FRANKFURT. (hpd) Prof. Dr. med. Volkmar Sigusch wird heute 70 Jahre alt. Er ist einer der international angesehensten Sexualwissenschaftler und gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin. Bis zu seiner Emeritierung 2006 war er Direktor des von ihm aufgebauten und zu hohem Renommee gelangten Instituts für Sexualwissenschaft am Klinikum der Universität Frankfurt am Main.
Geboren wurde Volkmar Sigusch am 11. Juni 1940 in Bad Freienwalde und nach einem Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie in Berlin, Frankfurt und Hamburg promovierte er 1966 zum Dr. med. mit einer experimentell-psychologischen Arbeit über die Struktur von Vorurteilen. Nach verschiedenen Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Psychiatrischen Klinik und des Instituts für Sexualforschung an der Universität Hamburg habilitierte er sich 1972 weltweit als erster für das Fach Sexualwissenschaft und wurde auf die neueingerichtete Professur für Sexualwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main berufen. 1973 kam es zur Gründung der Abteilung (seit 1996 Institut) für Sexualwissenschaft und des Zentrums der psychosozialen Grundlagen der Medizin.
Nach seiner Emeritierung (2006) wurde das Institut für Sexualwissenschaft aufgelöst, oder wie es im Beschluss des Fachbereichsrat des Fachbereichs Medizin hieß, wurde beschlossen, „es nicht mehr als eigenständige Einrichtung weiterzuführen“. Übrig blieb die Sexualmedizinische Bibliothek und Ambulanz. Da eine der beiden Stellen dieser Ambulanz vorerst nicht wieder besetzt wird, kann auch das wöchentliche Seminar „Einführung in die Sexualmedizin“ vorerst nicht mehr angeboten werden.
Aus Anlass des 70. Geburtstages veröffentlicht der hpd eine Rezension des Kulturwissenschaftlers Dr. Horst Groschopp, die u. a. verdeutlicht, wofür das wissenschaftliche Werk von Volkmar Sigusch steht und warum die Schließung des Instituts ein gesellschaftspolitischer Skandal ist.
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Geschichte der Sexualwissenschaft
Am Beginn der Sexualwissenschaft stehen in der Mitte des 19. Jahrhunderts der katholische Norditaliener Paolo Mantegazza, der die Frauen liebte, ein Weltbürger und Politiker, der neben vielen anderen Büchern eine „Physiologie der Liebe“ schrieb; sein Zeitgenosse, der protestantische norddeutsche Jurist Karl Heinrich Ulrichs, der Männer liebte und heute als Pionier der Geschlechterforschung gilt; der Berliner Arzt Magnus Hirschfeld, der 1919 das erste, 1933 von Nazis total zerstörte „Institut für Sexualwissenschaft“ gründete, für sexuelle Toleranz wirkte und Zeit seines Lebens „sexuelle Zwischenstufen“ erforschte; die Frauenrechtlerin Helene Stöcker, die für freie Liebe warb, Pazifistin war und wie Hirschfeld 1933 außer Landes getrieben wurde; Siegmund Freud, der die Triebtheorie entwickelte …
Sie alle werden als Menschen und Theoretiker im vorliegenden umfänglichen Werk vorgestellt. Wenn dieses Buch etwas verdeutlicht, dann den Verlust, den der Nationalsozialismus Deutschland zugefügt hat, denn hier war das Mekka der Sexualwissenschaft. Die meisten Forscher waren Juden, wenn auch oft (was ihnen nach 1933 nichts nützte, wie bei Albert Moll) durchaus national gesinnt und christlich (evangelisch) getauft. Wichtige Sexualwissenschaftler waren außerdem bekennend homosexuell. Und der Hauptakteur Hirschfeld „war für die Nazis so etwas wie der konkrete Gesamt-Entartete: rassisch, sexuell, sittlich und politisch.“ (S. 232)
Arme Sexualwissenschaft
Siguschs 1973 von ihm (auf Grund eines Irrtums beim Habilitationstitel durch die Fakultät, wie er meint, vgl. S. 119) gegründete Institut ist seit Oktober 2006 geschlossen per Emeritierung des Chefs – eine negative Kulturtat der Universität Frankfurt a. M. Die „Süddeutsche“ titelte am 26. September 2006 und trifft den Kern: „Ohne Perversion wäre die Liebe Ödnis. Offen übers Schwulsein oder Oralsex zu sprechen? Heute kein Problem mehr – dank Volkmar Sigusch. Er und seine Frankfurter Forscher haben die Gesellschaft zu einem anderen Umgang mit ihrer Sexualität geführt.“
Der Autor hat bisher mehr als dreißig Bücher und 500 Abhandlungen geschrieben. Es wäre besser gewesen, das entsprechende Kapitel im Buch, das letztlich sein Werk würdigt, weil die Sexualwissenschaft nach 1970 beschrieben wird, jemand andres schreiben zu lassen. Doch wer? Die Antwort darauf macht das Dilemma deutlich, in dem sich die Sexualwissenschaft in Deutschland nach dem Abgang Siguschs befindet. Die Lage kann nicht drastisch genug beschrieben werden, denn wer tritt jetzt konservativen Deutungen des Sexuellen entgegen und hat die richtigen Befunde?
Und eine „Wiedervereinigung“ – zumindest dies macht das von Günter Grau über die DDR beigefügte Kapitel deutlich – hat auch nicht stattgefunden; wie auch, wenn dies doch einen vorurteilsfreien Vergleich zweier „Sexualwissenschaften“ in beiden deutschen Teilgesellschaften nach 1945 bis 1989 einschließen müsste, bei der die DDR-Forscher und die Sexualpolitik in der DDR, insgesamt gesehen, gar nicht so schlecht wegkämen.
Der Autor selbst umreißt am Schluss des Buches, was nun zu erforschen wäre (S. 537) und bekennt (ebd.), dass seine Resultate mit Einsichten der Queer Theory weitgehend übereinstimmen. Da werden (das Programm ist bereits Anfang der 1990er vorgestellt worden) nicht nur in medizinischen Fakultäten Jubelschreie erklungen sein, auch in den meisten philosophischen und den theologischen sowieso.