Das Schweigen über die italienische Geschichte

Auf Spurensuche in Aprilia

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Benito Mussolini

ROM. (hpd) Während der letzten zwei Wochen besuchte hpd-Autor Paul Hilger im Rahmen einer universitären Exkursion verschiedene Sehenswürdigkeiten und Museen in Rom und Umgebung. Ergänzend zum regulären Programm sollten die teilnehmenden Studierenden Referate zu den jeweiligen Stationen halten. Ein Reisebericht.

Ich beschäftigte mich mit der Stadt Aprilia, etwa zwanzig Kilometer südlich von Rom gelegen, und machte während des Besuches einige interessante Entdeckungen:

Zunächst machte Aprilia einen vollkommen unscheinbaren Eindruck. Es handelte sich um eine Stadt mittlerer Größe und verfügte bis vor einigen Jahrzehnten, wie viele andere Städte in dieser Region, mit Unterstützung großzügiger Konjunkturprogramme einen bedeutenden Industriesektor, der mittlerweile zum großen Teil brach liegt. Beim Durchqueren der Innenstadt würde den wenigsten Menschen in den Sinn kommen, dass Aprilia einst Bestandteil einer Propagandakampagne des faschistischen Regimes unter Benito Mussolini war.

Ab dem Ende der 1920er-Jahre geriet Italien in eine schwere Landwirtschaftskrise, da in einem nicht ausreichendem Maße Getreide kultiviert werden konnte, sodass man hauptsächlich auf Importwaren angewiesen war. Vor diesem Hintergrund propagierte das Regime eine Autarkiepolitik, die Italien von landwirtschaftlichen Gütern anderer Nationen unabhängig machen sollte. Zu diesem Zwecke sollten Sumpfgebiete trocken gelegt werden, die sich nahezu über die gesamte latinische Region, südlich von Rom, erstreckten – auch genannt die Pontinischen Sümpfe. In den Jahrhunderten davor scheiterten bereits Versuche, diese Region zu besiedeln aufgrund erheblicher Malariagefahr. Doch der Einsatz elektrisch betriebener Pumpen beschleunigten die Arbeiten erheblich, sodass nach wenigen Jahren die ersten Siedlungen aus der Taufe gehoben werden konnten. In den trockengelegten Gebieten wurden gezielt kleinere Bauernhäuser errichtet, die im Schnitt zwischen acht bis zehn Menschen aufnehmen konnten. Doch neben diesen Bauernsiedlungen beabsichtigte das Regime landwirtschaftliche "Gemeindezentren" zu errichten – von der Bezeichnung "Stadt" sah man ab, da die faschistische Propaganda das Stadtleben grundsätzlich verteufelte und das Leben auf dem Land hoch anpries.

Die Gemeindezentren sollten über ein Mindestmaß an gesellschaftlichen und kulturellen Freizeitangeboten verfügen, um die angesiedelten Bauern bei Laune zu halten. Tatsächlich dienten die Zentren in besonderem Maße dazu, eine ideologische Kontrollfunktion auszuüben, denn in jedem Zentrum befanden sich Einrichtungen des Regimes, wie etwa Parteizentralen oder Institutionen zur Erziehung des Nachwuchses. Eines dieser sogenannten Gemeindezentren war Aprilia, das am 25.April 1936 gegründet und eingeweiht wurde durch Mussolini persönlich. Die Gründung Aprilias besaß darüber hinaus einen außerordentlichen Symbolcharakter, denn kurz zuvor verhing der Völkerbund Wirtschaftssanktionen gegenüber Italien aufgrund massiver Kriegsverbrechen, die von Seiten italienischer Truppen im Abessinien-Krieg begangen wurden. Mussolini führte nicht nur einen erbarmungslosen Eroberungskrieg zur Verwirklichung seines imperialen Größenwahns, sondern ließ mithilfe von Giftgaseinsätzen auch die Zivilbevölkerung systematisch töten. Das Regime propagierte, dass die Gründung dieser Zentren eine passende Antwort auf die Sanktionen seien, um die eigene Wirtschaft endgültig autark auszurichten. Dies stellte sich natürlicherweise als Bluff heraus, da Italien in starkem Maße vom Handel mit dem Deutschen Reich abhing.

Nach dem Sturz Mussolinis und dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Italien, anders als im Nachkriegsdeutschland, keiner "Entfaschisierung" unterworfen, sodass sich relativ rasch faschistische Nachfolgeorganisationen bilden konnten. Es folgte keine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit, sodass noch heute viel Spielraum für Geschichtsrevisionismus herrscht, der auch in Aprilia spürbar ist.

Unmittelbar nach meinem Vortrag begab ich mich mit einem vorbereiteten Fragebogen zur Stadtverwaltung. Der Fragebogen zielte darauf ab, ein grobes Stimmungsbild zu rekonstruieren, wie die Verwaltung mit ihrem Vermächtnis umgeht. Schon als ich die erste Frage einer Sachbearbeiterin stellte, ob ich ihr Fragen zur Geschichte dieser Stadt stellen darf, schien nahezu die gesamte Verwaltung im Aufruhr begriffen. Es wurde hektisch telefoniert, ehe man mich zum Büro des Kulturdezernenten begleitete. Auf dem Weg dorthin bemerkte ich einige eingerahmte Fotografien, die Mussolini bei der Stadteinweihung zeigten, unter anderem mit Adolf Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß.

Kulturdezernent Dr. Rocco Giannini empfing mich recht herzlich und begann mit viel Enthusiasmus von der Entwicklung Aprilias zu erzählen. Dabei beschränkte er sich hauptsächlich auf die Zeit der deutschen Besatzung im Jahr 1943, der Zerstörung der Stadt, dessen Wiederaufbau und Entwicklung zum wichtigen Industriestandort in den 1960er-Jahren. Meinen Fragen bezüglich des Umgangs mit der faschistischen Vergangenheit wich er allerdings aus. Er bot mir lediglich an, bei Gelegenheit das Stadtarchiv zu besuchen, um dort nach mehr Informationen zu suchen. Zum Abschluss des Gesprächs brachte man mir einen kleinen Geschenkkorb mit einem Panoramafoto der Stadt aus dem Jahr 1937, mehreren Postkarten sowie einer DVD zur Geschichte der Stadt.

Diese Eindrücke veranschaulichten mir, dass das Thema Vergangenheitsbewältigung nicht nur in Aprilia, sondern auch in anderen Teilen Italiens vermieden wird. Diese Vermutungen werden unter anderem insoweit bestätigt, dass in mehreren Kommunen Italiens sich starke neofaschistische Gruppierungen etabliert haben, die kein Problem damit haben, Mussolini gottähnlich zu verehren. Ein Beispiel dafür ist etwa die Stadt Sabaudia, die unter anderem von einer neofaschistischen Partei regiert wird. Auch das dauerhafte Schweigen könnte Kommunen wie Aprilia teuer zustehen kommen: Auf diese Weise können solche Gruppierungen ungehindert ihren Einfluss mehren, um das gesellschaftliche Stimmungsbild schließlich für sich zu vereinnahmen. Durch deren permanenten Rückbezug auf die scheinbar glorreiche Zeit unter Mussolini, verschleiern sie die begangenen Kriegsverbrechen in Afrika und auf dem Balkan und dessen Beteiligung an der Vernichtung der europäischen Juden. Sämtliche demokratische Parteien in Italien müssen in Sachen Vergangenheitsbewältigung eine 180°-Kehrtwende vollziehen und die Konfrontation mit den Faschisten suchen.