DORTMUND. (hpd) Am 16. April feierte die Uraufführung "Der goldene Schnitt" im Studio des Schauspiel Dortmund Premiere. Das angekündigte "Fest rund um die Vorhaut" machte das Publikum als Fest-Gäste mit zum Bestandteil eines buchstäblich unter die Haut gehenden Abends.
Es ist ein großer Tag für Ismail. Oder eigentlich für seine Eltern – denn um die geht es zunächst. Ibrahim ist ein Anästhesist muslimischer Abstammung, seine Frau Judith, Urologin, stammt aus Sarajewo mit jüdischen Wurzeln (väterlicherseits). Die beiden sind festlich gekleidet und sichtlich aufgeregt.
Das Publikum, das u-förmig um die als Tanzfläche ausgestattete Bühne (Ausstattung: Ayşe Gülsüm Özel) sitzt, wird als Kollegium und Familie der beiden begrüßt. Der stolze Vater kündigt an, dass das Ereignis hier und heute in einer halben Stunde geschehen wird.
In der nun folgenden Zeitspanne von nicht mehr als einer Stunde informieren die Darsteller umfassend zum Thema der Genitalbeschneidung von Jungen. Es wirkt ein wenig konstruiert, dass die beiden Figuren, da sie Ärzte sind und in der urologischen Abteilung selbst täglich Beschneidungen vornehmen, detailliert schildern können, was bei einer Beschneidung geschieht. Sie sind also nicht nur die Eltern, die das Ritual angeordnet haben, sie sind täglich auch selbst diejenigen, die den chirurgischen Eingriff gemäß dem Elternwillen ausführen.
Aus seinem Erfahrungsschatz als Anästhesist gehen dann teilweise auch die Bedenken hervor, die Ibrahim irgendwann zu äußern beginnt: Narkose ist eine nicht ungefährliche Sache. Und Judith ist als Urologin tatsächlich darüber informiert, dass es zahlreiche Männer gibt, die sich ein Gerät zum Restoring (teilweise Wiederherstellung der entfernten Vorhaut) aus den USA besorgen, weil sie mit ihrer eigenen Beschneidung nicht klar kommen. Die Eltern werfen sich juristische, medizinische und ethische Argumente entgegen.
Während dieser Aspekt des Stücks dem Publikum sicherlich eine umfangreiche Vorbildung abverlangt und beim Erstkontakt mit dem Thema womöglich eher für Verwirrung sorgt, bekommt der Abend mit dem Auftreten des Sohnes einen ganz eigenen emotionalen Zug, der auf einer tieferen Ebene sein Ziel erreicht. Spätestens als Ismail (Nima Majedzadeh) selbst die Bühne betritt, geht das Konzept, das Publikum am Fest teilhaben zu lassen, voll auf.
Der als Prinz gekleidete Junge wird in einem roten Cabrio zu türkischer Party-Musik in den geschmückten Saal gefahren – das Publikum klatscht Beifall, nicht anders als es Familie und Freunde jedes Beschneidungs-Kandidaten in diesem Moment tun würden. Ismail begleitet seine wundervoll singende Mutter auf der Gitarre und er tanzt eine einstudierte Choreografie mit dem Vater. Er wird zu einer greifbaren Figur für den Zuschauer. Er ist jemand – und sagt doch nichts.
Er ist der Mittelpunkt des Beschneidungsfest und seine Textlosigkeit (genialer Kniff von Autor & Regisseur Tuğsal Moğul), zeigt, wo er damit steht: Er ist der, über den verhandelt wird, der, der symbolhaft eine Leerstelle ausfüllen, eine Lücke kitten soll, wie seine Mutter Judith es beschreibt. Seine Beschneidung soll Ismail einen Platz in seiner Herkunftsfamilie und ihr einen inneren Frieden geben. Schließlich ist es der Vater, der beginnt, empathisch vom Kind her zu denken und das Jahrtausende alte Ritual in Frage stellt. Er, dem es selbst widerfahren ist, kann dem Ganzen für sich selbst nichts Positives mehr abgewinnen und stellt klar fest: "Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich gesagt: nein. Ich will nicht beschnitten werden."
Das Ende des Stücks zeigt Ismail im zum Krankenhausbett umfunktionierten Auto im OP-Kittel liegend. Seine Mutter hält ihm die Hand, während auf einer Leinwand im Hintergrund eine rituelle Beschneidung an einem Jungen gleichen Alters gezeigt wird. In diesen Minuten herrscht atemlose Stille im Raum. Das Publikum, das Ismail noch vor einer halben Stunde applaudierend empfangen hat, schweigt. Einige Blicke gehen zu Boden, als sich das große Messer dem kleinen Penis des Jungen nähert. Als das Video zu Ende ist, steht Ismail auf und reißt mit einem Ruck die Party-Dekoration (Luftballons & Glitzergirlanden) von der Decke.
