Am 10. Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Erstmals in der Geschichte formulierte dieses Dokument Rechte des einzelnen Menschen.
"Wir haben zweieinhalbtausend Jahre in politischen Organisationen gelebt, ohne dass das Menschenrecht als solches anerkannt war", sagt Althistorikerin Prof. Dr. Sitta von Reden von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte tauche "der Begriff der Würde in dieser prononcierten Weise zum ersten Mal überhaupt auf", sagt Prof. Dr. Jörn Leonhard, Neuzeithistoriker an der Universität Freiburg. Auch der Freiburger Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Matthias Jestaedt attestiert dem Dokument: "Das war der Beginn einer ganz neuen Ära." Jestaedt, Leonhard und von Reden forschen an der Universität Freiburg zu Verfassungen und Praktiken der Verfasstheit. An der Erklärung der Menschenrechte von 1948 wird die Komplexität dieses Unterfangens greifbar – denn die Erklärung selbst stellte keine Verfassung im klassischen Sinne dar.
Menschenrechtserklärung fließt in Verfassungen ein
"Die Menschenrechtserklärung ist juristisch nicht verbindlich", sagt Jestaedt, "die einzelnen Rechte sind aber so formuliert, als wären sie es". Der neue Fokus auf den Einzelnen wirke seitdem direkt in viele Verfassungen des 20. und 21. Jahrhunderts hinein. Besonders deutlich werde der Einfluss im deutschen Grundgesetz. "Die Würde des Menschen ist im Grundgesetz zentral und wird durch das Bundesverfassungsgericht als einem der stärksten Menschenrechts-Gerichtshöfe geschützt", so Jestaedt. Aktuell beobachtet er ein regelrechtes "race to the top" um den besten Schutz von Menschenrechten zwischen nationalen Verfassungsgerichten in Europa, dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Auf diese Weise wurde die Erklärung für Menschenrechte trotz ihrer eigenen juristischen Unverbindlichkeit zur Grundlage eines weltweit einmaligen Grundrechtsniveaus in Europa.
Historizität und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
Historisch betrachtet gebe es für die Formulierung von Grundrechten viele Vorläufer, sagt Leonhard. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs 1648 wurde zum Beispiel zum ersten Mal das Recht formuliert, aus Bekenntnisgründen auszuwandern. Als weitere Vorläuferdokumente nennt Leonhard die Declaration of Virginia (1776) und die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789. Der explizite Fokus auf die Würde des Menschen sei jedoch etwas grundlegend Neues gewesen und sei als eine "unmittelbare Reaktion auf den Epochen- und Zivilisationsbruch der 1930er und 1940er Jahre" zu verstehen, "weil der Totalitarismus wie kaum je zuvor das Individuum entrechtet und schrankenloser Gewalt ausgeliefert hatte".
Aus solchen Zusammenhängen dürfe man keine Linearität in der historischen Entwicklung von Verfassungen ableiten, ergänzt von Reden. Vielmehr gebe es neben Rückgriffen auf ältere Epochen eine "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen". Ähnliche Zusammenhänge in unterschiedlichen Kontexten könnten zu vergleichbaren Lösungen führen: "Ein komplexeres Verständnis von Zeitlichkeit ist ganz wesentlich, um die Entwicklung von Verfassungen zu verstehen und sie global zu betrachten."
Verfassungen zwischen Stabilität und Veränderung
In der Gegenwart mit ihren enormen globalen Herausforderungen knüpfen sich an Verfassungen und Verfassungsgerichte viele Hoffnungen. Dies zeige sich beispielsweise an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum deutschen Klimaschutz 2021, bemerkt Jestaedt. Gleichzeitig stünden Verfassungen heute deutlich stärker auf dem Prüfstand: "Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass es die Verfassung schon richten werde." In Polen etwa stehe eine neue Regierung vor der Frage, inwieweit der Einfluss der bisherigen Regierungspartei PiS auf das Verfassungsgericht wieder rückgängig gemacht werden könne.
Gerade die aktuellen Entwicklungen dokumentierten, dass Verfassungen und internationale Erklärungen nicht allein aus juristischer Perspektive zu verstehen sind. Darum plädieren Jestaedt, Leonhard, von Reden und ihre Mitforschenden dafür, Verfassung als Praxis zu betrachten. "Der Praxisbegriff hilft, das komplexe Gefüge von Normen nicht nur als das zu begreifen, was vor Gerichten passiert", sagt Leonhard, "sondern zu verstehen, wie sich der Umgang mit der übergreifenden Ordnung einer Verfassung in gesellschaftlichen Prozessen entwickelt hat, welche Erwartungen oder Enttäuschungen damit verbunden waren, wie mit Verfassungen und Verfasstheit umgegangen, wie sie instrumentalisiert oder kommuniziert werden. Wie und warum sich solche Prozesse über Epochen von der Antike bis zur Gegenwart verändert haben und wie sie sich in globaler Perspektive differenzieren lassen, steht im Mittelpunkt unserer interdisziplinären Forschungen."