Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (I)

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Stremingers Garten / Fotografie © Evelin Frerk

BAD RADKERSBURG. (hpd) Ein Gespräch mit dem Philosophen Gerhard Streminger über David Hume, Adam Smith, Marktwirtschaft, Religionskritik und auch darüber, warum Streminger meint, dass man von der britischen Kultur durchaus noch immer etwas lernen könne, beispielsweise, ein guter Verlierer zu sein.


hpd: Herr Streminger, Sie haben einen starken Bezug zu England und, wie Sie einmal gesagt haben, das Glück gehabt, sehr früh David Hume für sich und für die Philosophie des deutschen Sprachraums zu entdecken, der bis dahin hier noch nicht so bekannt war.

Streminger: (lacht) Sie sollten davon erzählen, Sie können das doch viel besser. 

hpd: (...) Also fangen wir dann einmal an. Wenn ich in Ihre Biographie schaue und dann lese, Stipendium des British Council als Student, David Hume als Hauptforschungsgebiet, Glen, ein schottischer Hirtenhund als Begleiter im Alltag, ... das sieht alles sehr anglophil aus.

Streminger: Ja, ist es auch. Wir können, davon bin ich überzeugt, von der britischen Kultur immer noch Einiges lernen. Herausragend für mich war und ist die Beschäftigung mit David Hume. Gemeinsam mit Isaac Newton und Charles Darwins gehört er ja zum klassischen Dreigestirn der führenden Intellektuellen Großbritanniens. Ich habe einige Ideen Humes beinahe zufällig während meines Studiums in Graz kennen gelernt. Dann bin ich nach Großbritannien gegangen, um meine Kenntnisse zu vertiefen und habe dort zuerst in Edinburgh studiert, dann in Oxford.

hpd: Es war für mich ein schottischer Bezug heraus zu hören, wenn ich mich auf Edinburgh konzentriere, aber mit Oxford ist es dann ja auch englisch. Spontan würde ich sagen, dass für mich als Norddeutscher England recht nah ist, während es für einen Österreicher doch weiter entfernt ist. Da wären französische Philosophen doch zumindest geografisch näher? Woher also dieser Bezug zu Großbritannien?

Streminger: Vielleicht gibt es sogar auch für mich einen kleinen geografischen Bezug. Denn ich bin in der Britischen Zone in Österreich groß geworden, Graz wurde damals von den Briten verwaltet.

hpd: Also, nicht nur Wien war viergeteilt, auch Österreich?

Streminger: Es war wie in Deutschland. Die Hauptstadt war viergeteilt und das Land insgesamt in Besatzungszonen getrennt, und ich lebte eben in der Britischen Zone. Aber ein wichtigerer Grund war natürlich der, dass die österreichische Philosophie schon damals durchaus stark, jedenfalls stärker als die deutsche, von England und Schottland, vom Empirismus allgemein, beeinflusst war. Otto Neurath, ein österreichischer Philosoph, hat einmal gemeint, dass Österreich sich den Umweg über Kant erspart habe.

hpd: (lacht) Vielleicht war es auch die Abgrenzung gegen das von Kant und Hegel dominierte Preußen?

Streminger: … und gegen den Protestantismus allgemein. Diese Abgrenzung gegen die Preußen hatte dann den unerwartet positiven Effekt, dass die vorkantische englische Philosophie, also der Empirismus und auch die nominalistische Sprachkritik, in Österreich eine gewisse Wertschätzung fanden. Der Höhepunkt in der Beschäftigung mit englischer Philosophie war dann der „Wiener Kreis“ des frühen 20. Jahrhunderts, der stark empiristisch und analytisch ausgerichtet war, wobei Hume eine zentrale Rolle spielte.

hpd: Also war David Hume in diesem „Wiener Kreis“ schon bekannt.

Streminger: Selbstverständlich.

hpd: Es war dann für Sie nicht wie ein Goldgräber, der in der Geschichte der Philosophie auf Schatzsuche unterwegs war und dann das Glück hatte, auf Hume zu treffen?

Streminger: Nein, nicht ganz. Das Interesse an Hume hatte in Österreich eben schon eine gewisse Tradition, und als ich zu studieren begann, gab es am Institut für Philosophie in Graz ein durchaus freundliches, wenn auch eingeschränktes Interesse an Hume, so in der Art von: „Ach ja, interessant, interessant, durchaus!“ Insofern war Graz in den frühen 70er Jahren wahrscheinlich das einzige Institut im deutschen Sprachraum, wo man solches zu hören bekam.

hpd: Ich bin von Hause aus kein Philosoph, aber von dem Wenigen, was ich von Hume gelesen habe, hat mich am meisten das Beispiel mit dem Gottesdienst beeindruckt und dass Hume intellektuell darüber stolperte, dass man sonntags den Schiffbrüchigen nicht helfen durfte, weil man sich an diesem Tag dem Studium der Bibel zu widmen hatte und er sich einfach fragte: „Warum?“ Das ist für mich ein sehr schönes Beispiel für Empirismus: Man geht in die Welt hinaus und stutzt, wenn man etwas feststellt, das mit Wertungen, die man sonst vertritt, im Widerspruch steht, und fragt dann die Welt: „Hoppla, woher kommt es, warum, weshalb?“

Streminger: ... und nimmt das Mitgefühl und die Empathie, die man dabei empfindet – oder die sympathy, wie Adam Smith dieses Phänomen dann später nannte – einfach ernst: Genau das könnte doch die Basis für Moralität sein und nicht – wie im Beispiel der Schiffbrüchigen – die mitleidlosen Prinzipien einer kirchlichen Moral!

Um diese Empathie, die Basis einer möglichen (Mitleids-)Ethik noch ein wenig zu erläutern: Es handelt sich dabei, zumindest im Rahmen der Humeschen Philosophie, um das den Menschen angeborene Mitgefühl mit anderen, zumindest gegenüber Menschen des emotionalen Nahbereichs. Im Beispiel von den Schiffbrüchigen wird das ganz deutlich: Stellen wir uns einmal vor, so ermuntert Hume seine Leser, das besagte Schiff würde immer näher an den Strand getrieben. In der Entfernung haben wir noch wenig Bezug, aber wenn sie sich dann dem emotionalen Nahbereich nähern, das verzweifelte Schreien der Menschen zu hören ist, dann berührt uns das existentiell. Denn im emotionalen Nahbereich gibt es neben den egoistischen Antrieben auch altruistische Empfindungen und damit den Wunsch, auch Anderen möge es gut gehen. Das Schiffbrüchigenbeispiel ist zur Illustration der affektiven Reaktionen des Menschen auf andere ausgezeichnet gewählt, und es macht unmittelbar deutlich, warum Ethiken, die sich bloß auf abstrakte Prinzipien stützen, nicht funktionieren können.

