Zweifel und Glauben

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Foto: Gerd Lüdemann

GÖTTINGEN. (hpd) Zur Frage der Wissenschaftsfreiheit und der Religionsfreiheit für Professoren der Theologie an deutschen Universitäten. Ein Vortrag, der die „Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung von Theologien an deutschen Hochschulen“ um eine persönliche Erfahrung ergänzt.


Von Gerd Lüdemann*)

Ich wurde zu diesem Vortrag eingeladen, weil ich infolge von Zweifeln am christlichen Glauben meine Professur für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen verloren habe. In einem ersten Teil schildere ich daher kurz den Fall und gebe ich den Eindruck wieder, den ich bei den Auseinandersetzungen vom inneren Zustand der Evangelischen Kirchen gewonnen habe. In einem zweiten Teil beschreibe ich, worin traditioneller christlicher Glaube von jeher besteht und warum wirklich Zweifel an ihm nötig ist. In einem dritten Teil erzähle ich, wie weithin vergessene frühchristliche Texte mir geholfen haben, eine religiöse Weltanschauung zu gewinnen, die die Ergebnisse der modernen Bibelkritik voraussetzt.

1. Einführung

Alle, die als Geistliche in den Dienst einer evangelischen Kirche treten wollen, müssen bei der Ordination ein Gelöbnis ablegen. In der für niedersächsische Kirchen geltenden Fassung lautet es: „Ich gelobe, das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und im Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist, lauter und rein zu predigen.“ Zum Bekenntnis gehört auch das Apostolikum, das Gottesdienstbesucher jeden Sonntag sprechen.

Nun rufen biblische Geschichten wie die von der Jungfrauengeburt oder der Auferstehung Jesu, auf die sich das Apostolikum bezieht, bei vielen Zeitgenossen nur noch Kopfschütteln hervor. Aber auch weite Teile der theologischen Zunft verstehen diese Glaubensartikel nicht mehr historisch, sondern als Mythen. Angehende Geistliche erfahren bei der Vorbereitung für ihren Dienst, also während des Theologiestudiums, dass das Evangelium von Jesus Christus keine historische Basis hat; sie lernen, an den geschichtlichen Grundlagen ihres späteren Gelöbnisses zu zweifeln.

Doch machen die Bischöfe und kirchliche Behörden es den künftigen Pastoren leicht. Nach der Ordination werden diese nicht mehr nach ihrer Rechtgläubigkeit gefragt – es sei denn, sie bekunden öffentlich ihren Glaubenszweifel. So verlor der Hamburger Pastor Dr. Paul Schulz 1979 wegen seiner Kritik an Schrift und Bekenntnis, auf die er ordiniert worden war, seine Anstellung.

Mir wäre es als Theologieprofessor in Göttingen 1998 fast ähnlich ergangen. Die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen hatte nämlich unter Hinweis auf meine Zweifel an den christlichen Hauptdogmen die Entlassung aus dem Staatsdienst gefordert. Doch verhinderte das Beamtenrecht den Erfolg des kirchlichen Ansinnens.

Allerdings benannte der Präsident der Universität Göttingen meine Professur für Neues Testament um; ich wurde Professor für Geschichte und Literatur des frühen Christentums, und zwar ohne Prüfungsberechtigung. Erst kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht einen länger als ein Jahrzehnt währenden Rechtsstreit in dieser Angelegenheit beendet und die Entscheidung der Universität Göttingen bestätigt, dass meine Entfernung aus den theologischen Studiengängen rechtens gewesen sei. (Begründung) Ein Wissenschaftler, der die Kernsätze des Christentums bezweifle, genüge nicht mehr den kirchlichen Eignungsanforderungen. In Deutschland könne Theologie nur in Verbindung mit einer Religionsgemeinschaft gelehrt werden; ausschließlich Personen, die innerlich an das Bekenntnis gebunden sind, dürfen dieses Fach unterrichten. Theologie sei eine an das Bekenntnis gebundene Glaubenswissenschaft. Mein Einwand, dass der Begriff „Glaubenswissenschaft“ ein Widerspruch in sich selbst sei, hatte juristisch keine Relevanz.

Insider wissen: Diese harte Linie wird innerhalb von Kirche und Theologie nur nach außen vertreten. Kirchliche und theologische Funktionäre haben während des Studiums ja gelernt, dass die meisten biblischen Erzählungen ohne historischen Wert sind. Es handelt sich um nachträgliche theologische Deutungen. Eben diese kirchlichen und theologischen Funktionäre sind daran gewöhnt, altkirchliche Bekenntnisse wie eine Monstranz vor sich her zu tragen, als ob sie glaubten, was in ihnen steht. Der Kern des modernen evangelischen Christentums ist weich geworden bis zur völligen Beliebigkeit und Inhaltsleere. Beim Thema Gott – so scheint es – ist dann alles möglich, sogar dass er nicht existiert. Insofern hat der Zweifel am Dogma innerhalb von Kirche und Theologie den Sieg davongetragen.

