GREIFSWALD (wissenrockt/hpd) Kirchenfern, gottlos und Kernland der rechtsradikalen Szene Deutschlands. Das sind gängige Bilder vom nordöstlichsten deutschen Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern. Hier gibt es, wie überall in den neuen Bundesländern außerhalb der Metropole Berlin, kaum Humanistische Verbände, deren Größe politisch und gesellschaftlich eine Rolle spielt.
In bisher nur drei Ländern sind Verbände des HVD vorhanden und mindestens zwei davon müssen sich als bedeutungslos beurteilen lassen. GBS-nahe Gruppen sind ebenfalls fast nicht präsent. Ein Erfahrungsbericht über die Schwierigkeiten, religionsfreie Menschen zu vernetzen und warum die Idee des säkularen Humanismus trotz Kirchenferne in dieser Region besonders schlecht verfängt, nach ausführlichen Beobachtungen in Mecklenburg-Vorpommern.
Glaube, politische Religionen und fehlende Kritik
Ein weit verbreiteter Irrtum muss zuerst nochmals widerlegt werden: Kirchenferne ist kein Indiz für die Freiheit vom Glauben und religiösen Vorstellungen. Sowenig, wie andernorts eine starke Präsenz von Religion verlässlicher Garant für die dementsprechende Entwicklung der damit konfrontierten Menschen ist. Hunderte Begegnungen und Gespräche ergaben den vorläufigen Schluss, dass sich Glaube trotz absolut religionsfreier und kirchenferner Sozialisation und Erziehung entwickeln kann. Glaube, so ein vorläufiges Fazit, ist allgegenwärtig oder – wenn man so will – ubiquitär. Persönliche Schätzungen laufen darauf hinaus, etwa die Hälfte Menschen hierzulande als gläubig zu bezeichnen.
Auch “religionsfrei” ist trotz der Tatsache, dass weniger als ein Viertel der Bevölkerung MVs Mitglieder der Kirche sind, kein Merkmal, welches für die Gesamtheit oder auch nur die Mehrheit der so genannten “Konfessionslosen” vergeben werden könnte. Dabei ließ sich bisher zwischen drei Gruppen religiöser Menschen unterscheiden: Die eine Gruppe ist trotz fehlender Kirchenmitgliedschaft in dem Sinne religiös, dass sie aus ihrem Glauben an eine der sinnlichen Wahrnehmung sich entziehenden Instanz oder Macht praktische Entscheidungsmaßstäbe und Handlungsvorgaben ableiten. Es sind, anschaulicher gesprochen, Christen ohne Taufschein.
Die andere, zahlenmäßig bedeutsame und teilweise politisch relevante Gruppe sind die Anhänger politischer Ideologien. Trotz eines relativ weit verbreiteten Atheismus ist besonders bei den Sympathisanten der politischen “Linken” der Glaube an die sozialistisch-kommunistische “Heilslehre” stark verankert. Denn weder die Philosophien von Friedrich Hegel noch von Karl Marx wurden bisher einer grundlegenden, allgemeinverständlichen und öffentlich nachhaltigen Kritik (wie etwa von Karl Popper, dem Begründer des kritischen Rationalismus) unterzogen. Die Überzeugungen vieler Menschen sind daher von einer politischen Ideologie geprägt, welche mit absolutem Wahrheitsanspruch verinnerlicht worden ist. Auch Kulturrelativismus ist hier anzutreffen, der sich vereinzelt bereits bis in politisch weniger fundamentalistische Gruppen der akademischen Jugend erstreckt.
Ähnlich geht es der letzten Gruppe, deren mehrheitlich nicht-akademischen Mitglieder es aus den verschiedensten Gründen an einer Sympathie für die sozialistisch-kommunistische Ideologie mangelt. Auf der instinktiven Suche nach ethischen und weltanschaulichen Bezügen und dem Wunsch nach absoluten Fixpunkten sind nationalsozialistisch-rassistische Ideologien ebenfalls verhältnismäßig weit verbreitet. Über die philosophischen Schwächen und gesellschaftlichen Ursachen muss hier nichts weiter gesagt werden. Allerdings sind auch diese als Welt- und Menschenbild prägende Ideologien mit absolutem Wahrheitsanspruch und sich gegen Kritik immunisierenden Mechanismen zu erwähnen und sogar im bürgerlichen Lager bemerkenswert häufig anzutreffen.