Hume war im Übrigen in diesem Punkt Optimist, er meinte nämlich, dass diese „Nahbereichsmoral“ sich allmählich ausweiten werde; Menschen würden also mit der Zeit ethisch reifer. Ein schöner, aber auch provokanter Gedanke!

hpd: Sie nannten gerade Adam Smith, über den Sie ja auch als Philosoph gearbeitet haben, was mich überraschte, da ich Adam Smith bisher nur als Wirtschaftstheoretiker und Ökonomen des freien Marktes kenne. Nun haben Sie aber gerade Smith, zusammen mit Hume, in diese Linie der Empathie gebracht?

Streminger: Ja. Dem Folgenden sei ein Wort des verehrten Altpräsidenten Richard von Weizsäcker voran gestellt, wonach ‚man Smith mit Smith korrigieren müsse’. Smith, der in Glasgow Professor für Moralphilosophie war, hat zwei große Bücher geschrieben: Das eine ist Der Wohlstand der Nationen, der berühmte Wealth of Nations, eines der einflussreichsten Bücher, die je verfasst wurden. Darin findet sich auch – ganze zwei Mal, auf etwa 800 Seiten! - die berühmte Passage von der Unsichtbaren Hand, die die egoistischen Antriebe des Menschen automatisch zum Besseren, zum Wohl aller lenkt. Aber Smith hat noch ein zweites Buch geschrieben, The Theory of Moral Sentiments, auf Deutsch: Die Theorie der ethischen Gefühle. In diesem versucht er zu zeigen, dass Mitgefühl bzw. Empathie sowie Gerechtigkeit die entscheidenden ethischen Merkmale einer funktionierenden Gesellschaft seien, somit auch die Marktmechanismen auf diese Weise gezähmt werden müssten.
 

  

 hpd: Sie gehören ja zu den ersten wissenschaftlichen Beiräten der Giordano Bruno Stiftung und das „Manifest des evolutionären Humanismus“ hat, obwohl es sehr anerkannt ist und viele Themen berührt, noch einen ‚weißen Fleck’, die bisher fehlende Wirtschaftsethik. In dieser Hinsicht wäre das doch ein möglicher Einstieg? Die Selbstbestimmtheit der eigenen Entscheidung wäre das eine Primat und die ethische Einbindung in eine Gesamtheit der andere Bezugspunkt. Und die Frage, wie man das miteinander verbindet.

Streminger: Genau. Das wäre auch ein unerlässlicher Blick in eine gedeihliche Zukunft. Denn für das Überleben des gar nicht mehr so blauen Planeten Erde wäre wohl nichts wichtiger, als das es Menschen gelänge, die Grundlagen einer öko-sozialen Marktwirtschaft zu entwickeln. Ökologie – ich glaube jeder vernünftige Mensch weiß inzwischen, dass es so nicht weitergehen kann. Die Erde ist für uns, so wie wir wirtschaften, einfach zu klein. Es wäre also dringend vonnöten zu lernen, mit Weniger besser zu leben. ‚Mit Weniger leben’ gilt zunächst natürlich nur für Wohlhabendere, aber das Ziel müsste sein: die Grundbedürfnisse aller zu sichern, nachhaltiger zu wirtschaften und schließlich mit Weniger besser zu leben. Das wäre die erste, die ökologische Komponente, und hier wären gerade auch Philosophen gefordert, nämlich aufbauend auf dem alten Wissen der Stoiker und Epikureer sich immer wieder neu zu fragen: Was ist denn heute überhaupt noch ein gutes Leben! Sind nicht viele der besten Dinge im Leben ohnedies umsonst?

Die soziale Komponente einer öko-sozialen Marktwirtschaft ist genau das, was die Altvorderen mit den schrecklichen Erfahrungen der 1930er Jahre noch präzise vor Augen hatten: dass es eines Sicherheitsnetzes für Schwächere bedarf. Denn auch sie haben das Recht, dass ihre Grundbedürfnisse erfüllt sind, und sie dürfen sich nicht deshalb radikalisieren, weil sie sich von der Gesellschaft in Stich gelassen fühlen. Die neoliberalen Marktschreier haben diese Sicherheitsnetze dann als Fesseln beschimpft, auf subtile Weise erfolgreich Lobbyismus betrieben, und die Folge? Der Sozialstaat wird nicht mehr als eine der großen zivilisatorischen Errungenschaften Europas gesehen, sondern beginnt immer mehr zu bröckeln – und damit auch die Kohäsion innerhalb der Gesellschaft, das Gefühl der grundsätzlichen Verbundenheit mit anderen.

Die einen werden immer reicher – das sagen alle Theoretiker, linke wie rechte – und diese Reichen empfinden die anderen immer mehr als Bedrohung; und die da unten werden immer zahlreicher, haben immer weniger Aufstiegschancen und stehen somit der Gesellschaft zunehmend fremd gegenüber. Durch die mangelnde Kohäsion – Ghettos hier, eingezäunte Siedlungen dort – sinken schließlich bei allen die Aggressionsschwellen. Bei uns ist das natürlich noch um vieles besser als anderswo, aber die Tendenz ist eindeutig: Der Wohlfahrtsstaat wird vielerorts fast schon als Übel gesehen und als unfinanzierbar behauptet.

Meinens Erachtens enthüllt die neoliberale Behauptung, dass es der Gesellschaft dann gut geht, wenn es vielen schlecht geht, nicht nur eine rüde Gleichgültigkeit gegenüber Schwächeren, sondern auch historische Scheuklappen. Wie üblich, vermag der Glaube – hier: der Glaube an die Allmacht des Marktes und an eine übernatürlichen Unsichtbare Hand – wieder einmal Berge von Wissen zu versetzen. Jahrzehnte lang wurde der politische Diskurs zu einem Gutteil von Leuten bestimmt, die ein wenig an Dagobert Duck erinnern, der bekanntlich nicht mehr schwimmen konnte, weil er sein Schwimmbad mit Geld voll gestopft hatte. Aber selbst Planschbecken scheinen zu genügen, um die politische Debatte weiterhin zu dominieren. Denn anders ist wohl kaum zu erklären, dass es nun von überall her tönt: Sparen, Sparen, Sparen. Aber warum heißt es nicht: Zahlen, Zahlen, Zahlen, gerichtet an Superreiche, an Banken und an Finanzjongleure, die ohne Verantwortungsgefühl ihrem Spieltrieb frönten und die halbe Weltwirtschaft ins Chaos stürzten? Diese musste dann vom ach´ so bösen Staat, also von uns allen, wieder so halbwegs ins Lot gebracht werden. Und zum Dank werden nun jene, die die Krise gar nicht verursacht haben, auch noch zur Kasse gebeten.

Aber wir dürfen das Kind natürlich nicht mit dem Bade ausschütten. Ich sagte, dass ich Anhänger einer öko-sozialen Marktwirtschaft bin. Wir benötigen – die Erfahrungen des Ostblocks haben das wohl mit aller Deutlichkeit gezeigt – einen funktionierenden Markt mit jenem Individualismus, der damit notwendigerweise einhergeht. Aber der Markt sollte primär nicht auf Konkurrenz basieren, sondern auch auf Kooperation und Nachhaltigkeit. Der Handel müsste, was auch Adam Smith hoffte, imstande sein, ein Band der Freundschaft zu knüpfen.

