Päpstliche Geheimhaltung: „Kein höheres Gut“

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Panoptikum / Foto: Evelin Frerk

ROM. (hpd) Seit einiger Zeit wird im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche kontrovers über das „päpstliche Geheimnis“ diskutiert. Insbesondere in der Behinderung und Vereitelung der Strafverfolgung entsteht der Gegensatz zwischen staatlichem und kirchlichem Recht.

Ein Kommentar von Matthias Krause

Kritiker: Geheimhaltungspflicht behindert Strafverfolgung

Kritiker werfen dem Vatikan vor, mit zwei Schreiben aus den Jahren 1962 und 2001 (letzteres verfasst vom damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, dem heutigen Papst) bei der kirchlichen Untersuchung von Missbrauchsfällen allen Beteiligten die Pflicht zu absoluter Geheimhaltung aufzuerlegen, was die Meldung von Fällen an die Strafverfolgungsbehörden verhindert habe. (Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass es, zumindest in Deutschland, keine Meldepflicht für tatsächliche oder Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch gibt.)

Kirche: Geheimhaltung betrifft nur das kirchliche Verfahren

Verteidiger der Katholischen Kirche sagen, das päpstliche Geheimnis beziehe sich nur auf das kirchliche Verfahren und stehe einer Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden nicht im Wege. So erklärte der Sonderbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für sexuellen Missbrauch, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, Anfang April:
Ackermann betonte gleichzeitig, das päpstliche Geheimnis, das in einem vatikanischen Schreiben von 2001 unter anderem für Missbrauchsfälle gefordert wird, bedeute nicht, dass solche Fälle vor der staatlichen Justiz geheimgehalten würden: „Die Geheimhaltungspflicht besagt nur, dass das kirchliche Verfahren mit größter Diskretion behandelt werden muss“, sagte der Bischof. Das sei „selbstverständlich“. „Wir beanspruchen keinen Rechtsraum für uns, der mit der staatlichen Rechtsprechung konkurrieren würde.“ [FOCUS ONLINE]

Analyse der kirchlichen Vorschrift

Nun veröffentlichte letzten Dienstag DER TAGESSPIEGEL einen Artikel („Die Verliese des Vatikan“) des italienischen Philosophen und Journalisten Paolo Flores d’Arcais, in dem dieser dem jetzigen Papst (Benedikt XVI.) und seinem Vorgänger (Johannes Paul II.) vorwirft, die Aufklärung von Missbrauch verhindert zu haben:

"Dabei geht es keineswegs um einzelne Fälle von Vertuschung auch im Umfeld der Kirchen-„Justiz“, die inzwischen erwiesen sind und über die vor allem die amerikanischen und deutschen Medien berichtet haben. Es geht um die Verantwortung beider Päpste für sämtliche Fälle von Missbrauch innerhalb der Kirche, die nicht der staatlichen Justiz angezeigt wurden. Entscheidend ist folgender Punkt: Der Pontifex und der Kardinalpräfekt der Glaubenskongregation verpflichteten bindend alle Bischöfe, Priester und ihr Hilfspersonal, im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen innerhalb der Kirche nichts an die Behörden durchsickern zu lassen."

Als Beleg verweist d’Arcais auf eine „Instruktion“ des damaligen Kardinalstaatssekretärs Jean Villot vom März 1974, die bei kathpedia in voller Länge auf Deutsch einsehbar ist.

D’Arcais macht zunächst deutlich, dass sich das päpstliche Geheimnis auf Fälle von sexuellem Missbrauch erstreckt (bestätigt durch Bischof Ackermanns oben erwähnte Erklärung) und dass es für – so d’Arcais – „ausnahmslos alle“ gilt: „Die Kardinäle, die Bischöfe, höhere Würdenträger, höhere und niedrigere Angestellte, Berater, Sachverständige, Personal geringeren Ranges, die Legaten des Heiligen Stuhls und deren Mitarbeiter und so weiter.“

Die Auflistung aus der „Instruktion“ ließe sich vielleicht so zusammenfassen: Neben den Kardinälen, Bischöfen usw., die quasi von ihrer Stellung her dem päpstlichen Geheimnis unterliegen, fallen auch alle Personen darunter, die – ob beabsichtigt oder nicht – von derartigen Angelegenheiten oder Dokumenten Kenntnis erhalten. Nur so macht die höchste Geheimhaltungsstufe ja auch Sinn: Wenn sie nämlich umfassend ist.

Ein interessanter Punkt, auf den d’Arcais nicht ausdrücklich hinweist, der aber der „Instruktion“ zu entnehmen ist: Dem päpstlichen Geheimnis unterliegen auch „alle, die von [den Legaten des Apostolischen Stuhles und ihren Bediensteten] in solchen Angelegenheiten befragt werden“. Dies könnte durchaus dazu führen, dass auch die Opfer, wenn sie denn im Rahmen eines solchen Verfahrens befragt wurden, dem päpstlichen Geheimnis unterliegen. Dies war in der Vergangenheit bereits kritisiert worden [Süddeutsche], wurde aber seitens der Kirche bestritten. Allerdings ist mindestens ein Fall bekannt, bei dem in Irland zwei jugendliche Missbrauchsopfer in Gegenwart des (jetzigen) Erzbischofs von Armagh, Kardinal Seán Brady (damals protokollführender Priester), tatsächlich einen Eid leisten mussten, über die kirchliche Untersuchung zu schweigen – dabei ging es um den Fall des Priesters Brendan Smyth, der über 40 Jahre lang etwa neunzig Kinder missbraucht und sexuell misshandelte. [SPIEGEL ONLINE, ZEIT ONLINE]

