Artikelreihe zum 200. Geburtstag (Teil 2)

"Mythos Marx"?

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Karl Marx

Vor 15 Jahren veranstaltete die Thomas-Dehler-Stiftung ein öffentliches Streitgespräch zu "Karl Marx und den Folgen" zwischen dem konservativen Politologen Konrad Löw und dem humanistischen Philosophen Michael Schmidt-Salomon. Zum 200. Geburtstag von Karl Marx dokumentiert der Humanistische Pressedienst einen der Vorträge, die Schmidt-Salomon 2003 in Nürnberg gehalten hat. Teil 1 der Artikelserie schildert Marxens Leben und Wirken in einer Zeit des Umbruchs, Teil 2 die Bedeutung der Hegelschen und Feuerbachschen Philosophie für das Marxsche Denken und Teil 3 die ambivalente Logik des marxistischen Weltbildes. Im abschließenden vierten Teil der Serie geht es darum, den Menschen Marx und sein Werk jenseits aller Mythenbildungen fair zu beurteilen.

2. Hegel und Feuerbach: die philosophischen Vorläufer des Marxismus 

Man kann die Philosophie des Marxismus schwerlich begreifen, wenn man dabei die beiden philosophischen Systeme außer Acht lässt, auf die Marx bei der Entwicklung seines eigenen Denkansatzes vornehmlich zurückgegriffen hat, nämlich die dialektische Geschichtsphilosophie Hegels sowie die materialistische Anthropologie Ludwig Feuerbachs.

Beginnen wir mit Hegel: Hegel zufolge fußt die Entwicklung der Vernunft in einer permanenten Abfolge von Widersprüchen, die überwunden werden und so für steten Fortschritt sorgen. Grundlegend für diesen Prozess ist die sog. "dialektische Triade" von These, Antithese und Synthese, bzw. von Position, Negation und Negation der Negation. Fortschritt ist in diesem Denksystem geradezu unvermeidlich, da das Bessere als Feind des Guten gilt. Enden kann der Prozess des Fortschritts erst, wenn keine Verbesserungen mehr möglich sind. Da nach Hegel alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig ist, fällt die Entwicklung der Wirklichkeit mit der Entwicklung der Vernunft zusammen. So verfügt jede Zeit über den Grad an Wahrheit, der ihr entspricht. Da Hegel all dies erkannt und auf den Begriff gebracht zu haben glaubt, wähnt er sich nicht nur auf der Höhe des geschichtlichen Wahrheitsentfaltungsprozesses, er glaubt auch, das endgültige philosophische System geschaffen zu haben, in dem alle Widersprüche aufgehoben und aufs Trefflichste miteinander versöhnt sind. Näher als er, meint Hegel, auch wenn er es nicht verbis expressis ausspricht, könne man dem Absoluten, dem Weltgeist oder Gott nicht kommen. Im Umkehrschluss bedeutet dies auch, dass der Staat, der den Meisterdenker Hegel hervorgebracht hat, selber auch einen Höhepunkt in der menschlichen Geschichte darstellen muss. In der Tat ist Hegel davon überzeugt, dass der aufgeklärt-monarchistische preußische Staat im Grundkern kaum noch verbessert werden könne und daher gewissermaßen einen Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung markiert.

Nun zu Feuerbach. Im Zentrum der Feuerbachschen Philosophie steht nicht mehr der absolute Geist Hegels, sondern der konkrete sinnliche Mensch, der sich den absoluten Geist denkt, um auf diese Weise den Schmerz und die Vereinzelung der eigenen Lebensexistenz zu überwinden. Feuerbachs Philosophie ist von Grund auf materialistisch, d. h. hier prägen nicht mehr die Ideen den Menschen, der Mensch, der sich in der Natur und der Gesellschaft behaupten muss, ist der Schöpfer seines eigenen ideologischen Überbaus. Für Feuerbach ist deshalb klar, dass nicht Gott die Menschen geschaffen hat, sondern umgekehrt: die Menschen haben Gott erschaffen, um sich durch die Fabrikation eines Schöpfers selbst Sinn zu verleihen. Religion gilt Feuerbach als falsche Antwort auf durchaus richtig gestellte Fragen. Sie fesselt den Menschen, indem sie verspricht, die Kluft zu überwinden, die zwischen dem Ich und dem Du existiert. Die Überwindung dieser Kluft ist für Feuerbach geradezu ein Signum echter Menschlichkeit, da das Wesen des Menschen nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten sei. Empathisch formuliert er: "Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); Mensch mit Mensch – die Einheit von Ich und Du ist Gott."10

Feuerbach will – das ist wohl die Quintessenz seiner gesamten Philosophie – an die Stelle der illusionären, religiösen Brücke zur Gattung eine echte Verbindung stellen. Da der illusionäre Umweg über Gott nicht mehr notwendig ist, formuliert er die Grundsätze einer säkularen Religion der umfassenden Menschenliebe, die in vielerlei Hinsicht die Gedanken humanistischer Autoren des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt.15

