Die Wende als Trauma
Der politisch-gesellschaftliche Systemwechsel hat eine bedeutende Gruppe Menschen, welche in der DDR aufgewachsen sind, traumatisiert. Es kann durchaus als quasi-fundamentale Kränkung des eigenen Vertrauens auf weltanschaulich umfassend ausgerichtete Ideengebäude betrachtet werden, welche zu einer tief sitzenden Skepsis und einem individualistischen Verhalten gegenüber den Angeboten und Vorschlägen eines weltlichen Humanismus geführt haben. Dies ist am ausgeprägtesten bei Menschen wahrnehmbar, die weder mit den politischen Ideologien noch mit sonstigen religiösen Vorstellungen sympathisieren.
Zusammen mit einer persönlichen Entwicklung ohne Konfrontation mit christlicher Religiosität und heute fehlender Kirchenpräsenz im Alltag erfährt man hier zwar einerseits viel grundsätzliche Zustimmung gegenüber den Grundzügen eines religionsfreien Humanismus, dem aber sehr oft großes Unverständnis gegenüber Sinn und Zweck gemeinschaftlicher Organisation und Interessenvertretung gegenübersteht.
Das Bewusstsein bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und sozialen Phänomenen und Ereignissen im Alltag bewegt sich oft nur noch auf der politischen Ebene, eine grundlegendere Betrachtungsebene und Selbstpositionierung findet kaum statt, mit entsprechenden Unterschieden bei den Sympathisanten von quasi-religiösen politischen Ideologien. Das vielfach als “Politik- oder Parteienverdrossenheit” bezeichnete Phänomen wird in einer Art Übertragung auch gegenüber weltanschaulichen Organisationen und Themen zum Ausdruck gebracht.
Thinktanks für Evangelisation und Strukturschwächen
Christliche Religiosität gilt teilweise auch wieder als Statussymbol, dass über parteipolitische Grenzen hinweg Identifikationen schafft. Hier gibt es keine konkurrenzfähigen Alternativen, denn ein religionsfrei-humanistisches Selbstverständnis als Gegenentwurf ist gesellschaftlich fast vollkommen unbekannt. Schließlich bietet die überwiegende Verbreitung der christlich-evangelischen Religion Möglichkeiten zu einer Liberalität, die andernorts nicht möglich wäre. Unterstützt wird sie durch Missionierungs-”Thinktanks” wie dem IEEG Greifswald, mit dessen Hilfe relativ erfolgreiche Konzepte zur Evangelisation des kirchenfernen Bundeslandes konzipiert und umgesetzt werden.
Auch das Verständnis der prinzipiellen Vereinbarkeit des Zustands “gläubig” und einer religionsfrei-humanistischen Weltanschauung muss als oftmals problematisch bezeichnet werden. Zum einen ist die genaue, jedoch bedeutende Differenzierung zwischen den Begriffen und die sich daraus ergebenden Schlüsse für viele Menschen absolut ungewohnt und auf Anhieb nicht leicht nachzuvollziehen. Zum anderen trifft sie bei Menschen mit klarer Entscheidung zum Atheismus auf starke Skepsis bis hin zu starker Ablehnung.
Zuletzt muss auch die Rolle der extrem dezentral konzentrierten und geringen Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern herausgestellt werden. Bei der Zusammenarbeit und gemeinsamen Entwicklung ist der persönliche Kontakt und direkte Umgang mit Menschen ein produktiver Faktor, der hier im Gegensatz zu Metropolregionen und auch anderen Flächenländern fast nicht wirken kann. Die Bevölkerungsdichte liegt mit 72 Einwohnern pro Quadratkilometer bei etwa einem Achtel der Nordrhein-Westfalens, bei weniger als der Hälfte von Bayern oder Niedersachsen und nur bei 2,6 Prozent der Bevölkerungsdichte in einer Großstadt wie Berlin.
Fazit
Die gemachten Beobachtungen können nicht alle als einzigartig betrachtet werden und treffen wahrscheinlich teilweise auf weitere oder sogar alle Bundesländer zu. Außerdem sind die erlangten Erkenntnisse nicht vollkommen repräsentativ, die meisten Betrachtungen und Schlüsse sind hoffentlich trotzdem nicht leicht von der Hand zu weisen. Insofern sind die Grundlagen für eine gesellschaftliche Etablierung eines säkularen Humanismus in Mecklenburg-Vorpommern unter den hier angesprochenen Gesichtspunkten mit die schlechtesten, obwohl die statistisch betrachtete Kirchenferne im ersten Eindruck auf etwas anderes schließen lässt.
Etwa 30 Prozent der 1,7 Millionen Einwohner leben in den Oberzentren Schwerin, Rostock, Neubrandenburg und Greifswald-Stralsund. Am ehesten können diese darum als vereinzelte Ausgangspunkte für die Entstehung gemeinschaftlich vernetzter Humanisten dienen, wobei die Existenz zweier Universitäten zusätzlich ein besonderes Potential zur Entwicklung bieten kann.
Arik Platzek
Mit freundlicher Genehmigung von wissenrockt.de