Indes bleibt es dabei, dass im Konfliktfall das Bekenntnis zu exotisch anmutenden Glaubenssätzen von der Jungfrauengeburt bis zur Auferstehung Jesu zum Kriterium dafür werden, ob Geistliche oder Theologieprofessoren rechtgläubig sind oder nicht. Kirchenjuristen und höchste Verwaltungsrichter sind ernsthaft dieser Auffassung. Dies zeigt eine Durchsicht der umfangreichen Akten zu meinem Rechtsstreit. Diese Personengruppen meinen offenbar, das Theologiestudium sei Katechismusunterricht, Repetitorium rechtgläubiger Dogmatik und nicht Schule auch des historischen Zweifels.

Die Folge dieses Zustandes ist eine innere Spaltung der in Kirche und Universität tätigen Amtspersonen. Die doppelte Wahrheit – eine für Studierte, eine für Gemeinde und Öffentlichkeit – lähmt die Frage nach dem, was denn am christlichen Glauben wirklich dran ist.

Wir sehen: Taktik und Machtstreben beherrschen das Feld, wo es um sachgemäße Auseinandersetzungen über die historische Realität von Bekenntnisaussagen geht. Daher sei zunächst einmal darlegt, was überhaupt der Kern der überlieferten christlichen Lehre ist und warum Anlass besteht, daran zu zweifeln. Danach plädiere ich, ausgehend von neuen Texten, die nicht im Neuen Testament stehen, für eine andere Sicht des frühen Christentums. Dieses Plädoyer stellt sich dem Befund, dass die geschichtliche Grundlage des traditionellen Glaubens und damit dieser selbst zerstört ist. Zugleich macht es evident, dass frühchristliche Texte auch für Zweifler eine positive Bedeutung haben können.

2. Zwei gute Gründe, um am christlichen Glauben zu zweifeln

Das Christentum beruht seit jeher auf den Geschichtstaten Gottes, von denen das Alte und das Neue Testament zeugen. „Gott hat Israel aus Ägypten geführt“ und „Gott hat Jesus Christus von den Toten erweckt“ sind zwei allgemein anerkannte christliche Basissätze. Zwar lassen sich Aussagen über Gott nicht verifizieren, wohl aber kann historisch überprüft werden, ob die Gott zugeschriebenen Taten eine geschichtliche Realität haben. Ich werde im Folgenden zeigen, dass im Lichte der neueren Forschung Zweifel an beiden Basissätzen angebracht ist.

a) Hat Gott Israel aus Ägypten geführt?

Die historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments ist älter als 200 Jahre. Sie führte zu einer Durchforstung aller alttestamentlichen Bücher mit bis heute gültigen Erkenntnissen, beispielsweise der, dass am Anfang der Bibel zwei verschiedene Schöpfungsberichte stehen. Trotz vieler neuer Einsichten waren sich die Gelehrten in einem Punkt einig: Sie sahen das Bild, das die ersten Bücher der Bibel von Israel malen, im Kern als glaubwürdig an: Der Gott Jahwe habe Israel tatsächlich zu seinem Volk gemacht. Die Berichte von „Israel in Ägypten“, „Moses Rolle bei dem Empfang der Zehn Gebote“ und von der „Einnahme des Gelobten Landes“ reflektierten nach ihrer Überzeugung, bei aller Kritik im Einzelnen, historische Begebenheiten.

Das Blatt wendete sich aber, als man erkannte: Das in der Bibel entworfene Bild des vorstaatlichen Israel (vor 1000 v.Chr.) ist Ergebnis theologischer Fiktionen aus der nachstaatlichen Zeit (ab dem 6. Jahrhundert v.Chr.).

Mit Hilfe von archäologischen Forschungen und subtilen Beobachtungen am Text hat sich diese Einsicht schnell durchgesetzt. Die älteste Erwähnung Israels findet sich auf der Sieges-Stele des Pharao Merenptah, die dieser im Jahre 1208 v.Chr. aufrichten ließ. Da die Inschrift Israel als eine Gruppe von offenbar schon länger in Palästina ansässigen Menschen nennt, widerspricht sie der alttestamentlichen Vorstellung von einem in zwölf Stämmen gegliederten Israel, das nach biblischer Chronologie ungefähr zu derselben Zeit in das Land Kanaan eingedrungen sei. Diese Erkenntnis ist ein starkes Argument gegen das bis dahin geltende biblische Geschichtsbild. Es kommt Folgendes hinzu: Für die Zeit, in der Israel in Ägypten gewesen sein soll (14. Jahrhundert v.Chr.), sind ägyptische Dokumente reichlich vorhanden. Sie erwähnen aber weder Israels Aufenthalt in Ägypten noch die Flucht aus dem Pharaonenreich noch Mose, der gemäß biblischer Darstellung zum ägyptischen Königshaus gehört haben soll. Aus all dem ergibt sich, dass entgegen der biblischen Darstellung die Israeliten ursprünglich selber Kanaanäer waren.