Der Beifall für die Darsteller und das Team ist wohlverdient. Es ist das Verdienst der herausragenden Darsteller Jasmina Musić und Murat Seven, die auf eine emotionale Reise besonderer Art mitnehmen. Obwohl die Positionen zur Frage Beschneidung des Sohnes – ja oder nein? - zuletzt nicht unterschiedlicher sein könnten, sind Mutter und Vater in ihren Sorgen und Nöten gleichermaßen zu verstehen. Man könnte sogar von einem komplexen Patt der Abwägungen sprechen. Einzig ins Wanken bringt diesen Gleichstand der Sohn. Er äußert sich nicht verbal, er verzieht keine Mine. Er ist der schweigende Spielball zwischen seinen Eltern und macht deutlich, dass es um einen Konflikt geht, der mit ihm selbst nicht das Geringste zu tun hat und letzten Endes auf seinem Körper ausgetragen werden soll.
Das Theater Dortmund gesteht dem Schauspiel nicht nur im aristotelischen Sinn eine kathartische Funktion zu, indem das Publikum Höhen und Tiefen mit durchlebt – das Theater übernimmt hier auch die so notwendige Aufgabe, eine Debatte zu befeuern und schafft gleichsam einen Raum, in dem die Kunst Gedanken fassen darf, die für die sog. Öffentliche Meinung und die Medien noch Zukunftsmusik sind.
14 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Beschneidungs-Positionen ja oder nein sind "gleichermaßen zu verstehen"? Will das Stück dies vermitteln? Erscheint mir sehr fragwürdig.
Irritiert hat mich bereits der Titel. Gibt es in dem Stück irgendeinen Hinweis auf dieses magische mathematische Verhältnis 1:0,618?
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Er ist der schweigende Spielball zwischen seinen Eltern und macht deutlich, dass es um einen Konflikt geht, der mit ihm selbst nicht das Geringste zu tun hat und letzten Endes auf seinem Körper ausgetragen werde
Das genau ist die Erklärung, warum dieser Barbarismus seit Jahrhunderten lebt. Würden die Opfer gefragt - wie der Vater sich fragt, leider zu spät - wäre nicht nur die Antwort anders, sondern niemand würde mehr heute in Betracht ziehen, dass es in Ordnung sei, einem Knaben gegen seinen Willen ein gesundes Stück seines Körpers abzuschneiden.
Wenn das Theaterstück diesen Punkt für das Publikum erfahrbar herausarbeitet, dann müssten 100% Beschneidungsgegner das Theater verlassen. Die Realität (der gezeigte Film) visualisiert dabei sicher das, was dem Jungen widerfährt. Wer das weiterhin goutiert, ist blind oder indoktriniert. Logisch nachvollziehbar ist die Beschneidungspraxis auf keinen Fall.
Ich wünsche dem Stück eine große, aufklärerische Kraft. Am 7. Mai ist Antibeschneidungsdemo in Köln (Start vor dem Landgericht)! Wer kann, soll kommen.
Lutz Herzer am Permanenter Link
"Man könnte sogar von einem komplexen Patt der Abwägungen sprechen."
Wenn es um eindeutige Menschenrechtsverletzungen geht, hat für mich ein "Patt der Abwägungen" nichts auf einer Theaterbühne verloren. Mich befremdet der Anflug von Optimismus in dieser Rezension. Sind das schon die ersten Anzeichen von Zermürbtheit nach bald vier Jahren faktischem Stillstand im Kampf gegen die Legalität der Jungenbeschneidung?
Theresa Fürst am Permanenter Link
.... eben drum ist es ja so großartig, dass ein schweigender Junge dieses rhetorische Konstrukt zum Einsturz bringt... wie gesagt: das kann nur das Theater. Und es ist lobend hervorzuheben, dass das Theater dies tut.
Lutz Herzer am Permanenter Link
Einen schweigenden Jungen als Ausdruck von Kritik am Beschneidungsritual brauche ich mir wahrhaftig nicht anzuschauen. Das Netz ist voll von „echten“ Videos mit weinenden und schreienden Jungen.
G. Schoner am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Herzer,
Sie haben nicht verstanden, wie Kunst und Theater funktionieren... Schade.
Fertige schwarz-weiß-Lösungen bekommen Sie von Religionen und anderen Ideologien vorgesetzt. Kunst jedoch verlangt vom Menschen: nachzudenken. Und dazu regt das Stück an.
G. Schoner
Lutz Herzer am Permanenter Link
...na dann denken Sie mal darüber nach, was Sie davon halten würden, wenn es in dem Theaterstück um eine Mädchenbeschneidung gehen würde.