Das klingt ziemlich verrückt, aber völlig utopisch ist es nicht. Denn wenn zum Beispiel die Person A etwas von der Person B haben möchte, das für diese nicht so wichtig ist (weil B genügend davon hat, zum Beispiel Geld), und wenn die Person B etwas von der Person A für den Tausch bekommt, beispielsweise etwas von deren Arbeitskraft, also vom Eigentum (!) der Person A, das laut Verfassung vom Staat geschützt werden muss …. Eine solche Situation wäre grundsätzlich Gewinn bringend für beide. Wenn alles mit Rücksicht und in Fairness abläuft, und alle Markteilnehmer gut informiert sind, dann kann der Handel wie in diesem Beispiel tatsächlich ein Band der Freundschaft knüpfen, auch über Grenzen hinweg, und so den Frieden sichern bzw. erst ermöglichen.

Hier benötigen wir aber dringend einen großen Entwurf, einen neuen Wealth of Nations, in dem die jeweiligen Vor- und Nachteile sorgfältig abgewogen werden. So kann beispielsweise der freie Handel über große Entfernungen hinweg zum Frieden beitragen, schafft aber gleichzeitig beträchtliche ökologische Probleme. Eben diese ökologische Seite hat Smith in seiner Politischen Ökonomie noch nicht bedacht, wohl aber die ethische.
 

 

hpd: Sie irritieren mich gerade, weil ich mich veranlasst sehe, mein Bild eines Philosophen zu korrigieren. ....

Streminger: ... Hoffentlich zum Besseren...

hpd: Ja! Bisher war ich doch der Meinung, ein Philosoph sei eher ein Mensch, der sich Gedanken über die Welt macht, schöne Ideen hat, vielleicht auch ein bisschen idealistisch, dass man wie zur Entschuldigung sagt „Na ja, er ist halt ein Philosoph!“, also eher etwas lebensfremd ist und deshalb fand ich es immer wohltuend, dass in der Humboldt Universität in Berlin – auch nach der deutschen Wiedervereinigung – die im Hauptfoyer in den Marmor in goldenen Lettern eingemeißelte zehnte Feuerbachthese von Karl Marx nicht entfernt wurde: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Und dieser jetzt ganz konkrete Bezug von Ihnen, wie müsste eigentlich eine Gesellschaft aussehen? Das ist sehr praktisch, sehr konkret, als erst einmal allgemeiner Rahmen. Das überrascht mich, wie konkret Sie sich mit Ökonomie auseinandersetzen.

Streminger: Danke, aber auch in dieser Praxisorientiertheit sehe ich mich einfach in britischer Tradition, und noch im 18. Jahrhundert wurde die Philosophie Weltweisheit genannt. Sie dürfen nicht vergessen – um nur zwei berühmte Denker zu nennen -, dass John Locke Philosoph und Politiker war, und Hume viele Essays zur Allgemeinbildung geschrieben hat und auch Diplomat war. Insofern hatten diese zur Philosophie einen viel handfesteren Zugang als ihre idealistischen Kollegen. Es ist durchaus problematisch und kann zu schrecklichen Verwerfungen führen, wenn man bloß versucht, neue Ideen bis an die Grenze des Denkbaren zu verfolgen, aber sich nicht ernsthaft darum kümmert, ob diese Ideen auch realistisch und gangbar sind, ob also Menschen, so wie sie nun einmal sind, diese auch verstehen und umsetzen können.

Die genannten britischen Philosophen versuchten, von einem Wissen um die Menschennatur auszugehen oder ihre Ideen und Entwürfe daran zu überprüfen. Es ist natürlich kein Zufall, dass Hume sein philosophisches Hauptwerk A Treatise of Human Nature genannt hat, also Ein Traktat über die menschliche Natur. Um noch schnell eine Brücke zur Pädagogik zu bauen: Das Geheimnis guter Erziehung ist wohl dieses, andere nicht zu überfordern, aber auch nicht zu unterfordern. Um dies leisten zu können, bedarf es einer guten Menschenkenntnis. So veränderten wir, um auf Ihr Eingangsstatement zurück zu kommen, die Welt ganz sanft zum Besseren.


hpd: Ich verstehe. Sie haben in Ihrem Buch „Ecce Terra“ – aus der Sicht eines Ballonfahrers – den Unterschied zwischen einer französischen Gartenbaukunst und englischen Gärten herausgearbeitet. Die französischen Gärten mit ihren strengen Linien und Formen, der Unterordnung und Beherrschung der Natur innerhalb der abstrakten Regeln einer Geometrie, während englische Landschaftsgärten den Versuch unternehmen, die umgebende Landschaft aufzunehmen, sie zu integrieren und den Garten nicht als etwas Künstliches hinein zu setzen. Das klingt für mich ähnlich, wenn Sie sagten es gibt eine englische Tradition von Philosophie, die sehr pragmatisch denkt und eine mehr kontinentale, vielleicht eher sogar eine vorwiegend deutsche, idealistische Tradition, die Philosophie um der Philosophie, der Ideen willen betreibt.

Streminger: Wirklich eine schöne Verbindung sehen Sie da, von der englischen Philosophie zur englischen Gartenkunst. Da gibt es sogar gemeinsame historische Wurzeln, etwa den Philosophen und Humanisten und Politiker Shaftesbury, dessen Ideen für die Entwicklung der englischen Gartenarchitektur von zentraler Bedeutung waren.

Aber allgemeiner: Ich meine, dass die idealistische Philosophie und die Ideen, die dem französischen Barockgarten zugrunde liegen, noch stark theologisch geprägt waren. Hegel zufolge ist, so wurde mir einmal erzählt, jeder Gedanke ein Gottesdienst (oder sollte es sein), und der französische Barockgarten offenbart die alte Darstellung: „Wir Menschen, die Krone der Schöpfung, setzen der Natur etwas vor, was nicht natürlich ist!“ Es geht also auch bei diesen Barockanlagen um die Herrschaft des Menschen über die Natur, der laut Bibelbericht kein Naturwesen, sondern ein Geistwesen, gar das Ebenbild Gottes ist. Fundamentalisten und religiöse Menschen denken zumeist in diesen Kategorien der Dominanz und Unterwerfung; Dein Wille geschehe!, heißt es ja auch im zentralen Gebet der Christen. Und gerade Fundamentalisten, die weiterhin Strenge fordern, wo die Gebote der Menschlichkeit Menschen schon längst human gemacht haben, halten sich für kulturell überlegen, und sind in ihrer strengen Kammer im Wirklichkeit doch die kulturell weit Unterlegenen.

