldigen Sohn sich selbst zum Opfer zu bringen.

Schwarze Pädagogik

Beide, Jesaja und Paulus, repräsentieren einen bestimmten Typus des Lernens und der Pädagogik, „den Typus des Lernens aus Angst, des Lernens aufgrund von Drohungen, der Verhaltensanpassung durch Konditionierung; es ist, wie man das erziehungswissenschaftlich seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nennt, ‚schwarze Pädagogik’ in reiner Form. (...) In beiden Fällen werden Menschen ohne Bedenken zu Objekten gemacht, deren möglicher Eigensinn als störendes Element betrachtet und folgerichtig eliminiert werden muss.
Alice Miller hat als Psychotherapeutin das Konzept solcher schwarzer Pädagogik auf eine griffige und zugleich erhellende Formel gebracht. Der Imperativ hinter allen erzieherischen Einzelmaßnahmen, hinter allen Lern- bzw. Anpassungsforderungen lautet: ‚Du sollst nicht merken’. Es sollen im Lernenden bestimmte Haltungen internalisiert werden und ihm in Fleisch und Blut übergehen, ohne dass sich das Objekt solcher Manöver Klarheit darüber verschaffen darf, was eigentlich vor sich geht und was mit ihm geschieht.“

Nach der Aufzählung der langen Reihe der ‚schwarzen Imperative’ des „Du sollst nicht merken,...“ nennt Gerl das oberste dieser Gebote, „das das ganze System dieser Denkverbote abstützt und gegen Kritik immun macht: Du darfst noch nicht einmal merken, dass Du dies alles nicht merken sollst. Es gehört mit zu Deinen Aufgaben, dies alles vor Dir selber zu verbergen und Dir einzuprägen, dass Lernen und Erkennen für Dich schädliche Bemühungen sind. Denn dieser Gott hat für Dich nicht Erkenntnis und Aufklärung, sondern das Dunkel und das Geheimnis, das Meinen und Glauben vorgesehen.“

Nun stutzt man natürlich, denn die Kirchen zeigen heute, insgesamt gesehen, doch ein anderes Gesicht als die Düsternis in den „toxischen Papieren“. Sind die Grundlagentexte vielleicht innerkirchlich bewusst beiseite gelegt werden? Nein. „Im Gegenteil: die Kirchen halten, mit einer, wenn man die Gründe nicht kennt, erstaunlichen Ungeniertheit und Hartnäckigkeit ausnahmslos an allen, auch den krudesten Texten fest.“

Die schönen und die hässlichen Stellen

Geht man nun auch davon aus, dass kein Pastor heute das Lernen als schwarze Pädagogik befürwortet, entsteht umgehend die Frage, wie es denn möglich sein soll, „auf der Grundlage solch schwarzer Texte eine andere, freiere, nicht drohende oder ängstigende Praxis aufzubauen? Versuche in dieser Richtung werden von Seiten der Kirchen mit Hilfe einiger Manöver in Angriff genommen, die im Folgenden zu skizzieren sind.“

1. a. Alles, was - nach Auskunft einer innerkirchlich gut entwickelten stillen Zensur - nicht mehr zitierfähig ist, wird einfach nicht mehr zitiert und weggelassen, und
1. b. Anwendung der „Strategie der schönen Stellen“, von denen es ja auch in der Bibel einige gibt. Allerdings muss man sich dann des mühsamen Peinlichkeitsvermeidungslernens (Sloterdijk) befleißigen, (da an die schönen Stellen meist abrupt wieder Bedrohliches folgt) d.h. ein schwarzes Lernen zweiter Ordnung.
2. Die Strategie der „systematische Gewöhnung an das Unglaubliche, die Veralltäglichung (und damit Verharmlosung) des eigentlich Schrecklichen. Auch diese Einübung des Nicht-Wahrnehmens, die „ sorgfältige Missachtung des Offensichtlichen ist ein strategisch genau platziertes schwarzes Lernen. Das Bestehen auf einer frühestmöglich einsetzenden christlichen Erziehung von Kindern (in Krabbelgottesdiensten, christlich geführten Kindergärten, in Kinder-Bibel-Wochen, in Aktionen und Ausstellungen „Kinder malen die Bibel“ usw.) soll dazu führen - und führt in der Tat dazu - , dass wiederum nicht bemerkt wird, was da eigentlich an unglaublichen „Glaubensinhalten“ transportiert wird. Allem voran ein blutiges „Erlösungswerk“ Jesu, dessen unbehebbare Absurdität oben expliziert wurde. Das Kreuz - ein tödliches Folterinstrument: überall, schon in Kindergärten, dann in Schulen und Schulbüchern, in Kirchen und Friedhofskapellen, weithin sichtbar und nachts angestrahlt auf Kirchtürmen, bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen, in jeder kirchlichen Aktion und Publikation ganz selbstverständlich präsent. Der blutüberströmte, gequälte Körper Jesu - ein alltägliches Bild, bei dem man sich nichts mehr denkt. Und man soll sich auch nichts mehr dabei denken.
3. Daneben gibt es aber noch ein drittes Element. „Man könnte es die Strategie der theologischen Vernebelung nennen.“ Die Formulierungen, die sich Theologen ausdenken, für etwas, was eigentlich ganz offensichtlich sein müsste.

Zwischenfazit: „Peinlichkeitsvermeidung, Gewöhnung, Verschleierung verändern zwar die Kommunikation und Wahrnehmung der Kirchen in der Öffentlichkeit, aber es sind allesamt Ausweichbewegungen und damit Formen defizitären Lernens. (...) Solchem defizitären Lernen ist ein anderer Lernbegriff gegenüberzustellen, der sich dadurch auszeichnet, dass er es dem Lernenden (sei es ein Einzelner, sei es eine Organisation) ermöglicht, die Grundlagen seines eigenen Denkens und Handelns genau, ohne Einschränkung, ohne Tabu, ohne Strafandrohung in den Blick zu nehmen und aufzuklären. Es ist ein Lernen, das nicht von außen, durch die Umstände aufgenötigt, sondern vom Lernenden selbst, in eigener Regie und Verantwortung initiiert und fortgesetzt wird, solange und soweit, wie er es will. Es ist der anspruchsvolle Weg - sagen wir es ohne Scheu vor großen Worten - eines Lernens als Selbstentwicklung und Selbstbefreiung.“