„Kein höheres Gut“

Auf den Eid, den alle diejenigen zu leisten haben, die zu päpstlichen Geheimangelegenheiten kraft ihres Amtes oder wegen einer besonderen Angelegenheit Zugang haben, geht auch d’Arcais in seinem Artikel ein. Da der Artikel nur eine gekürzte Fassung der Eidesformel enthält, hier der komplette Artikel aus der „Instruktion“ von 1974 [Hervorhebungen im Text von mir]:
"Art. IV
Wer zu päpstlichen Geheimsachen kraft seines Amtes Zugang hat, muss einen Eid nach folgender Formel leisten:
Ich ...
verspreche, indem ich die heiligen Evangelien Gottes berühre, vor ...
treu das „päpstliche Geheimnis“ zu wahren in den Sachen und Angelegenheiten, die unter dieses Geheimnis fallen (Für diejenigen, die zum päpstlichen Geheimnis in einer besonderen Angelegenheit Zugang erhalten: zu wahren in der mir anvertrauten Sache), derart dass es mir in keiner Weise noch unter irgendeinem Vorwand, sei dies ein höheres Gut, seien es äußerst drängende und schwerwiegende Gründe, erlaubt ist, das vorgenannte Geheimnis zu verletzen.
Ich verspreche, dieses Geheimnis zu wahren auch nach Abschluss der Sachen und Angelegenheiten, für die eine solche Geheimhaltung ausdrücklich angeordnet ist. Sollten mir in einem Fall Zweifel über die genannte Geheimhaltungspflicht kommen, werde ich zugunsten der Geheimhaltung entscheiden.
Ferner weiß ich, dass wer gegen diese Geheimhaltungspflicht verstößt, eine schwere Sünde begeht.
So wahr mir Gott helfe und diese heiligen Evangelien, die ich mit meinen Händen berühre."

Mit anderen Worten: Das päpstliche Geheimnis darf aus keinem Vorwand, auch nicht aus dringenden oder schwerwiegenden Gründen oder wegen eines höheren Gutes verletzt werden. Und bei Zweifeln darüber hat man sich ebenfalls für die Geheimhaltung zu entscheiden.

Wenig Raum für Meldung an die Staatsanwaltschaft

Dies lässt, gelinde gesagt, wenig Raum, um Missbrauchsfälle an die staatlichen Behörden zu melden. Es widerspricht auch den Erklärungen seitens der Katholischen Kirche, die in letzter Zeit immer wieder zu hören waren, das kirchliche Recht relativiere das staatliche Recht in keiner Weise und sei diesem auch nicht vorgeordnet (so z.B. Monsignore Dr. Stefan Heße vom Kölner Generalvikariat in einem Interview).

Möglicherweise ist die obige Bestimmung auch der Grund, weshalb in den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zum sexuellen Missbrauch lediglich die Rede davon ist, erwiesenen Tätern zur Selbstanzeige zu raten: Denn die Deutsche Bischofskonferenz kann sich mit ihren Leitlinien ja nur in dem Rahmen bewegen, der durch die römischen Vorschriften gesetzt ist – und eine Mitteilung an die Strafverfolgungsbehörden durch jemand anderen als den Täter bzw. das Opfer würde u.U. bereits eine Verletzung des päpstlichen Geheimnisses darstellen. Möglicherweise erklärt sich dadurch auch der breite (wenn auch nicht vollständige, siehe die bayerischen Bischöfe) Widerstand gegen eine Meldepflicht, die ja ebenfalls zu einer Verletzung des Päpstlichen Geheimnisses führen könnte.

Vatikan lobte Vertuschung

In der vergangenen Woche wurde ebenfalls bekannt, dass 2001 der damalige Präfekt der Kongregation für den Klerus im Vatikan, Darío Kardinal Castrillón Hoyos, ein Dankschreiben an den französischen Bischof Pierre Pican schickte, der wegen versuchter Vertuschung im Fall eines pädophilen Priesters zu drei Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden war. Kardinal Hoyos schrieb ihm:
"Sie haben wohl gehandelt, und ich freue mich, einen Mitbruder im Episkopat zu haben, der es vor den Augen der Geschichte und allen anderen Bischöfen vorzieht, lieber ins Gefängnis zu gehen, als einen anderen Priester zu denunzieren." Pican habe vorbildlich gehandelt, man werde die Mitbrüder des Bistums in dieser Hinsicht ermuntern, so der Kardinal. [SPIEGEL ONLINE]

Der pädophile Priester war wegen wiederholter Vergewaltigung eines Jungen und sexuellen Missbrauchs an zehn weiteren zu 18 Jahren Haft verurteilt worden. Und als Präfekt der Kongregation für den Klerus ist Castrillón Hoyos nicht irgendwer, sondern hat praktisch den Rang eines geistlichen Ministers (für die Priesterschaft).

Als Reaktion auf das Bekanntwerden des Dankschreibens erklärte Vatikansprecher Federico Lombardi:
"Dieses Dokument ist ein Beweis dafür, wie angebracht die einheitliche zentrale Übertragung der Behandlung der Fälle sexueller Mißbräuche Minderjähriger durch Mitglieder des Klerus in die Kompetenz der römischen Kongregation für die Glaubenslehre war, um dadurch eine rigorose und kohärente Überwachung der Fälle zu garantieren, wie es tatsächlich durch die vom Papst im Jahr 2001 approbierten Dokumente festgelegt wurde." [kath.net]
 

Das Problem ist nur: Die neuen Richtlinien für die Behandlung von Missbrauchsfällen traten schon im Frühjahr 2001 in Kraft – das Dankschreiben für die Vertuschung ist aber vom 8. September: vier Monate später.