In der englischen Philosophie ist der Naturbegriff ein anderer. Da spielt die Natur bei vielen Denkern eine weitaus positivere Rolle. Die meisten englischen Philosophen verteidigten ein Menschenbild, das dem christlichen – dem zu folge die menschliche Natur verderbt, sündhaft und der göttlichen Gnade bedürftig ist –, diametral entgegen gesetzt ist. Und dem englischen Deismus zufolge offenbart sich Gott in der Natur und in keinem heiligen Buch. Im Buch der Natur lernen wir die Ideen Gottes kennen, in God´s work also, und nicht in God`s word! Der Deismus, dem auch Adam Smith nahe stand (nicht jedoch Freund Hume!), knüpft hier insbesondere an die Naturphilosophie Isaac Newtons an.

hpd: Würden Sie, wenn ich dass jetzt einmal etwas salopp formuliere, sagen dass die Giordano Bruno Stiftung mit ihrem evolutionären Humanismus, der ja auch mit dem Namen Julian Huxley verbunden ist, in dieser Tradition steht und es kein Zufall ist, dass der Engländer Richard Dawkins den ersten Deschner-Preis erhalten hat? Dass also die Stiftung durchaus anglophil ist?

Streminger: In dieser Hinsicht, ja, auf alle Fälle. Der Großvater von Julian Huxley, Thomas Huxley, hat – um die Verbindung: Giordano Bruno Stiftung, Darwin, englischer Empirismus noch ein wenig zu vertiefen – ein erfolgreiches Buch über David Hume geschrieben. Thomas Huxley war ja als „Darwins Bulldogge“ berüchtigt und wies in seinem Buch über Hume darauf hin, wie sehr Darwin auch von jenem beeinflusst war bzw. wie sehr Hume bereits einige zentrale Ideen Darwins vorweg genommen hatte. Von Huxley stammt übrigens das berühmte Bonmot – gegen einen Bischof gerichtet, der ihn fragte, ob er mütterlicher- oder väterlicherseits vom Affen abstamme –, dass er lieber einen Affen zum Großvater habe als einen Bischof.

hpd: Ist die Bedeutung von Hume Ihre persönliche Setzung oder gibt es in der Kommunität der Wissenschaft so eine Art Rangliste der wichtigsten Philosophen? In England und den USA gibt es doch einen gewissen Tick ‚Rankings’ zu erstellen und hat der David Hume da einen wichtigen Platz?

Streminger: Ich mag diese Ranglisten auch nicht, aber gerade kürzlich fand eine Umfrage unter den 99 führenden Instituten der Philosophie statt, Schwerpunkt Vereinigten Staaten – bei uns würde das Ergebnis gewiss anders lauten, obwohl der Empirismus und Pragmatismus mittlerweile auch hierzulande auf der Überholspur zu sein scheint. Das Ergebnis der Umfrage war eindeutig: Hume gilt mit Abstand als der wichtigste und interessanteste Philosoph, vor Aristoteles, Kant und Wittgenstein. Also ein Schotte vor einem Griechen vor einem Deutschen vor einem Österreicher. Die Philosophie ist somit ebenfalls ein weitgehend europäischer Beitrag zur Weltkultur; auch darauf sollten wir doch stolz sein.

hpd: Also ist es nicht nur Ihre persönliche Wertschätzung...

Streminger: ....nein, nein, auf keinen Fall. Da hatte ich einfach das Glück, mich unbewusst auf die richtige geistige Autobahn begeben zu haben.

hpd: Nächstes Jahr feiern wir den 300. Geburtstag von David Hume und wenn wir einmal seine Lebenszeit nehmen, dann hat er seine Schriften vor rund 250 Jahren geschrieben, eine lange Zeit der Kulturgeschichte mit vielen Brüchen und Veränderungen. Warum ist David Hume für uns heute noch ein so wichtiger Philosoph, mit dem sich zu beschäftigen eine ertragreiche Arbeit ist?

Streminger: Die philosophischen Grundfragen: Woher, Wozu, Wohin gehen wir nachher essen? – um einmal Josef Hader zu zitieren – bleiben gleich, und Hume hat auf diese Fragen höchst interessante Antworten gegeben. Er gehört gewiss zu den größten Aufklärern, das wird wohl niemand bestreiten, manche meinen sogar, er wäre der wichtigste Aufklärer, der Vater der modernen Philosophie.
 

   

hpd: Also nicht Kant, der den in Deutschland bekanntesten Leitsatz der Aufklärung formuliert hat, man möge sich seines Verstandes bedienen, um der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu entkommen?

Streminger: Natürlich: „Was ist Aufklärung?“ von 1783, die kleine Arbeit von Kant, ist eminent wichtig. Aber der Königsberger Philosoph besaß einen Januskopf, der wie der österreichische Doppeladler in zwei Richtungen blickte. Auf der einen Seite gilt er, völlig zu Recht natürlich, als der ‚Alleszermalmer’, als der deutsche Aufklärer. Aber andererseits betonte er die Notwendigkeit einer Begrenzung des Wissens, um dem religiösen Glauben Platz zu schaffen. Kant im Originalton: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ Diese Janusköpfigkeit ist Kant eigen, obwohl seine Philosophie, wie schon gesagt, einen eminent wichtigen aufgeklärten Teil hat, etwa die Rechtfertigung der Menschenrechte.

Hume war hinsichtlich einer solchen Verdoppelung der Welt völlig eindeutig, nämlich rein diesseitsbezogen. Für ihn sind Menschen keine Bürger zweier Welten, sondern als Geschöpfe der Natur ganz im Diesseits verankert. Die mit den Sinnen erfahrbare Welt ist die einzige, die wahre. Humes Philosophie ist also von transzendenten Zweideutigkeiten und übernatürlichen Fangnetzen vollständig frei, und wenn ich Ihre Frage nach seiner Bedeutung noch einmal aufgreifen darf: Hume war nicht nur Philosoph, er war auch Historiker und hat eine viertausend Seiten lange Aufklärungshistorie über die Geschichte Englands geschrieben. Es gibt keinen anderen großen Philosophen, der ein ebenso großer Historiker gewesen wäre wie Hume. Seine History of England wird, obwohl schon 250 Jahre alt, immer wieder neu ediert, es gibt mittlerweile allein im Englischen mehr als 100 Ausgaben. Man kann darin nicht zuletzt lernen, wie Hume seine Aufklärung betrieb, wie er in die Geschichtsschreibung immer wieder seine Religionskritik einbrachte, und wie er auch aufzeigte, dass Religion eminent gewalttätig sein kann, wenn sie einen dominanten Einfluss auf die Gesellschaft ausübt.

Auf der einen Seite war Hume also der Religionskritiker und Historiker, auf der anderen natürlich der Empirist, der Erkenntnistheoretiker, derjenige, der die Bedeutung der Erfahrung glänzend verteidigt und etwa mit seiner Induktions- und Kausalanalyse die philosophische Reflexion enorm vorangebracht hat. Zudem schrieb er politische Essays, in denen er unter anderem die „Glorious Revolution“ von 1688 verteidigte, also die Abkehr von einem katholischen, absolut regierenden Herrscherhaus zu einem protestantischen. Durch diesen Wechsel sah Hume die Gewaltenteilung, die am besten den Frieden innerhalb der Gesellschaft garantiert, am ehesten verwirklicht: das Zwei-Kammern-Parlament hier und ein Königshaus dort, das ebenfalls an die vom Parlament beschlossenen Gesetze gebunden war, eine parlamentarische Monarchie also.

