Ein Aufklärer wird 70

Erzählweise

Sigusch macht zwar am Anfang deutlich, dass es ihm nicht um eine Geschichte der Sexualität oder der Mentalitäten, sondern der Sexualwissenschaft geht. Dennoch lassen sich Aussagen zur Sexualität in ihrer Zeit kaum vermeiden wie auch schon aus der ganzen Realgeschichte heraus dieses Buch zugleich eine Geschichte der Homosexuellenemanzipation ist, und eine Geschichte intellektueller Juden in Deutschland. Sigusch begründet auch, warum das so war und warum die Geschichte der Sexualwissenschaft in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weitgehend eine deutsche Historie ist. Selbstredend fordert das Buch heraus, nach einer Geschichte der sexuellen Aufklärung und ihrer Institutionen wie Pädagogiken zu fragen (vgl. S. 81).

Die Hauptaussagen packt Sigusch in die Einleitung, um sie dann in den einzelnen Kapiteln und an einzelnen Forschern, den „Pionieren“, zu exemplifizieren: Montegazza, Ulrichs, Krafft-Ebing, Eulenburg, Moll, Blaschko, Freud, Hirschfeld, Stöcker, Bloch, Rohleder, M. Marcuse, Reich, Kinsey. Diese wiederum werden zunächst ebenfalls jeweils kompakt vorgestellt, um einige davon dann später einzeln näher zu analysieren mit ihren Werken und Beiträgen. Dazwischen dann Organisationen, Institute, Periodika, Fachgesellschaften usw. Der Lesefluss wird leserfreundlich mit grau unterlegten bzw. (bei Langzitaten) kleiner gedruckten Originaltexten, Dokumenten, Tabellen usw. unterbrochen. Am Ende des Buches dann umfänglich die Lüftung der Pseudonyme, ein opulentes Literaturverzeichnis, ein Personen- und ein Sachregister.

Ich empfehle, mit der Lektüre der Chronologie der Ereignisse (S. 543ff) zu beginnen. Es stellt sich der Überblick ein. Nicht nebenbei: Siguschs Sprache ist ein Genuss.

Dadurch, dass Sigusch die Resultate der Forscher dann doch breit in deren Lebensläufe stellt, ist eine spannende Kulturgeschichte herausgekommen.

Liebe und Sexualität

Obwohl das Wort „Freidenker“ im Buch wohl nicht einmal vorkommt und der Autor aus seiner Distanz etwa zum Monistenbund keinen Hehl macht (obwohl bzw. gerade weil einige der Porträtierten hier sogar Mitglied waren), ist das gesamte Buch nicht nur sehr gute Aufklärungsliteratur, sondern insgesamt ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus in Deutschland.

Gleich zu Beginn formuliert Sigusch eine These, die das ganze Werk illustriert: „Bekanntlich kommt das Hauptwort ’Sexualität’ weder in der Bibel noch bei Homer noch bei Shakespeare vor. Das ist für die kritische Sexualwissenschaft nicht nebensächlich, sondern die Sache selbst.“ (S. 11) Wenige Seiten weiter wird das Neue einer Sexualwissenschaft wie folgt bestimmt: Sexuelle Äußerungen werden „nicht mehr vorrangig als Sünden, Straftaten und Krankheiten angesehen und behandelt, sondern zunehmend als ein gesundes menschliches Vermögen sui generis [Hervorhebung von Sigusch] bezeichnet und propagiert, als ein einzigartiges Vermögen, das menschliche Nähe, Erregung, Ruhe, Lust, Sicherheit und Befriedigung spendet.“ (S. 15)

Sigusch hat inzwischen an anderer Stelle geäußert, er hätte eigentlich eine Geschichte der Liebe schreiben sollen. Sein Buch „Neosexualitäten“ deutete dies an. Das hat er glücklicherweise nicht umgesetzt. Vielleicht wäre es ihm gegangen wie er bei Iwan Bloch beschreibt. „Denn jede Sexualforschung ist subjektiv.“ (S. 511) Was erst bei Liebesforschung? Sigusch hat sich glücklicherweise als Arzt als willkommener Gärtner ins kulturelle Feld begeben und als Empiriker das Feld der Liebe beschrieben. Das ist, wie sich gezeigt hat, immer noch fruchtbarer als sich heimisch fühlen zu wollen in den von wirklicher Soziologie abgehobenen Sphären des Mainstreams der nun gerade nicht ethnologisch-sozialempirisch arbeitenden Kulturwissenschaft (wie er selbst anhand seiner Replik auf Christina von Brauns These einer „jüdischen Wissenschaft“, S. 373ff, ausführt; wie in seiner Einordnung Freuds ablesbar ist, S. 261ff; und an seinem Faible für Foucault sichtbar wird, S. 27ff, 524f u. a.). Die Frage nach der Liebe ist die „Frage nach Lebenssinn und Lebensglück“ (S. 17). Sie ist von der nach der Sexualität geschieden (wenn auch nicht davon lösbar). Die Frage nach der Liebe ist die nach subjektiven Wertungen und Empfindungen. Wie soll dies wissenschaftlich zu ergründen sein? Es genügt (mir) völlig, dass Sigusch immer wieder diese Frage gestellt hat und auch hier stellt und wohl richtig folgert (S. 17): „An dieser Idee [der Liebe als Menschenrecht, HG] wird bis heute festgehalten, weil die Liebe in unserer Warenwelt eine einzigartige Kostbarkeit ist, die weder produziert noch gekauft werden kann.“