Die ältere Forschung meinte, eine Verehrung Jahwes habe es immer nur zusammen mit dem Ersten Gebot gegeben, das die Existenz anderer Götter zwar nicht bestreitet, aber die alleinige Verehrung Jahwes befiehlt. Doch ist sich die heutige Forschung einig: Weder der Exklusivitätsanspruch Jahwes noch gar die Behauptung, außer Jahwe gebe es überhaupt keine anderen Götter, stand am Anfang des Jahwe-Glaubens. Denn für das achte vorchristliche Jahrhundert belegen Inschriften in Palästina, die erst in den letzten Jahrzehnten entdeckt worden sind, einen toleranten Jahwe-Kult. Sie erwähnen lokale Jahwe-Götter und bezeugen so einen Polyjahwismus. Sie kennen ein Götterpaar, Jahwe und seine Gemahlin Aschera. Demnach war die exklusive Jahwe-Verehrung im Sinne des biblischen Mose zu dieser Zeit in Israel und Juda noch unbekannt. Erst später, nach dem Untergang Judas im Jahr 587 v.Chr. entwickelten Theologen das Erste Gebot, um damit das Volksgeschick zu deuten. Ihre Deutungsregel war: Weil Israel fremden Göttern diente und nicht Jahwe allein, musste es zur Katastrophe kommen.

Somit repräsentiert die vorliegende biblische Tradition die Meinung einer Theologen¬Gruppe, die sich am Ende aus unbekannten Gründen durchsetzte. Jedenfalls hat sie die historische Wahrheit nicht auf ihrer Seite.

Die neuesten alttestamentlichen Forschungen zum Thema „Auszug aus Ägypten“ und – damit verbunden – zum Thema „vorstaatliches Israel“ haben Konsequenzen für den traditionellen christlichen Glauben. Für ihn bleibt nämlich kein geschichtliches Fundament zurück, auf das er doch angewiesen ist. Durch den Beweis, dass Theologen aus der Zeit des nachstaatlichen Judentums das biblische Israel erfanden und der Auszug aus Ägypten daher nicht stattgefunden haben kann, ist die biblische Frühgeschichte Israels entleert. Radikaler Zweifel am Alten Testament als Geschichtsbuch ist daher notwendig.

Zwar äußern sich Exegeten hier oft beschwichtigend. Ihnen zufolge handelt es sich um „zwei selbstständige, sich ergänzende Bilder, Theologie und Geschichte, ‚story and history‘: Das ist Gewinn, Verdoppelung, keinerlei Verlust, keine Destruktion!“ Doch geraten Theologen und Geistliche geradezu in einen selbstmörderischen Zwiespalt, wenn die historische Kritik ihnen sagen muss, dass die kanonischen Schriften des Alten Testaments entgegen der Sicht ihrer Verfasser keine historische Grundlage haben.

b) Hat Gott Jesus von den Toten erweckt?

„Gott hat Jesus von den Toten erweckt“ ist der andere Basissatz des christlichen Glaubens. Die von der Auferweckung handelnden Texte des Neuen Testaments lassen sich in drei Klassen einteilen: 1) Ostererzählungen, die den auferstandenen Jesus in Gegenwart seiner Jünger zeigen, 2) Geschichten vom leeren Grab, 3) Glaubensformeln, denen zufolge Jesus von Gott auferweckt wurde bzw. Jüngern erschienen ist. Es gibt darüber einen großen wissenschaftlichen Konsens. Der sieht so aus: Die frühen Christen waren von der Auferstehung Jesu überzeugt. Sie hatten auch Glaubensformeln darüber gebildet. Von denen gingen die Evangelisten aus und setzten sie in Erzählungen um. Wie die Geschichten vom leeren Grab zu beurteilen sind, ist aber umstritten.

Der älteste Bericht der Evangelien von der Auffindung des leeren Grabes – übrigens durch Frauen – steht im Markusevangelium, Kapitel 16, Verse 1–8. Er hat drei Teile: Die Frauen sind zunächst auf dem Wege zum Grab, dann im Grab, schließlich fliehen sie vom Grab. Eigentlich entdecken sie gar nicht das leere Grab sondern treffen einen jungen Mann, dessen Botschaft: „Jesus wurde auferweckt“, den Mittelpunkt der Geschichte bildet.

Ein wichtiger Einwand gegen die Historizität des Erzählten lässt sich dem Ende der Erzählung entnehmen. Hier heißt es, die Frauen hätten sich gefürchtet und entgegen dem Befehl des Jünglings niemandem etwas erzählt. Damit gibt der Urheber der Geschichte zu verstehen, dass die Kunde vom leeren Grab lange Zeit unbekannt geblieben ist; die Frauen haben ja geschwiegen. Er selbst erzählt als erster davon.

