Kommentar

Deutschland hat ein Identitätsproblem

TRIER. (hpd) In Deutschland grassieren rassistische Gewalt und Hasstiraden. Die offene Gesellschaft wird dabei nicht nur von militanten Neonazis, sondern auch von einer neuen rechten Bewegung und deren Mitläufern bedroht

Deutschland hat ein Naziproblem

Das Attentat auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker reiht sich in eine schockierend lange Liste des rechtsradikalen Terrors ein. Allein in diesem Jahr mussten mehr als 500 Angriffe auf Geflüchtete oder ihre Unterkünfte in Deutschland registriert werden. Die Anzahl alltagsrassistischer Übergriffe dürfte diese Zahl bei weitem übersteigen. Noch vor Kurzem wurden bei einer Razzia in der Bamberger Neonazi-Szene Waffen und Sprengstoff beschlagnahmt. Womöglich konnte dadurch ein geplanter Anschlag auf das Balkan-Zentrum in Bamberg verhindert werden. 

Die jüngsten Ereignisse verdeutlichen aufs Neue eine historische Gewissheit: "Wehret den Anfängen!" ist keine entbehrliche Kampfparole vergangener Zeiten. Nach wie vor ist es eine notwendige Handlungsmaxime. Denn die Anfänge gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit lassen sich nicht erst im militant-fanatischen Spektrum finden. Sie gedeihen bereits dort, wo eine feindselige Haltung gegen das vermeintlich "Fremde" eingenommen wird. So verwundert es nicht, dass das kleingeistige Umfeld neurechter Bewegungen wie PEGIDA, der AfD und der "Identitären Bewegung" ein geeigneter Nährboden für Hetze und Intoleranz ist. 

Die Identitätsfalle

Kulturen sind keine abgeschlossenen Gebäude. Sie unterliegen einem stetigen Wandel. Daher ist es unsinnig, zwischen den vermeintlich homogenen Kulturen der "Einheimischen" und der "Zuwanderer" zu vermitteln. Das sehen "besorgte Wutbürger" freilich anders und tappen – berauscht vom patriotischen Taumel – in die "Identitätsfalle". Unablässig sorgen sie sich um die Illusion ihrer nationalen Identität, die angeblich vor fremden Einflüssen beschützt werden muss. Solche Sorgen muss man nicht ernst nehmen. Man muss es aber ernst nehmen, dass sie bestehen. Denn mit ihnen geht eine völkische Abschottungsmentalität einher, die mit rassistischen Ressentiments verbunden ist und mit wohlwollend klingenden Begriffen wie "Ethnopluralismus" umschrieben wird.

Doch das Gefahrenpotenzial dieser "Identitätsfalle" ist noch größer. Anstatt Menschen als kulturelle Mischlinge zu begreifen, werden sie auf stereotype Gruppenidentitäten reduziert. Jede Abweichung von einer beschworenen Norm – wie Heteronormativität oder das traditionelle Familienbild – wird als Werteverlust oder Dekadenz stigmatisiert. Das hermetisch verriegelte Kulturverständnis der neuen Rechten ist somit ein antiaufklärerischer Angriff auf die Individualität und die Möglichkeit zur Emanzipation. 

Die neurechte Bewegung propagiert eine Weltanschauung, die als ideologisches und personales Scharnier zwischen Neokonservatismus und Rechtsradikalismus dient. Dass sie dabei in bürgerlichem Gewand auftritt, sollte nicht über ihre – teils salonfähigen – Positionen hinwegtäuschen. Denn die Bewegung ist feindlich gegenüber einer offenen Gesellschaft eingestellt und muss dementsprechend politisch bekämpft werden. 

Das beste Mittel gegen die rechts-idiotische Propaganda wäre das Erstarken eines couragierten, transkulturellen Kosmopolitismus, der sich noch stärker in gesellschaftliche Debatten einmischt und die Gefahren menschenverachtender Agenda klar benennt. Genau dies wäre die Fortführung einer humanistischen Tradition.

Das "Leitbild der transkulturellen Gesellschaft" wurde bereits vor zwei Jahren auf der Kritischen Islamkonferenz ausformuliert. Ihre humanistische Formel lautet: "Selbstbestimmung statt Gruppenzwang!"

Literatur zur vertiefenden Lektüre:

  • Amartya Sen: "Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt". Aus dem Englischen von Friedrich Griese, C. H. Beck, München 2007, 224 Seiten, 19,90 Euro
  • Wolfgang Welsch: "Was ist eigentlich Transkulturalität?".