Hume war demnach ein eminent vielseitiger, ganzer Denker - zumindest Naturalisten sehen dies so, für die auch nur diese eine Welt, das Diesseits, relevant ist; für religiöse Metaphysiker war (und ist) Hume aber ein in transzendenten Dingen Obdachloser, gar ‚einer der schlimmsten Verächter der Wahrheit, den die Geschichte kennt’, so John Wesley oder William Warburton, beide Zeitgenossen Humes und dessen erbitterte Gegner. Der eine war Begründer der Kirche der Methodisten, der andere war anglikanischer Bischof von Gloucester. Allerdings war auch Hume in seiner Einschätzung nicht gerade zimperlich, denn den Bischof nannte er immerhin „widerlichster Schriftsteller Europas“.

hpd: Was kann man allgemeinverständlich unter „Empirismus“ verstehen?

Streminger: Der Empirismus betont, dass die Erfahrung die entscheidende Erkenntnisquelle ist. Das ist zum einen die subjektive Erfahrung und zum anderen die durch das Experiment intersubjektiv überprüfbare Erfahrung. Diese beiden bilden die Basis. Die Aufgabe des Verstandes ist es, die Erfahrung zu ordnen, zu systematisieren, durch Phantasie Möglichkeiten einer Erklärung zu finden. Aber das Fundament des Erkennens, also dasjenige, was aus den Möglichkeiten das Richtige auswählt, ist die Erfahrung, nicht der Verstand. Ich kann mich nicht hinsetzen und die Welt aus dem Kopf heraus spinnen und dann annehmen, dass ich die Welt verstehe, sondern ich muss in die Welt hinaus schauen, sie also hören, betasten, spüren.

Francis Bacon hat ein wunderschönes Bild gebraucht, um die ‚wahre’ Philosophie – und das war auch für ihn der Empirismus - zu charakterisieren. Im Novum Organum – eine der großen Schriften des Empirismus – vergleicht er Philosophen mit Tieren, mit Ameisen, Bienen und Spinnern. Die Ameisen sammeln nur, die Spinnen sind Idealisten, die spinnen alles aus ihrem Kopf heraus, aber die Bienen sammeln und verarbeiten. Das ist die wahre Philosophie: sammeln, was es denn in der Welt so gibt, und dieses dann durch kluge Experimente und rationale Erklärungen verarbeiten.
 

  

hpd: Nun habe ich als Sozialwissenschaftler gelernt, dass der Mensch bei der Wahrnehmung seiner Umgebung eine Methode verwendet, die als „Vermeidung kognitiver Dissonanz“ bezeichnet wird. Das heißt, wir sind sehr bestrebt, neue Erfahrungen immer in unser bestehendes Weltbild zu integrieren. Und wir sind bereit und fähig, Erfahrungen, die wir eigentlich erkennen müssten, so zu verdrehen, dass sie nicht mehr im Widerspruch oder dissonant zu unseren bisherigen Anschauungen sind, also passen. Da werden beispielsweise Situationen auf den Kopf gestellt, und wenn man zwei Leute, die zusammen etwas erlebt haben, fragt: „Was hast du gesehen?“ dann können diese beiden Leute durchaus sehr verschiedene Geschichten erzählen, weil sie jeweils einen anderen biographischen oder analytischen Ansatz haben. Wenn es also nur die reine Erfahrung ist, ...

Streminger: ...sieht man sie nur im Lichte des bereits Gewussten...

hpd: ...nur die Erfahrung kann es dann also nicht sein.

Streminger: Nein, natürlich nicht. Aber schon den klassischen Empiristen war dieses Problem bewusst. Sie haben versucht, dieser Schwierigkeit zu entgehen, und zwar durch die Idee der Unparteilichkeit und des Experiments – man schafft eine künstliche Situation, um genauer beobachten, intersubjektiv überprüfen zu können, was nun tatsächlich der Fall ist. Die Vermeidung kognitiver Dissonanzen ist, weil sie auf die Reduzierung der Informationsflut abzielt, in gewissen Situationen absolut lebensnotwendig. Das ist wohl auch ihr evolutionärer Ursprung. Aber sie ist zugleich sehr gefährlich, nämlich dann, wenn man sich nicht weiter überlegt, wie es denn ‚eigentlich gewesen’. Deshalb betonten die Empiristen den Wert der Unparteilichkeit. Eine eingeschränkte, vollständig reduzierte Wahrnehmung ist nämlich eine große Gefahr für das Zusammenlebens unter Menschen und die Wurzel vieler Übel: Man sieht nur noch, was man sehen will, das Andere interessiert nicht, und schafft so ungeheure Konflikte.

hpd: Während der Buskampagne haben wir ja häufig mit engagierten Christen diskutiert und der Kernunterschied war dann beinahe immer, dass sie dann sagten: „Ich habe die Existenz von Jesus persönlich für mich erfahren.“ Meine Antwort war dann stets mein Respekt, und: „Nun ja, wenn das für sie so ist, ich kann damit aber nichts anfangen“, weil das Element der Intersubjektivität, das über das subjektiv Persönliche hinausweist und eine Brücke zur realitätsbezogenen Empirie wäre, schlicht fehlt. Es ist für den Einzelnen sicherlich auch sehr wichtig, kann ja vielleicht sogar lebensprägend sein, aber die Möglichkeit, das als gesellschaftliche Basis einer Ethik zu formulieren besteht dadurch eben nicht.

Streminger: Genau so sehe ich das auch und meine ergänzend, dass ein solches Verhalten, also eine Verweigerung zur rationalen Begründung, eine große kulturelle Regression ist. Die religiöse Erfahrung wurde nämlich schon lange hoch gehalten, aber klügere Köpfe wussten, dass es mit der Berufung darauf nicht getan sei. Denn es führt nun einmal kein direkter Weg vom Vorgestellten zur tatsächlichen Existenz des Vorgestellten. Deshalb haben klügere Köpfe versucht herauszufinden, ob diese innere Erfahrung verursacht wurde durch etwas, das außerhalb des Subjekts liegt, oder ob sie ein reines Phantasieprodukt, eine bloße Illusion ist.

Das ist wohl der Ursprung der Gottesbeweise und aller Versuche, das Theodizee-Problem zu lösen. Der Gottesbeweis ist dann der Bezug, dass es einen Gott gibt, der diese Erfahrung im Subjekt zumindest verursacht haben könnte; oder aber, wenn der Beweis nicht gelingt, dann wäre gezeigt, dass diese innere Erfahrung sehr wahrscheinlich ein reines Phantasieprodukt, bloßes Wunschdenken ist. Heutzutage schließt man diesen Außenbezug praktisch völlig aus und lebt nur noch in Betroffenheit und Verzückung (‚Ich erlebe, wie Gott in mir arbeitet’). Aber zunächst ist es eben nur eine Möglichkeit, dass der liebe Gott zu mir spricht, aber es ist auch möglich, dass auf dem Mars ein Elefant sitzt, der unter einer Glasglocke auf einer Riesenschreibmaschine das Vaterunser tippt – auch das ist möglich. Also genügen Möglichkeiten zur Weltorientierung nicht, zumindest Wahrscheinlichkeiten tun not. Dass etwas wahrscheinlich und nicht bloß möglich ist, kann aber nur die von Gläubigen so viel geschmähte Vernunft zeigen.