Eine relevante Rolle spielt für die politisch-religiösen Menschen vielleicht auch die Geschichte der kontinentaleuropäischen Philosophie, die vielfach stark metaphysisch geprägt war und zu einer großen Offenheit gegenüber derartigen Ideen geführt hat. Eine grundlegende Skepsis und eine bewusste kritische Distanz zu metaphysischen Annahmen hat vermutlich nur ein Bruchteil aller Menschen verinnerlicht. Eine dementsprechende Sparsamkeit im Umgang mit solchen Annahmen ist nur in Einzelfällen anzutreffen.
Wenig Probleme mit Kirchenpräsenz
Die Präsenz von Kirchen und Religion im Alltag ist vielfach noch gering. Aber auch der vielfach vertretenen Ansicht, dass dies ein Vorteil für die Offenheit und das Interesse an einem religionsfreien Humanismus wäre, muss der bisherigen Erfahrung nach entgegen getreten werden. Die Schwächung der Kirchen während des Sozialismus bis 1990 gereicht diesen heute vielfach sogar zum Vorteil. Denn während christliche “Hassprediger” wie die Bischöfe Walter Mixa oder Gerhard Müller, obskur erscheinende Moralvorstellungen oder einfach nur der Mangel an einem religionsfreien Kita-Platz den Menschen in kirchlich stärker geprägten Bundesländern auf Tritt und Schritt begegnen, bleiben all die unangenehmen Konfrontationen mit Religion im Alltag hierzulande einfach aus. Die überwiegend evangelischen Organisationen bieten insofern in der Öffentlichkeit eher eine positive Wahrnehmung anstatt Anstoß zu erregen, bloße Kenntnis der finanziellen Hintergründe kirchlicher Einrichtungen oder gar ein Problembewusstsein ist eigentlich nicht vorhanden.
Politisch ist die Kirchenpartei CDU vielerorts die bestimmende Kraft. Die Christlich Demokratische Union erhält breite Unterstützung in der bürgerlichen Mittelschicht, meist aufgrund solider Wirtschaftspolitik aber auch wegen der Tatsache, dass sie vielen als die “Partei der deutschen Wiedervereinigung” gilt. Ein Problembewusstsein der Wählerinnen und Wähler gegenüber den religiösen Grundlagen der Politik und negativen Konsequenzen daraus ist faktisch nicht vorhanden. Offener Atheismus und parteipolitisches Engagement werden nicht als widersprüchlich betrachtet. Die geflissentliche und beiläufige Berufung auf christliche Werte und Traditionen wird bewusst zurückhaltend eingesetzt und in der Regel unkritisch angenommen; schließlich teilweise auch trotz atheistischer Ferne zum Glauben oder zur Kirche repetiert. Eine kritische Haltung gegenüber der Kirchenpartei ist vielfach weder bei der FDP noch bei der SPD vorhanden, denn sie dient allenthalben als verlässlicher Koalitionspartner. Die Erkenntnis der quasi-religiösen Natur des Staatssozialismus der DDR ist praktisch überhaupt nicht vorhanden. Eine entsprechende, pauschale Schmähung religionsfreier Gesellschaftsentwürfe als “atheistisch” unter rhetorischem Einsatz von Begriffen wie “unmenschlich”, “menschenverachtend” oder “anti-religiös” erscheint der Zielgruppe plausibel.
Die Wende als Trauma
Der politisch-gesellschaftliche Systemwechsel hat eine bedeutende Gruppe Menschen, welche in der DDR aufgewachsen sind, traumatisiert. Es kann durchaus als quasi-fundamentale Kränkung des eigenen Vertrauens auf weltanschaulich umfassend ausgerichtete Ideengebäude betrachtet werden, welche zu einer tief sitzenden Skepsis und einem individualistischen Verhalten gegenüber den Angeboten und Vorschlägen eines weltlichen Humanismus geführt haben. Dies ist am ausgeprägtesten bei Menschen wahrnehmbar, die weder mit den politischen Ideologien noch mit sonstigen religiösen Vorstellungen sympathisieren.
