Die Menschenwürde in der Bibel

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Es ist eine der stärksten Ideen des Christentums: Die Würde des Menschen wurde angeblich von Gott verliehen und sei deshalb unverlierbar. Selbst unser Grundgesetz nimmt Bezug auf Gott, indem es in seiner Präambel formuliert, dass der Mensch sich vor ihm verantworten müsse – als vermeintlich letztes Bollwerk gegen Willkür und Gewalt.

Christen berufen sich hierbei gerne auf die Genesis. Doch liest man darin weiter, folgt unmittelbar der unbarmherzige Rauswurf aus dem Paradies, die Verfluchung aller Menschen und ihre fast völlige Vernichtung durch die Sintflut. Schon diese wenigen Beispiele legen nahe, dass auf diesen Gott offenbar wenig Verlass ist – ganz im Gegensatz zu dem, was in Sonntagsreden gerne behauptet wird.

Das zentrale Versprechen unseres Grundgesetzes, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, kommt in der Bibel nicht vor. Während das Grundgesetz jedem Menschen explizit und bedingungslos einen Anspruch und eine Garantie zusichert, macht die Bibel unmissverständlich klar, dass der Mensch jederzeit und aus beliebigen Gründen in Ungnade fallen kann. Und wer sich mutig dagegen auflehnt, den trifft Gottes Zorn als erstes — und als zweites seine Kinder, wie man uns vorsorglich im ersten der Zehn Gebote mitteilt.

Man mag darüber den Kopf schütteln und rätseln, warum ausgerechnet ein biblischer Mythos als moralischer Kompass für unser Grundgesetz dienen soll. Haben wir wirklich nichts Besseres? Etwa den Evolutionären Humanismus, der neue Erkenntnisse nicht ignoriert oder gar bekämpft, sondern begrüßt? Der nicht eifersüchtig den Status Quo verteidigt, sondern sich ehrlich um Verbesserung bemüht?

Doch alles Kopfschütteln ändert nichts daran, dass viele Menschen der Ansicht sind, nur eine himmlische Aufsicht könne den Menschen im Zaume halten. In guten Zeiten mag unsere Vernunft ausreichen — ja, das bestreiten auch Christen nicht. Aber was geschieht, so fragen sie, wenn die Vernunft versagt?

Schöpfungslegende bis heute relevant

Die Schöpfungslegende der Genesis bleibt dadurch bis heute relevant, ob einem das gefällt oder nicht. Obwohl ihre zentralen Behauptungen längst historisch und naturwissenschaftlich widerlegt wurden, besitzt die Erzählung insgesamt eine Widerstandskraft, die sie scheinbar immun gegen rationale Einwände macht.

Deswegen lohnt es sich für säkulare Humanisten, sich eingehender mit der Genesis zu beschäftigen: Wann sind diese Texte entstanden, durch welche Autoren, mit welcher Absicht? Wie erklärt sich der verblüffende Kontrast zwischen den anfangs noch poetischen Dichtungen und den späteren Grausamkeiten?

Tatsächlich ist die Entstehungsgeschichte der Texte sehr interessant. Die frühen Erzählungen der Genesis schöpften noch aus den Fantasien und Legenden der umliegenden Kulturen, ohne den Anspruch, exakte Fakten zu vermitteln. Dieser Anspruch kam erst später hinzu, als sich eine egoistische Priesterkaste bildete, die sich vor allem um ihre eigenen Privilegien sorgte, und die deswegen darauf bestehen musste, im alleinigen Besitz der einzigen Wahrheit zu sein. In den frühen Texten ist ein solcher Anspruch noch nicht zu finden.

Seitdem sind Jahrtausende vergangen. Die Idee einer unverlierbaren Menschenwürde gelangte erst spät in das Scheinwerferlicht des Christentums. Es hat diesen Gedanken nicht erfunden, auch nicht entwickelt und schon gar nicht durchgesetzt. Erst nachdem das Christentum die Phase der westlichen Aufklärung durchschritten hatte, widerwillig und trotzig, und erst nachdem der Humanismus den Menschen seine Rechte zurückgab, die nicht von der Gnade einer Gottheit abhingen — erst dann formte sich die Menschenwürde zu dem, was wir heute kennen.

Die Idee einer unverlierbaren Menschenwürde ist so grandios, so blendend schön, so strahlend einfach und zugleich so weise, dass heutige Christen ganz selbstverständlich glauben, genau so müsse sie schon immer in der Bibel gestanden haben – denn nur ein strahlend schöner und unendlich weiser Gott könne solch einen Gedanken erdacht haben. Die tapferen Ketzer, Aufklärer und Humanisten, die dafür auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, würden staunen, wenn sie wüssten, dass es heute ausgerechnet Christen sind, die sich diese Errungenschaft zu eigen machen – und dann in gönnerhaften Worten den Atheisten erklären, was Menschenwürde bedeutet, und dass der Gottlose sie durch seine Gottlosigkeit gefährdet.

Die Idee einer unverlierbaren Menschenwürde gelangte erst spät in das Scheinwerferlicht des Christentums. Es hat diesen Gedanken nicht erfunden, auch nicht entwickelt und schon gar nicht durchgesetzt.

Obwohl das Christentum auf den Humanismus zugegangen ist, unterscheiden sich die Vorstellungen fundamental. Das düstere Gemälde mit dem sündigen Menschen, der zu nichts Gutem fähig ist (Luther: "Der Mensch ist von Natur aus nur böse", WA 56), bekam vom Christentum lediglich einen hübschen Bilderrahmen spendiert. Der alte Inhalt blieb unverändert, die neue Idee der Menschenwürde damit folgenlos.

Denn genau hier liegt der Unterschied zwischen Menschenwürde und Menschenrecht: Nur ein verbrieftes Recht macht aus der Würde eine echte Währung, die jeder Mensch einlösen kann. Christliche Theologen stimmen der Idee der Würde nur zu, weil mit ihr nicht gleichzeitig ein Recht verknüpft ist. Gegenüber Gott bleibt der Mensch rechtlos, er bleibt ewig auf Gnade angewiesen. Und kein Theologe wird jemals die Gnadenlehre aufgeben, diesen bösen Fluch, der die Menschen nicht aufrichtet, sondern niederdrückt.

Der säkulare Humanismus fordert das Gegenteil: Der Mensch braucht Würde, Recht und Schutz — gemeinsam und untrennbar. Nur in dieser Kombination wird aus einer wohlfeilen Floskel ein stabiles Fundament, auf dem sich alle Bürger sicher bewegen können. Diese Kombination ist eine große säkulare Errungenschaft, hart erkämpft, bitter bezahlt und unermesslich wertvoll.

Veranstaltungslogo

Der Autor hält am am 30. April um 19 Uhr in der Universität Freiburg einen Vortrag zum Thema "Die Menschenwürde in der Bibel". Gastgeber ist die Giordano-Bruno-Stiftung Freiburg​​​​​​. Alle Infos finden Sie auf dieser Webseite.

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