Solch grundlegende philosophische Überlegungen interessieren leider kaum, vielmehr geht es heutzutage vor allem um den bloßen Glauben. Diejenigen, die glauben, haben ein subjektives Empfinden und fragen nicht, ob das religiöse Gefühl von etwas Externem verursacht wurde oder nicht. Aber damit besteht zunächst kein Unterschied zwischen einem solchen religiösen Gefühl und dem, was sich in irgendeinem Irrenhaus abspielt.

Angenommen, dort behauptet jemand, an jeder vierten Ecke warte Napoleon auf ihn. Nun, das könnte ja sein, also gehen wir hin und schauen nach. Man könnte auch überprüfen, ob es möglich ist, dass Napoleon noch lebt. Aber die meisten modernen religiösen Menschen wollen ihr subjektives Erleben nicht überprüfen, sie wollen es nicht infrage stellen und keine Gründe hören. Und doch ist es so, dass der Erlöser Jesus Christus eigenartigerweise nur in christlichen Ländern erlebt wird, etwa in Japan nicht. Die Jungfrau Maria wiederum scheint China wie der Teufel das Weihwasser zu meiden und will dort nicht erscheinen. Und bei uns wiederum gibt es keine Erlebnisse mit Vishnu oder Shiva. Das bedeutet, dass die kulturelle Prägung eine zentrale Rolle in religiösen Dingen spielt, und als denkender Mensch fühlt man sich verpflichtet zu überprüfen, ob das richtig ist, was man so erfährt – ganz besonders dann, wenn man, wie religiöse Menschen dies tun, sein ganzes Leben an solche inneren Erfahrungen hängt. Ich habe ja auch gewisse Vorstellungen etwa von anderen Personen und frage mich, stimmt das jetzt oder habe ich mich da geirrt, und ich versuche herauszufinden, was nun richtig ist und was nicht, indem ich beispielsweise die Meinungen anderer einhole. Eine solch selbstkritische Einstellung scheint der einzige aufgeklärte Weg zur Wahrheit zu sein; das andere ist Karneval im Kopf.

  

hpd: Der Psychiater Peter Riedesser, der ja schon leider im vergangenen Jahr gestorben ist, hat immer ein sehr schönes Bild gehabt. „Wenn jemand zu mir in die Sprechstunde gekommen wäre, der mir das erzählt hätte, was man sich unter religiösen Leuten so erzählt, ich hätte ihn sicherlich einer psychologischen Krankheitsdimension zuordnen müssen, weil diese subjektiven Vorstellungen mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Wenn dieser Mensch, den ich als psychisch krank oder zumindest in diesen Aspekten nicht mehr als realitätsfähig betrachten müsste, dann auf der anderen Straßenseite in eine Kirche gegangen wäre und dort das gleiche erzählt hätte, seine Gläubigen hätten Halleluja! geschrieen.
Natürlich kann man es bei den Leuten belassen, solange sie nicht gewalttätig werden und andere bedrohen,...

Streminger: ... aber es ist nun einmal gefährlich. Es geht dabei um die grundsätzliche Einstellung, ob ich bereit bin, mich zu hinterfragen, was ich da erlebt habe, oder aber eben nicht. Wo ist hier die Grenze zwischen einer harmlosen religiösen Erfahrung der Urgroßomi und einem subjektiv erfahrenen gewalttätigen Auftrag, den mir Gott erteilt hat?

hpd: Was ich in der Praxis immer nicht verstehe, zeigt das Beispiel von „Pro Reli“ in Berlin im vergangenen Jahr, als Bundestagspräsident Lämmert, immerhin der zweite Mann im Staat in Deutschland, im Französischen Dom an einer Kirchenveranstaltung teilgenommen hatte. Er referierte zum Thema Religion und Politik und machte deren Unterschied deutlich. Religion beruhe auf Wahrheit, und über Wahrheiten könne man nicht diskutieren, da es immer nur eine Wahrheit geben könne. Und es gibt den Bereich der Politik, der beruhe auf Interessenausgleich, auf Kompromissen, und deshalb könne man diese beiden Sphären Politik und Religion überhaupt nicht miteinander in Verbindung bringen weil sie sich grundsätzlich nach anderen Prinzipien organisieren. Dem konnte ich insgesamt zustimmen. Dann aber sagte er: „Wir als Gesellschaft brauchen Werte, die jeglicher Diskussion entzogen sind und die können nur religiös definiert werden.“ Da habe ich gedacht: Huups, wie schafft er das jetzt?

Viele ranghohe Politiker in Deutschland – vom Bundespräsidenten über den Bundestagspräsidenten, die Bundeskanzlerin, den Bundesinnenminister, etc. – vertreten ja die Auffassung, dass der Staat nur mit Hilfe der Christlichen Werte zusammengehalten werden könne, denn: „Ohne Christentum gibt es keine Werte“. Warum eigentlich? Fällt den Leuten nichts Besseres ein? Es müsste ihnen doch bekannt sein, dass die Hälfte der Bevölkerung sich nicht mehr als religiös versteht und sie denen folglich auch weltanschaulich nichts mehr zu sagen hätten.
Ist diese Erwartung, dass es etwas Undiskutierbares geben müsse, das für alle Menschen gelte, im Kern schon eine religiöse Auffassung?

Streminger: Ich denke, dass gerade Werte nicht undiskutierbar sein sollten. Besonders Werte, die das Fundament unseres Zusammenlebens bilden, müssen stets aufs Neue diskutiert und begründet werden. Ich habe den Verdacht, dass bei all diesen religiösen Überzeugungen Folgendes m Hintergrund steht: „Wenn es keine Religion gibt, dann ist alles erlaubt.“ Ein Satz von Dostojewski, dessen Inhalt durch die Geschichte aber hinlänglich falsifiziert ist. Wahr ist vielmehr das Gegenteil: Je religiöser ein Zeitalter war, während des Dreißigjährigen Krieges etwa, desto gewalttätiger war es auch. Die Religion bewahrt eben nicht vor (Massen-)Hysterien, sondern befördert sie, wenn nämlich Religiöse begeistert um das Goldene Kalb einer liebgewordenen Illusion tanzen und auf diese Weise die Köpfe der Menschen verwirren.

Zudem haben wir genügend Fähigkeiten: Sinne, Empathie, Mitgefühl, Interessen, Denken, Phantasie und Vernunft, um die für ein gedeihliches Zusammenleben besten, intersubjektiv begründbaren Werte zu finden. Denn wir Menschen sind es, die die Werte schaffen, da sich in begründeter Weise nicht zeigen lässt, dass es einen Gott gibt, der sie objektiv vorgab und wir sie nur noch zu entdecken hätten.