Der älteste Text zur Auferstehung findet sich im ersten Brief des Paulus an die Korinther, Kapitel 15, Verse 3–5. Der Apostel zitiert hier eine Glaubensformel: (A) „Christus starb für unsere Sünden nach den Schriften und wurde begraben, (B) er ist am dritten Tag auferweckt worden nach den Schriften und erschien dem Kephas, dann den Zwölfen.“ Nach der Aufzählung weiterer Auferstehungszeugen betont Paulus am Schluss, dass Christus auch ihm erschienen sei. In dieser Tradition, die aus einem parallel gebauten Zweizeiler besteht, geht es um einen je doppelten „Beweis“: einerseits aus den Schriften des Alten Testaments, auf die jedoch nur allgemein verwiesen wird, und andererseits aus einer bestätigenden Tatsache. Dabei bekräftigt die Aussage über das Begräbnis Jesu dessen Tod, und die Aussage über die Erscheinung vor Kephas die Auferstehung Jesu. Die Erscheinung vor Kephas ist offenbar der Grund für das Bekenntnis: „Jesus ist auferweckt worden“ bzw. „Gott hat Jesus von den Toten erweckt“.

Die von Paulus zitierte Glaubensformel, die in die allererste Zeit der Urkirche hinabreicht, liefert zwei wichtige Einsichten. Erstens, das Grab ist nicht leer, sondern „voll“, denn die Bestattung dient nicht als Beleg für die Auferstehung Jesu, sondern dafür, dass Jesus wirklich gestorben ist. Zweitens, Auslöser der christlichen Bewegung war eine Erscheinung Jesu vor Kephas. Da das Verb „erscheinen“ auch mit „gesehen werden“ übersetzt werden kann, ergibt sich: Kephas hat Jesus in einer Vision gesehen. Eine Vision ist ein Vorgang im menschlichen Geist und Produkt der eigenen Vorstellungskraft, obwohl Visionäre es regelmäßig anders einschätzen. Sie meinen, was sie sehen, sei außerhalb von ihnen, und die Vision wirkt auf sie mit der vollen Kraft einer objektiven Tatsache.

Die Erscheinung Jesu geschah den ältesten Traditionen zufolge, vom Himmel her und nicht als Begegnung mit einem himmlischen Wesen auf dieser Erde, wie es die Ostererzählungen der Evangelien zeichnen. In diesen verzehrt Jesus vor den Augen der Jünger Fisch und Brot, fordert sie auf, ihn zu berühren, und kehrt erst 40 Tage nach seiner Auferstehung in den Himmel zurück. Für das tatsächliche Geschehen in der frühesten Zeit des Christentums tragen diese Erzählungen nichts aus. Sie sind Legenden.

Die Einsicht in die Entstehung des ältesten christlichen Auferstehungsglaubens führt zur Kritik an diesem Glauben. Denn Jesus wurde gar nicht von den Toten auferweckt, obwohl frühe Christen es bekennen und die Kirche darauf gebaut ist. Diese angeblich durch Gottes Handeln geschaffene Tatsache hat keinen Anhalt an den Texten. Sie zeigen, dass am Anfang eine Vision stand, nicht eine Begegnung mit Jesus in seinem erweckten Leib.

Theologen, die sich an das Bekenntnis der Kirche binden, stimmen zwar der obigen Analyse zu, ziehen daraus aber andere Folgerungen. Ich nenne hier stellvertretend für viele Rudolf Bultmann. Obwohl 1976 verstorben, hat der Marburger Neutestamentler bis heute durch seine Bücher und einen großen Schülerkreis eine große Wirkung. Bultmann versteht Jesu Auferstehung als „Heilsereignis“ und hebt hervor, die Aussage „Jesus ist von den Toten auferstanden“ sei nicht von derselben Art wie beispielsweise der Satz „Goethe ist auferstanden“. Wäre letzteres der Fall, handelte es sich um ein historisches Urteil; demgegenüber geht es bei Jesu Auferstehung – so Bultmann – um die Behauptung einer „eschatologischen“ Tatsache, um etwas, das die Geschichte übersteigt. Dieses „Ereignis“ müsse verkündigt werden. Ja, die Predigt darüber sei selbst Teil des eschatologischen „Ereignisses“. Jesus ist quasi in die Verkündigung hinein auferstanden. Daher wertet Bultmann jegliche Rückfrage nach der Berechtigung eines derartigen eschatologischen „Ereignisses“ als dessen Ablehnung.

Dem muss ich widersprechen. Zweifel am „Heilsereignis“ als eines eschatologischen Geschehens ist nicht automatisch eine Ablehnung der Verkündigung. Bultmann immunisiert sich offenbar gegen unbequeme Rückfragen. Seine Verteidigung der Auferstehung Jesu als eines „Heilsereignisses“ ändert nichts daran, dass diese gar nicht stattfand und demgemäß nicht die Grundlage des Glaubens sein kann.