Wissenschaft vom Sexuellen

Das Wissenschaftliche an der Analyse sexueller Verhaltensweisen bei Unterscheidung von (vgl. S. 45) Körpergeschlecht, Geschlechtsrollenverhalten und Geschlechtsidentität beschäftigt den Autor das gesamte Buch hindurch, ist doch gerade auf dem Gebiet des Sexuellen die kulturelle Vorprägung des Urteils über das, was da stattfindet, unterlassen oder gefördert werden soll, besonders ausgeprägt [Sinnkorrektur des Satzes- HG_170610]. Hier können scheinbar und wollen alle mitreden und hier kommen die abwegigsten Vorurteile und persönlichsten Ressentiments oft sogar „wissenschaftlich“ begründet daher. Deshalb greift Sigusch das Thema Onanie (Masturbation: „Hand an sich legen“) immer wieder auf, weil sich hieran die Verquickung des Kulturellen mit dem (scheinbar) Wissenschaftlichen am Klarsten zeigt und wo der Autor, um es einmal so auszudrücken, richtig böse werden kann, gegen Immanuel Kant vor allen. Ähnlich seine bissigen Passagen über „wissenschaftliche“ Aussagen über den weiblichen Orgasmus und die je kulturellen Gründe, diesen als nicht vorhanden darzustellen oder ihn „männlich“ zu interpretieren. Sigusch hält daran fest, dass sich aus bestimmten Befunden gerade der Sexualwissenschaft, nicht gleiche kulturelle bzw. sozialpolitische Konzepte ableiten lassen und abgeleitet wurden. Immer wieder kommt er kritisch auf angeblich unbestreitbare Tatsachen zu sprechen, aus denen Kämpfe gegen abweichende Verhaltensformen begründet wurden, denen entsprechende soziale und therapeutische Praxen folgten, die das Unbehandelbare zu behandeln oder zu beseitigen versuchten. Er resümiert, dass „zwischen Gesellschaft und Therapie ein Hiatus klafft, weil eine Gesellschaft keine Krankheit ist, logischerweise auch nicht behandelt werden kann.“ (S. 45)

Vergangenheitsaufarbeitung

Siguschs Konzept einer kritischen Sexualwissenschaft impliziert, die eigenen Befunde selbst in Frage zu stellen. Dieses Herangehen wird besonders dort eindringlich praktiziert, wo er die Wegbereiter und Vorbilder (besonders Freud und Hirschfeld, aber auch Forel, Bloch und andere) ganz grundsätzlich dort verurteilt, wo diese selbst kulturellen Schimären aufsaßen und, obwohl sonst politisch in der Regel links verortet und jüdisch geprägt, konservative Thesen der „Rassehygiene“ teilten und sich auch von Ideen wie Worten der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ nicht eindeutig genug distanzierten, u. a. weil sie diese für wissenschaftliche Meinungen hielten.

Das gesamte Kapitel 17 (S. 371ff; Andeutungen bereits S. 350ff) ist deshalb ein Höhepunkt des Buches und sollte allen, die über Freidenkergeschichte schreiben, zur Pflichtlektüre gemacht werden, auch weil hier die von Linken wie Rechten (Verweis auf Ehrenfels/Freud, S. 328ff) gemeinsam geteilte Kultur dieser Zeit sichtbar und sehr klar wird (S. 381): „Seit Auschwitz muss jeder menschenfeindliche Ton als bare Münze genommen werden“, denn es habe sich gezeigt, dass viele der wissenschaftlich gemeinten „guten Ratschläge im Genickschuss der Nazis endeten“ (S. 378): „Perverse“, „Schmutzige“, „Degenerierte“, „Entartete“, „defekte Untermenschen“, „Abschaum“, „saubere Keime“, „Gnadentod“, „Menschenzucht“, „unwertes Leben“, „Aufartung“, „Ausjätung“ …

Ich muss gestehen, obwohl dort geboren, habe ich noch nie etwas von der menschenverachtenden „Lex Zwickau“ der 1920er Jahre gehört. Die Erkenntnis, dass meine Geburtsstadt dem Namen nach mit einem Programm zur „Verhütung unwerten Lebens durch operative Maßnahmen“ verbunden ist, sollte nicht nur dort in Erinnerung gebracht werden.

Horst Groschopp

Volkmar Sigusch "Geschichte der Sexualwissenschaft". Frankfurt/M., Campus-Verlag (2008), 720 Seiten, ISBN 978-3593385754, EUR 49,90