Noch in anderer Hinsicht ist meines Erachtens die religiöse Fundierung von Werten ein großer Fehler. Denn aufgrund des Misslingens aller Theodizeen -- also aller Versuche, die Güte und Gerechtigkeit Gottes angesichts der Übel in der Welt zu beweisen --, … Aufgrund des Misslingens aller Theodizeen also kann in begründeter Weise nicht gezeigt werden, dass es einen gütigen Gott gibt, und doch wird behauptet, Gott sei die Quelle der Moral. Aber es ist doch verwerflich, von jemandem Werte zu übernehmen, dessen Willen erfüllen zu wollen, von dem man gar nicht weiß, ob er überhaupt gut bzw. gütig oder gerecht ist.

hpd: Für mich öffnet sich hier eine Brücke. Wenn man Religiöse fragt: „Wo sind denn eure Werte?“, geantwortet wird: „Die größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben doch die Säkularen oder Atheisten verursacht - Stalinismus, Mao-Tse-tung, Hitler und Nationalsozialismus.“ Ich kontere dann; „Halt Stopp, das waren politische Religionen, die nach dem gleichen Prinzip wie Religionen gebaut sind, es gibt einen Führer, eine Wahrheitsauffassung, die für alle verbindlich ist und wer nicht daran glaubt, wird daran glauben müssen.“ Das waren keine säkularen Auffassungen. Das die SIE aus christlicher Sicht partiell atheistisch waren, nun ja, aber da gibt es über Mao-Tse-tung den schönen Satz: „Er war bisher der einzige Atheist, der es geschafft hat, selbst zum Gott zu werden.“ Allein darin zeigt sich schon der Widerspruch.

Streminger: Das alles sehe ich genau so. Nur zur Ergänzung: Der Nationalsozialismus war eine meines Erachtens durch und durch religiöse Bewegung, mit dem Katholiken Hitler als Messiasgestalt, der nie aus der Kirche ausgetreten ist oder ausgeschlossen wurde, dessen Mein Kampf nie auf dem katholischen Index der verbotenen Bücher stand (wie etwa die Schriften Humes, Jahrhunderte lang!). Hitler selbst sprach häufig von der Vorsehung, deren Weg er ‚mit der Sicherheit eines Schlafwandlers’ gehe, die Nazis behaupteten ein Interpretationsmonopol, es gab heilige Schriften, eben Mein Kampf, geschah eine militärische Niederlage, so wurde sie als Prüfung gesehen, der schwarze Orden der SS erinnert an den der Jesuiten, etc. Ich habe unlängst gehört, dass der Eid auf Hitler „heiliger Eid“ hieß und auf Hitler und den Allmächtigen zugleich geschworen wurde. In den Nürnberger Rassengesetzen galten als Voll-Arier angeblich jene, die vier christliche Großeltern hatten, religiöse (!) Kategorisierung also. Ich konnte dies noch nicht hinreichend verifizieren, aber es passte vorzüglich ins Bild vom Nationalsozialismus als einer politischen Heilsreligion.

  

hpd: Ich war einmal in Nürnberg auf dem Gelände des Reichsparteitages und im dortigen Dokumentationszentrum gab es eine Ausstellung zu Leni Riefenstahl, bei der auch Filmplakate gezeigt wurden. Ihr erster Parteitagsfilm 1933 hatte den Titel „Triumph des Glaubens“, erst der folgende, der berühmtere von 1935, hieß dann „Triumph des Willens“. Diese Parallelität ist offensichtlich und man muss dann gar nicht zitieren, dass Goebbels Jesuitenschüler war...

Streminger: …und Stalin Priesterzögling, und dort gab es genauso Heilige Schriften, Interpretationsmonopole, Stalin wurde als Halbgott verehrt etc. Und noch etwas: Unter den Nazis wurden Aufklärung und Religionskritik bekämpft, darin offenbare sich nämlich „jüdisch-zersetzender Geist“, weshalb die Freidenker nach der Machtergreifung auch als erste verboten wurden. In der SS war Glaube erwünscht und nicht das Gegenteil – ‚Glaube’ zwar nicht in der christlichen Form, natürlich nicht – auch das galt als jüdischer Schwindel –, aber Glaube als Geisteshaltung.

Bei den Aufklärern, um nochmals den Unterschied zu verdeutlichen, ist alles grundlegend anders. Im Politischen geht es nicht um Ein Volk, ein Reich, ein Führer!, sondern um die Teilung der Macht, gerade auch bei den Briten, erbitterte Gegner der Nazis, deren Zusammenleben trotz Monarchie ja auf der Gewaltenteilung beruht: zwei Kammern im Parlament und eine unabhängige Justiz. Ob es dann auch noch monarchische Strukturen gibt, ist sekundär. Und diese Gewaltenteilung fehlte bei den Nazis und im Stalinismus völlig und fehlt in allen totalitären Systemen. Hier überall Glaube, dort die Hochschätzung der Vernunft, für die das ständige Suchen nach guten Gründen, die permanente Warum-Frage wesentlich ist. Ich nehme nicht an, dass etwa in der SS eine solche Einstellung überaus geschätzt wurde. Also bitte: Mit den fürchterlichen Gewalttaten des 20. Jahrhunderts hat die Aufklärung nichts zu tun, im Gegenteil.

hpd: Ralf Dahrendorf, der in Deutschland eher noch als FDP-Politiker bekannt ist, war später Professor an der London School of Economics und hat in einem Aufsatz formuliert, dass die englische Gesellschaft „Ligaturen“ besäße, die in Deutschland nicht oder nicht mehr vorhanden seien. Das mit Klassenbewusstsein zu übersetzen wäre etwas zu vordergründig, aber es sind Elemente des Bewusstseins auch eines Rechts der Anderen, der Verbindlichkeit, dass man Streiks zwar nicht wunderbar findet, sie aber dennoch als Recht akzeptiert. Ein klassenbewusster englischer Arbeiter hatte auch nicht diesen Neid auf z.B. den Adel. Das war eine andere Klasse, von der man durchaus von ‚unten aus’ herab sah. Die These ist nun, dass diese Bindungskräfte sich gegen totalitäre Ideen behauptet haben. Warum gab es den Nationalsozialismus in Deutschland, in Italien der Faschismus, in Spanien Franco, in Portugal Salazar, Frankreich war auch nicht so ganz ohne, nur in England kaum etwas davon?

Streminger: … auch in Amerika nicht, dass muss man schon betonen, denn die hatten auch eine gewaltige Wirtschafts-Depression. Aber zurück zu Großbritannien: Abgesehen davon, dass man dort wohl stärker als bei uns versucht, auch die Gegenseite fair zu behandeln, lautet ein Erziehungsideal, zumindest in gewissen Kreisen, dass man auch a good loser zu sein habe, ein guter Verlierer also. Man muss nicht immer der Erfolgsreichste, der Beste sein, und es gibt Situationen, mit denen sollte man allein fertig werden. Es ist der kultivierte Umgang mit individuellem Irrtum und Scheitern, das bereits Teil der Erziehung ist. ‚Lerne auch, ein guter Verlieren zu sein! Lerne, dass die Welt nicht immer so ist, wie Du es willst. Lerne, dass Du nicht immer recht hast, sondern auch irren kannst!’