3. Plädoyer für eine neue, religiöse Sicht

Seit im Jahre 1945 in der Nähe des oberägyptischen Nag Hammadi ca. 51 größtenteils unbekannte christlich-gnostische Texte gefunden wurden, kennen wir das frühe Christentum besser. Das griechische Wort „Gnosis“ bedeutet „Erkenntnis“. Die Erkenntnis ist für den Gnostiker und die Gnostikerin in erster Linie Selbsterkenntnis: Die Seele des Menschen ist himmlischen Ursprungs. Durch den Fehltritt einer göttlichen Macht – oft Sophia (Weisheit) oder Epinoia (Gedanke) genannt – entstand die Welt. Sie bleibt wie alle Materie, die als Leere, Chaos oder Stoff aufgefasst wird, mangelhaft. Die göttliche Seele findet sich im Körper gefangen und hat ihre wahre Heimat vergessen. Der unwissende, arrogante Schöpfergott und seine Gehilfen herrschen über Kosmos. Durch den Ruf der Erlöserin oder des Erlösers, den die christlichen Gnostiker mit Jesus gleichsetzen, erwacht die Seele aus ihrem Schlaf und ihrer Trunkenheit. Sie wird über ihre Herkunft und ihren Fall belehrt. Diese Erkenntnis bringt ihr Erlösung und lässt sie – gegen den Widerstand feindlicher Mächte – wieder eins werden mit der himmlischen Welt, aus der sie stammt und in die sie zurückkehrt.

Martina Janßen und ich haben diese Texte bearbeitet und sie im Radius-Verlag 1997 unter dem Titel „Bibel der Häretiker“ als erste deutsche Gesamtübersetzung zugänglich gemacht. Diese in koptischer Übersetzung vorliegenden Schriften, die allesamt auf griechische Originale zurückgehen, stammen aus einer Periode, in der es noch keinen Kanon des Neuen Testaments gab. Zu den jüngsten Dokumenten des Neuen Testaments gehören der Zweite Petrusbrief und das Johannesevangelium in seiner Endgestalt. Zahlreiche griechische Originale der Nag-Hammadi-Texte wurden in etwa zeitgleich mit ihnen verfasst, also in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts.

Gegner dieser und ähnlicher gnostischer Schriften waren Bischöfe einer sich rasant ausbreitenden christlichen Kirche. Sie gaben ihr einen einheitlichen Glauben und eine diesem Glauben entsprechende Organisation. Gegenüber politischen Behörden wollten die Bischöfe den Glauben nicht nur als vernünftig, sondern auch als staatstragend erweisen. Darum bedurfte es gegenüber der Öffentlichkeit einer durchsichtigen Ordnung und Organisation. Dies galt umso mehr, als der eine Gott, den die Christen verehrten, Schöpfer und Herrscher der ganzen Welt war. Die Kirchenführer setzten bald Rechtgläubigkeit mit Gehorsam gleich, bedienten sich einer von hierarchischem Denken geprägten Herrschaftssprache und predigten geradezu eine Kultur der Unterordnung. (Ich verdeutliche das gleich mit Äußerungen eines damaligen Theologen.)

Der Hauptstreitpunkt zwischen dem sich zur rechtgläubigen Kirche herausbildenden Christentum und dem Glauben, der den Nag-Hammadi-Texten zugrunde liegt, betraf das Gottesverständnis. Ihre Verfasser hielten den Exklusivitätsanspruch des alttestamentlichen Gottes, in dem die Kirche den Vater Jesu Christi wieder erkannte, für anmaßend. Der Begriff „Gott“ als Bezeichnung des höchsten Wesens erschien ihnen nicht mehr tauglich. Daher zogen sie andere Namen vor: „das Gute“, „die Größe“, „der unbekannte Vater“, „der himmlische Mensch“. Der alttestamentliche Gott sei blind. Warum sonst sollte er den Kosmos so geschaffen haben, dass dieser ein feindseliges Gebilde mit einem tyrannischen Gesetz, einer Ordnung ohne Sinn und bar jeglicher Werte sei? Dieser Kosmos befinde sich zur unbekannten Gottheit in dem gleichen Gegensatz wie die der Welt verfallene Seele des Menschen zu dessen Urkern, der sich nach Befreiung sehne. „Gott“ gehorchten die so Erlösten nicht, sondern erkannten den „himmlischen Menschen“ und damit – nach einer langen spirituellen Reise – auch sich selbst.

Das ist eine Sucherreligiosität, deren aufbegehrender Zweifel an einem tyrannischen Gott mich immer wieder fasziniert. Sie ist mir näher als die Kirchenreligiosität, weil sie den Menschen näher ist. Hinzu kommt: Die Gnostiker weichen das patriarchalische System auf, jedenfalls ansatzweise. Auch das liegt mir näher als der kirchliche Patriarchalismus. Meine Zweifel an der „rechtgläubigen“ Kirche finde ich hier wieder. Kein Wunder also, dass mich die gnostische Religiosität anzieht!