Zusammen mit einer persönlichen Entwicklung ohne Konfrontation mit christlicher Religiosität und heute fehlender Kirchenpräsenz im Alltag erfährt man hier zwar einerseits viel grundsätzliche Zustimmung gegenüber den Grundzügen eines religionsfreien Humanismus, dem aber sehr oft großes Unverständnis gegenüber Sinn und Zweck gemeinschaftlicher Organisation und Interessenvertretung gegenübersteht.
Das Bewusstsein bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und sozialen Phänomenen und Ereignissen im Alltag bewegt sich oft nur noch auf der politischen Ebene, eine grundlegendere Betrachtungsebene und Selbstpositionierung findet kaum statt, mit entsprechenden Unterschieden bei den Sympathisanten von quasi-religiösen politischen Ideologien. Das vielfach als “Politik- oder Parteienverdrossenheit” bezeichnete Phänomen wird in einer Art Übertragung auch gegenüber weltanschaulichen Organisationen und Themen zum Ausdruck gebracht.
Thinktanks für Evangelisation und Strukturschwächen
Christliche Religiosität gilt teilweise auch wieder als Statussymbol, dass über parteipolitische Grenzen hinweg Identifikationen schafft. Hier gibt es keine konkurrenzfähigen Alternativen, denn ein religionsfrei-humanistisches Selbstverständnis als Gegenentwurf ist gesellschaftlich fast vollkommen unbekannt. Schließlich bietet die überwiegende Verbreitung der christlich-evangelischen Religion Möglichkeiten zu einer Liberalität, die andernorts nicht möglich wäre. Unterstützt wird sie durch Missionierungs-”Thinktanks” wie dem IEEG Greifswald, mit dessen Hilfe relativ erfolgreiche Konzepte zur Evangelisation des kirchenfernen Bundeslandes konzipiert und umgesetzt werden.
Auch das Verständnis der prinzipiellen Vereinbarkeit des Zustands “gläubig” und einer religionsfrei-humanistischen Weltanschauung muss als oftmals problematisch bezeichnet werden. Zum einen ist die genaue, jedoch bedeutende Differenzierung zwischen den Begriffen und die sich daraus ergebenden Schlüsse für viele Menschen absolut ungewohnt und auf Anhieb nicht leicht nachzuvollziehen. Zum anderen trifft sie bei Menschen mit klarer Entscheidung zum Atheismus auf starke Skepsis bis hin zu starker Ablehnung.
Zuletzt muss auch die Rolle der extrem dezentral konzentrierten und geringen Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern herausgestellt werden. Bei der Zusammenarbeit und gemeinsamen Entwicklung ist der persönliche Kontakt und direkte Umgang mit Menschen ein produktiver Faktor, der hier im Gegensatz zu Metropolregionen und auch anderen Flächenländern fast nicht wirken kann. Die Bevölkerungsdichte liegt mit 72 Einwohnern pro Quadratkilometer bei etwa einem Achtel der Nordrhein-Westfalens, bei weniger als der Hälfte von Bayern oder Niedersachsen und nur bei 2,6 Prozent der Bevölkerungsdichte in einer Großstadt wie Berlin.
Fazit
Die gemachten Beobachtungen können nicht alle als einzigartig betrachtet werden und treffen wahrscheinlich teilweise auf weitere oder sogar alle Bundesländer zu. Außerdem sind die erlangten Erkenntnisse nicht vollkommen repräsentativ, die meisten Betrachtungen und Schlüsse sind hoffentlich trotzdem nicht leicht von der Hand zu weisen. Insofern sind die Grundlagen für eine gesellschaftliche Etablierung eines säkularen Humanismus in Mecklenburg-Vorpommern unter den hier angesprochenen Gesichtspunkten mit die schlechtesten, obwohl die statistisch betrachtete Kirchenferne im ersten Eindruck auf etwas anderes schließen lässt.
Etwa 30 Prozent der 1,7 Millionen Einwohner leben in den Oberzentren Schwerin, Rostock, Neubrandenburg und Greifswald-Stralsund. Am ehesten können diese darum als vereinzelte Ausgangspunkte für die Entstehung gemeinschaftlich vernetzter Humanisten dienen, wobei die Existenz zweier Universitäten zusätzlich ein besonderes Potential zur Entwicklung bieten kann.
Arik Platzek
Mit freundlicher Genehmigung von wissenrockt.de