Ein weiteres Erziehungsziel, zumindest der britischen Oberschicht, ist die ‚Exzentrizität’. Versuche ein bisschen anders als die anderen zu sein, eben gerade nicht gleich geschaltet, sondern anders, eine besondere Begabung oder ein besonderes Interesse pflegend! Das schafft Freiräume der Kreativität und Toleranz.

Als ich in Oxford bei John Mackie studierte, habe ich mich als Philosoph so wohl gefühlt wie nirgendwo sonst. Denn ich musste mich dort nie als Philosoph – und Philosophie ist nun einmal ein Orchideenstudium – rechtfertigen, sondern war als solcher willkommen. Die Ausbildung bestand im Wesentlichen erstens darin, dass man neue Ideen entwickelt, also kreativ zu sein versucht, und zweitens, dass man diese begründet, also seinen Verstand bemüht, und drittens, dass man zu klären versucht, wie wichtig und neu das überhaupt ist, was man sich so ausgedacht hat – und wie sozial relevant es sein könnte. Auf diese Weise wurden also Phantasie, Verstand, Interesse an Geschichte und Vernunft bemüht. Das ist doch ein Erziehungsideal, das global und nicht allein für britische Snobs und Schnösel gelten sollte.

hpd: Würden Sie das in eine britische Tradition setzen, für die auch David Hume und Adam Smith stehen?

Streminger: Ja, natürlich. Man darf nicht vergessen, dass mit dem Individualismus auch der Markt gefördert wurde (und umgekehrt). Ursprünglich galt der Markt als Befreiung von ungerechtfertigten Privilegien. Gegenwärtig sieht man zu Recht vor allem seine negativen Komponenten – es ist ja fürchterlich, was da passiert –, aber der Markt hat natürlich auch seine positive Seiten: Die Privilegien und Monopole der Zünfte und Kartelle werden dadurch abgeschafft, der freie Zugang zum Markt ist also auch ein Gerechtigkeitsmoment.

Dazu gibt es ein besonders schönes historisches Beispiel: Einer der Freunde Adam Smiths war James Watt, der Erfinder der universell einsetzbaren Dampfmaschine. Watt war wie Smith Schotte, wurde aber in London zum Werkzeugmacher ausgebildet. Als er zurück nach Glasgow kam, durfte er dort nirgendwo seine Werkstatt eröffnen, eben weil er in keiner schottischen Zunft ausgebildet worden war. Smith hat ihm daraufhin in der Universität Glasgow einen Arbeitsplatz verschafft, und dort hat Watt einige seiner revolutionären Entdeckungen gemacht.

Ist das nicht ein unüberbietbares Argument, dass der freie Markt auch positive Auswirkungen haben kann? Zudem darf man nicht vergessen, dass Smith kein Marktfetischist war, sondern immer von einem durch Sympathie und Gerechtigkeit regulierten Markt ausging. Aber noch ein letzter Blick, was den Markt betrifft, zurück in die Gegenwart: Der Politik, die Jahrzehnte lang geprügelt wurde – Mehr privat, weniger Staat! -, scheint es nicht wirklich zu gelingen, das Finanzkapital wieder an die Leine zu nehmen. Wenn es die Politik nicht schafft, sich aus ihrer Demutsstarre zu lösen, dann bedarf es dringend des mutigen Engagement der Zivilgesellschaft sowie kluger, schon deshalb gewaltfreier, aber ‚angry young men and women’.

hpd: Ich hatte den Eindruck, als Sie von James Watt sprachen, als ob die Schotten in Großbritannien so etwas wie die Schwaben in Deutschland sind, fleißige und kreative Leute. Es gab das Bonmot, das in der Industrialisierung die Unternehmer alles Protestanten waren und die großen Erfinder moderner Technik – Bosch, Daimler, Zeppelin – alle schwäbisch miteinander schwätzen konnten. Die andere Seite war jedoch eine geistige Enge, aus der die Unruhigen hinaus strebten. Ist der Vergleich mit Schottland vielleicht völlig verkehrt?

Streminger: Nein, überhaupt nicht. Um die Geschichte Schottlands und der Aufklärung dort zu verstehen, muss man wissen, dass es – ehe die Aufklärung auf den Plan trat und schließlich die Wiege der wissenschaftlich-industriellen Revolution, mehr als anderswo, zum Schaukeln brachte … Ehe das alles geschah, hatte es in Schottland sieben magere Jahre gegeben, 1696 bis 1703. Damals sind zumindest 10 Prozent der Bevölkerung in furchtbaren Hungersnöten verhungert, viele zogen als Tagelöhner oder Diebe durchs Land. Entscheidend, um dieses Elend zu beheben, war die Öffnung des Marktes zu England sowie der Zugang zu den Kolonien. Glasgow etwa liegt mit seinem Hafen näher zu den amerikanischen Kolonien und den Tabakplantagen als London, hat also diesbezüglich einen natürlichen Vorteil. Aus Not wurde aber nicht nur mit England eine Freihandelszone geschaffen, sondern dieselbe Not formte auch sehr praktische Menschen, die im Bewusstsein lebten, etwas tun zu müssen, damit so etwas nicht mehr geschieht. Die Klügsten unter ihnen wurden dann die heute so berühmten Schottischen Aufklärer.

hpd: Ich habe noch eine Frage zu David Hume. Schottland war ja offiziell nicht mehr katholisch, aber von der Identität her noch geblieben, und Österreich ist ja nun auch katholisch. Wie kommt man eigentlich als ein Mensch, der in einer katholischen Gegend groß geworden ist, eigentlich zur Religionskritik?

Streminger: (Pause) Sie meinen jetzt nicht die Schotten, sondern mich...

hpd: (lacht) Ja...

Streminger: (lacht) Sie begannen mit Schottland...

hpd: Ja schon, aber das Gemeinsame mit Österreich war meines Erachtens schon die in Schottland immer noch vorhandene Verehrung des katholischen Herrscherhauses der Stuarts...

Streminger: Nun, die Schotten waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts doch zu einem Großteil Calvinisten geworden, mit John Knox als Reformator, der noch schlimmer wütete als sein Lehrer Calvin in Genf, und die Intelligenteren unter ihnen waren Anglikaner geworden und standen der englischen Bischofskirche nahe. Als drittes gab es natürlich, vor allem in den Highlands und auf den Inseln, noch katholische Stuart-Treue.

Mein Interesse an Religion ist beinahe rein intellektuell, ich war einfach neugierig. Da behaupten einige, dass es einen gütigen Gott gibt, der seine schützende Hand über alle breitet, und das hat mich dann doch interessiert, auch fasziniert, denn es gibt doch auf der anderen Seite so viele Schmerzen und Leid und Böses. Wie geht das bloß zusammen, der liebe Gott auf der einen Seite und etwa Naturkatastrophen auf der anderen? Das wollte ich verstehen.

  


Fortsetzung mit Teil II