Zurück ins zweite Jahrhundert: Die Kritik der „rechtgläubigen“ Seite ließ nicht lange auf sich warten. Das belegen Reaktionen aus den Werken von Theologen des ausgehenden zweiten Jahrhunderts. Ich lasse Tertullian von Karthago zu Worte kommen, dessen Äußerungen repräsentativ für die bischöfliche Kritik an den Gnostikern war.

Für Tertulllian kommt ein Suchen nach der Wahrheit nicht mehr in Frage. Er schreibt: „Seit Jesus Christus bedürfen wir des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet wurde. Wenn wir glauben, so wünschen wir über das Glauben hinaus weiter nichts mehr. Denn das ist das erste, was wir glauben: es gebe nichts mehr, was wir über den Glauben hinaus noch zu glauben haben.“

Besonders verdächtig erscheint Tertullian die Gleichheit unter den gnostischen Christen. Er bemerkt hierüber: „Ich will nicht unterlassen, auch von dem Wandel der Häretiker eine Schilderung zu entwerfen, wie locker, wie irdisch, wie niedrig menschlich er sei, ohne Würde, ohne Autorität, ohne Kirchenzucht, so ganz ihrem Glauben entsprechend. Vorerst weiß man nicht, wer Taufbewerber, wer Gläubiger ist, sie treten miteinander ein, sie hören miteinander zu, sie beten miteinander – und der Heide auch mit, wenn er etwa dazukommt; sie werfen ihr Heiliges den Hunden und ihre, wenn auch unechten, Perlen den Säuen hin. Das Preisgeben der Kirchenzucht wollen sie für Einfachheit gehalten wissen, und unsere Sorge für dieselbe nennen sie Augendienerei. Was den Frieden angeht, so halten sie ihn auch unterschiedslos mit allen. Es ist in der Tat auch zwischen ihnen, obwohl sie abweichende Lehren haben, kein Unterschied, da sie sich zur gemeinschaftlichen Bekämpfung der einen Wahrheit verschworen haben. Alle sind aufgeblasen, alle versprechen die Erkenntnis. Die Taufbewerber sind schon Vollendete, ehe sie noch Unterricht erhalten haben.
Und dann der laxe Umgang der Gnostiker mit den kirchlichen Autoritäten. Tertullian schreibt: "So ist denn heute der eine Bischof, morgen der andere; heute ist jemand Diakon und morgen Vorleser; heute einer Priester und morgen Laie; denn sie tragen die priesterlichen Verrichtungen auch Laien auf.“

Ein Ärgernis stellen für Tertullian vor allem die ketzerischen Frauen dar. Über sie schreibt er: „Und selbst die häretischen Frauen, wie frech und anmaßend sind sie! Sie unterstehen sich zu lehren, zu disputieren, Exorzismen vorzunehmen, Heilungen zu versprechen, vielleicht auch noch zu taufen.“

Gewiss kann man die Geschichte nicht mehr umdrehen. „Rechtgläubige“ Theologen haben sich durchgesetzt und fast 2000 Jahre die Kirchengeschichte bestimmt. Sie beriefen sich bei ihrem Kampf gegen Dissidenten in ihren eigenen Reihen auf die ältesten Dokumente des Neuen Testaments, die Briefe des Apostels Paulus.

Indes fällt auf, dass christlich-gnostisches Denken dem Osterenthusiasmus des frühesten Christentums verwandt ist. Die Protagonisten in den gnostischen Schriften haben ja Visionen vom auferstandenen Jesus. Ihn erfahren sie eben nicht fleischlich-körperlich wie die Verfasser der neutestamentlichen Evangelien, sondern im Geist; darin stehen sie den Zeugen der allerersten Zeit der Kirche nahe. Demnach führte die „Logik“ des Auferstehungscredo nicht nur zum Apostolischen Glaubensbekenntnis; sie konnte auch in den gnostischen Glauben des zweiten Jahrhunderts münden. Daher verdient die gnostische Position – die fast zwei Jahrtausend lang von der Übermacht der Kirche erdrückt wurde und erst jetzt durch Originalquellen bekannt ist – heute noch einmal Gehör. Ich nenne einige mir besonders wichtige Aspekte und setze ein bei gnostischen Deutungen der Auferstehung.

(Philippus-Evangelium, Spruch 21) Diejenigen, die sagen: „Der Herr ist zuerst gestorben und (dann) auferstanden“, sind im Irrtum. Denn er ist zuerst auferstanden und (dann) gestorben. Wenn jemand nicht zuerst die Auferstehung erwirbt, wird er sterben."