Malte Reimann am Permanenter Link
Ich bin mir sicher, ein solches Stück über FGM produziert in einem Land, wo diese kulturell etabliert und akzeptiert ist wie vergleichsweise MGM hierzulande, würde von Frauenrechtlerinnen dort ebenso begrüßt werden.
Theresa Fürst am Permanenter Link
"Einer glitschigen Scheinkritik, produziert von Beschneidungsbefürwortern, die mit Jungenverstümmelung hauptberuflich ihr Geld verdienen, werde ich nicht auf den Leim gehen."
Lutz Herzer am Permanenter Link
Ich berichtige meine Vorhaltung, am Stück beteiligte Personen würden hauptberuflich ihr Geld mit Jungenverstümmelung verdienen.
Falls sich jemand durch meine Ausführungen verletzt fühlen sollte, können sie gelöscht werden. Ich würde mich auch mit temporären Meinungsäußerungen begnügen.
Theresa Fürst am Permanenter Link
Zunächst empfehle ich, sich dieses Schauspiel anzusehen und erst danach zu urteilen.
Verpackt in einen wissenschaftlichen Vortrag oder eine politische Rede erreicht diese Botschaft nur diejenigen, die dem Thema gegenüber bereits offen dastehen. Die Kunst ist in der Lage, die Menschen, die noch nicht darauf gestoßen sind, im richtigen Moment abzuholen wo sie stehen.
Und auch der Titel ist gut. Ziel ist, dass die Leute sich das Stück ansehen und dass sie sich berühren lassen. Nicht, dass sie mit verschränkten Armen und einer Weiß-ich-doch-alles-schon-Haltung dasitzen.
Beschneidungsgegner sind nicht die Zielgruppe dieses Abends, weil sie diesen Input gar nicht benötigen. Hingehen sollten alle, die nichts darüber wissen. Denn die werden beim nächsten Gespräch zu dem Thema emotional geschult sein und dementsprechend auf ihre Umgebung einwirken. Und wenn es dann heißt "Ein Fest rund um die Vorhaut" gehen mehr Leute rein, als wenn es etwa "Gewalt gegen Kinder" hieße. Oder?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Inwiefern ist der Titel gut bzw. spräche er alle an, die nichts über die männliche Genitalverstümmelung wissen?
Ich bin es immer noch.
René am Permanenter Link
Tja, Theater scheint wirklich schwer zu verstehen.
Zum Begriff "Der goldene Schnitt": Die mathematische Bedeutung dieses Begriffes ist glaube ich nicht so vielen Menschen bekannt, wie einschlägig Denkende vermuten mögen. Diese leichte Irritierung über den "Missbrauch" ihres Fachbegriffs würde ich gelassen in Kauf nehmen. Ich denke die meisten Nichtmathematiker haben eine vage Ahnung, dass es sich beim goldenen Schnitt um etwas irgendwie Raffiniertes oder Schönes handelt. Und genau mit solchen "Werten" wird ja wohl auch das Thema Beschneidung von Religiösen belegt. Das ist ein künstlerisches Spiel mit Worten und dem, was die Masse mutmaßlich damit verbindet. Es ist meines Erachtens keine unzulässige Falschanwendung eines Fachbegriffs. Ich finde die Entleihung des Begriffes für den Zweck gelungen.
Ich kenne das Theaterstück nicht, kann aber trotzdem die gekünstelte Empörung einiger hier nicht nachvollziehen. Ein Theaterstück ist erstmal ein Stück Fiktion, in dem es darum geht, eine emotionale Beziehung zu den Charakteren aufzubauen, um von der inhaltlichen Intention der Aufführung umso tiefer getroffen werden können. Das ist kein kritischer Vortrag, in dem sachlich und trocken mit dem Zeigefinger gewedelt wird.
Ich hoffe, dass das Theaterstück einen Teil dazu beiträgt, die Debatte erneut zu beleben.
Lutz Herzer am Permanenter Link
"Dass es darum geht, Menschen hinein zu locken, ohne ihnen die Quintessenz des Stückes am Eingang als Ohrfeige mitzugeben, ist offensichtlich nicht für jeden hier nachvollziehbar."
Jeder Besucher des Stückes muss sich bereits am Eingang darauf einlassen, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Menschenwürde aus Artikel 1 des Grundgesetzes verhandelbar sein sollen. Der Gewöhnungsprozess der Gesellschaft an diese Verhandelbarkeit ist die eigentliche Intention, die mit dem Stück verfolgt wird. Aber scheinbar leben wir in einer Zeit, in der Theater für alles gut sein soll, Hauptsache Theater. Hauptsache aristotelische Katharsis, selbst wenn dazu sogar der Penis eines kleinen Jungen herhalten muss. Was kommt als nächstes?