Der Verfasser bezeichnet zunächst das kirchliche Dogma von Tod und Auferstehung Jesu als Irrtum und kehrt die Reihenfolge kurzerhand um. Den „rechtgläubigen“ Auferstehungsglauben „Irrtum“ zu nennen, zeigt: Die Gnostiker lehnen ab, sie deuten anders. Zweifel ist hier Ablehnung einer falschen Religion. Auferstehung, gnostisch verstanden, ist eine spirituelle Wirklichkeit, die sich hier und heute, nirgendwo anders, vollzieht.

In gnostischer Sicht ist die Auferstehung der Übergang zu einem neuen Sein. Es gibt zwei Bereiche; der eine ist die Welt, die sich unentwegt wandelt. Sie kann daher nichts Bleibendes sein, sie ist eine Illusion. Der andere Bereich ist unwandelbar: Auferstehung, Wahrheit, neues Sein. Sie sind fest gegründet und daher keine Illusion.

Zahlreiche gnostische Schriften verstehen Auferstehung als Rückführung in den ursprünglichen Seinszustand des Menschen und damit als Rückkehr des Menschen zu sich selbst. In ihr empfangen sich Christen sich so, wie sie am Anfang waren. „Auferstehung“ wird zu einem Bild für das Feststehende. Sie verwirklicht sich durch die Erkenntnis dessen, was man von jeher ist. Wer Auferstehung in ihrer wahren Bedeutung erkennen will, muss daher vom Namen zur Sache vorstoßen. Wir lesen dazu im Philippus-Evangelium (Spruch 11): Die Namen, die man den weltlichen Dingen gibt, verursachen eine große Irreführung. Denn sie wenden den Sinn ab von dem Feststehenden zu dem Nicht-Feststehenden. Und wer Gott hört, der kennt nicht das Feststehende, sondern er hat das Nicht-Feststehende erkannt. So verhält es sich auch mit den Namen ‚der Vater‘ und „der Sohn“ und „der heilige Geist“ und „das Leben“ und „das Licht“ und „die Auferstehung“ und „die Kirche“ und mit allen anderen Namen: Man erkennt nicht das Feststehende, sondern man erkennt das Nicht-Feststehende, außer man hat das Feststehende kennen gelernt. Die Namen, die gehört werden, sind in der Welt und täuschen.

Welche Menschen stehen hinter diesen Texten aus Nag Hammadi? Sie reden von Erfahrung, wenn sie von ihrem Gauben reden. Sie deuten Auferstehung als Rückkehr zu sich selbst. An verschiedenen Stellen nennen sie sich „Angehörige des nicht wankenden Geschlechts“. Ihr Glaube ist Erkenntnis. Sie ist auf die Vollendung des Lebens aus, auf die Verwirklichung des eigenen Potentials. Sie hat keine Furcht vor der eigenen Größe, ja, begeistert sich an der gottähnlichen Kraft, die sie bekommt. Diese Kraft kommt aus der Erkenntnis. In der Schrift „Allogenes“ heißt es dazu:
Meine Seele wurde kraftlos, und ich floh und war sehr verwirrt. Und ich wandte mich zu mir selbst und sah das Licht, das mich umgab, und das Gute, das in mir war, und ich wurde göttlich.

Fortan nehmen die von der Erkenntnis erleuchteten Menschen davon Abschied, die eigene Erlebnisfähigkeit zu drosseln. Der neu erreichte Zustand ist eine Erkenntnis des Seins, ein Sich-Öffnen gegenüber der Welt, von der sie sich vorher abgeschirmt hatten. Dabei gewinnen sie die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen dem, was feststeht, und dem, was nicht feststeht, sondern nur täuscht. Diese Täuschung sehen sie in fast allem, was die Schöpfung betrifft. Die ist zerrissen. Daran ist der Schöpfergott schuld, der sich anmaßend verhält und daher nur Spott verdient. Aber die Gnostiker sind stärker als er. Diese ungeheure Umwertung der Werte entspringt dem Zweifel: Die von ihm Ergriffenen erkennen, dass sie stärker sind als Gott und ihn durchschauen. Als Angehörige des nicht wankenden Geschlechts richten sie ihren Blick auf das große Geheimnis des kosmischen Ganzen und machen die ungeheure Erfahrung eines grenzenlosen Dazugehörens.

Ein anderer Text aus Nag Hammadi schildert die Geburt des Erkennenden folgendermaßen: (Evangelium der Wahrheit 22) Einer, wenn er das Wissen hat, ist von oben. … Der Name des Einen kommt zu ihm. Der, der auf diese Weise erkennen wird, weiß, woher er kommt und wohin er geht. Er erkennt wie jemand, der, indem er betrunken war und von seiner Trunkenheit ernüchtert worden und wieder zu sich selbst zurückgekehrt ist, das in Ordnung gebracht hat, was das Seine ist.

Der Text schildert eindrucksvoll die Entdeckung des unbewussten Selbst, das mit dem von oben stammenden göttlichen Einen identisch ist. Zugleich bezeichnet es das Eigene der von der Erkenntnis erleuchteten Menschen. Diese Selbsterkenntnis führt zu einer Stärkung des Selbst, denn durch sie wird das Eigene in Ordnung gebracht werden. Der Gnostiker hat den klaren Blick zurück gewonnen, der infolge der eigenen Selbstvergessenheit, der Trunkenheit, verloren gegangen war. Darum heißt an anderer Stelle im Evangelium der Wahrheit: „Gut für den Menschen, der zu sich zurückkehren wird und aufwachen wird!“ Ein weiterer Nag-Hammadi-Text bemerkt zur Selbsterkenntnis: (Thomasbuch 138) Der Erlöser spricht: „…Wer sich nämlich nicht selbst erkannt hat, hat gar nichts erkannt. Wer sich aber selbst erkannt hat, hat auch schon die Erkenntnis der Tiefe des Alls. Deswegen nun hast du, mein Bruder Thomas, gesehen, was verborgen vor den Menschen ist, nämlich das, woran sie Anstoß nehmen, wenn sie es nicht kennen.

Daher heißt der Gnostiker geradezu „der Mensch, der sich selbst erkannt hat“. Er braucht Gelassenheit und Geduld; er muss warten können. Die Selbsterkenntnis wird wie von selbst kommen. Dann wird er unvergänglich und erhält göttliche Macht.

Im Thomas-Evangelium (Logion 2) ist das noch einmal formuliert: Jesus sagte: „Der Suchende soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet. Und wenn er findet, wird er in Erschütterung geraten; und wenn er erschüttert ist, wird er in Verwunderung geraten, und er wird König über das All werden.

Ich habe versucht, Ihnen Gedanken nahe zu bringen, die in den Texten von Nag Hammadi enthalten sind. Für mich sind es faszinierende Gedanken. Hoffentlich habe ich mithelfen können, dass auch Sie den Reiz der gnostischen Position empfinden. In den vorgestellten Texten begegneten wir Gnostikern, die streng vom Menschen aus denken und von den ihm innewohnenden Potenzen. Sie vermeiden den Dualismus von Gott und Mensch und gebrauchen mythische Sprache, um Vorgänge in ihrem Innern auszudrücken. Fixierung des Glaubens auf Tatsachen ist ihnen fremd, Heilsgeschichte ein Irrtum, Selbsterkenntnis der Weg zur innerer Heilung. Diese Menschen verstehen sich als dauerhaft Suchende; eine feststehende Lehre lehnen sie ebenso ab wie einen Gott, der Gehorsam fordert.

Wie viel Zweifel ist erlaubt?“ ist der Titel meines Vortrags. Ich wollte klarmachen: Wissenschaft, die Wissenschaft ist, arbeitet so, dass Erkenntnisse immer wieder in Frage gestellt, überprüft und korrigiert werden. Was ist das anderes als permanenter Zweifel: ein Zweifel, der keine Grenzen kennt, weder die Grenze, die Autoritäten setzen möchten, noch die Grenze, welche die Gültigkeit einer Erkenntnis daran misst, wie lange diese Erkenntnis schon selbstverständlich bejaht worden ist. Wissenschaft ohne Zweifel, die gibt es nicht. Wenn Theologie Wissenschaft sein will, so muss sie auch den nie endenden Zweifel zulassen.

Ich wollte in meinem Vortrag auch noch etwas anderes vorstellen. Der Vergleich des kirchlichen Glaubens mit dem Glauben der Gnostiker sollte zeigen, wie unterschiedlich ein Glaubenssatz verstanden werden kann. Aber auch, dass es etwas über den Menschen aussagt, von welcher Glaubensrichtung er sich angezogen fühlt. Ich ziehe die Gnosis dem kirchlichen Glauben vor.

Die Gnosis bleibt nahe am Menschen. Damit ein Mensch auch Mensch sein kann, muss er zweifeln können: am Sinn seines Lebens, an Gott und Religion, an Lebensweisheiten – und seien sie noch so alt und bewährt.

Zweifeln kann keiner erlauben, wer sollte das wohl sein? Zweifel kann niemand in Portionen teilen, wie sollte das wohl gehen? Zweifel kann man unterdrücken, aber das macht krank. Ein lebendiger Mensch ist immer auch ein zweifelnder Mensch.

In der Gnosis bin ich mit meinen Zweifeln am rechten Ort, ich bin befreit von der Knechtschaft des Gehorsams, urteile selbst, stehe auf festem Grund, weiß wohin ich gehöre. Die vorgestellten gnostischen Texte bereiten der Einsicht den Weg, dass es in der Religion der Zukunft – wenn denn Religion eine Zukunft hat – vor allem um die Menschen, um die Erweckung der in ihnen verschütteten Kräfte gehen muss.

 

*) Ein Vortrag, den Prof. Dr. Gerd Lüdemann unter dem Titel „Wie viel Zweifel ist erlaubt“ am 1. Dezember 2009 in Darmstadt hielt.