2.1 Marx' Revision der Hegelschen Geschichtsphilosophie und des Feuerbachschen Materialismus

Schauen wir uns nun an, wie Marx die Systeme Hegels und Feuerbachs in seinen eigenen Denkansatz integrierte. Von Hegel übernahm er die Vorstellung, dass die Geschichte dialektisch zu einem Zustand voranschreitet, der nicht mehr verbesserungsfähig ist, weil in ihm alle Widersprüche der vorangegangenen Epochen aufgehoben sind. Allerdings stellte Marx diese Konzeption Hegels "vom Kopf auf die Füße". Das heißt: Für Marx war dieser Prozess nicht auf philosophische Ideen und schon gar nicht einen imaginären, sich entwickelnden Weltgeist zurückzuführen, sondern auf die konkreten Widersprüche, die in der Lebenspraxis der produzierenden und konsumierenden Individuen auftreten. An die Stelle der ideellen Fortschrittsfaktoren These, Antithese und Synthese treten somit die materiellen, politisch-ökonomischen Verhältnisse, die von Widersprüchen geprägt sind und somit die menschliche Geschichte solange vorantreiben, bis sie im Endstadium des kommunistischen "Reichs der Freiheit" vollständig aufgehoben sind.

Jede geschichtliche Epoche basiert nach Marx auf spezifischen systemimmanenten Widersprüchen (Klassengegensätzen), die ihre Ursachen in den jeweils spezifischen Produktionsverhältnissen haben. Ab einem bestimmten Punkt sind die Produktivkräfte aufgrund einer fortschreitenden Rationalisierung der Produktion (dank immer effektiverer Maschinen und Produktionsabläufe) so weit entwickelt, dass sie die überkommenen politischen Verhältnisse sprengen müssen, damit weiterer Fortschritt möglich ist. Mit dieser Umwälzung an der materiellen Basis geht eine rasche Veränderung des ideologischen Überbaus einher. So wurde das hierarchische Modell des Feudalismus, in dem alles Gute sprichwörtlich von oben kam und Demokratie undenkbar war, im Kapitalismus mehr und mehr ersetzt durch die Ideologie des freien Marktes, die außer dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage keine weiteren Kontrollinstanzen zulässt. Die Marktideologie durchdringt zunehmend alle gesellschaftlichen Teilbereiche und bestimmt auch immer mehr das Denken und Empfinden der Menschen.

Während bei Hegel der damalige preußische Staat als geschichtsnotwendiges Idealbild des Staates überhaupt gedeutet wird, blickte Marx über die Gegenwart hinaus. Die Zukunft wurde ihm zur Verheißung einer weltgeschichtlichen Erlösung, eines "Reichs der Freiheit", in dem alle Widersprüche früherer Epochen aufgehoben sind. Warum? Weil die Proletarier mit ihrer Revolution nicht nur sich selber befreien, sondern auch die Kapitalisten, die – so wird unterstellt – selbst unter den kapitalistischen Verhältnissen leiden, da diese Verhältnisse sie von ihrer Gattung entfremdet und zu einem Leben als vereinzelte Egoisten verdammt haben.

Diese merkwürdige Konzeption wird nur verständlich, wenn man sich die zugrundeliegende anthropologische Konzeption Feuerbachs vor Augen führt. Wie gesagt: Der Mensch war für Feuerbach nur dann wahrhaft Mensch, wenn er sich im Mitmenschen erkennen konnte, wenn er in eine liebende Verbindung mit ihm trat. Marx nahm diese Vorstellung in sein Konzept auf. Auch für ihn ist der Mensch nur dann Mensch, wenn er von seinen Mitmenschen nicht entfremdet ist. Ausgehend von der aus der Religionskritik gezogenen Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, gibt es nach Marx nur noch einen kategorischen Imperativ, der unbedingt Beachtung finden muss – und dieser verlangt "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist ..."11 Marx hat diesen pathetisch klingenden, ethischen Imperativ nie aufgegeben. Er ist für seine gesamte Lehre ebenso grundlegend wie die Vorstellung, dass der Mensch sich nur dann voll entwickeln könne, wenn er nicht in scharfe Konkurrenz zu seinen Mitmenschen tritt. Vor allem in den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten"12 von 1844 kommt dieser humanistische Aspekt des Marxschen Denkens deutlich zum Tragen. Dort entwickelte Marx erstmalig seine am sinnlichen Individuum orientierte Vorstellung von einer "wahren Tätigkeit", die er den entfremdeten Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise entgegengestellt. 

Obgleich Marx diesen ethischen Ansatz niemals aufgab, geriet er dennoch in seinen späteren Werken zunehmend in den Hintergrund. Warum? Weil sein deterministisches Geschichtsmodell ethische Appelle mehr oder weniger überflüssig machte. Durch eine erneute intensive Beschäftigung mit Hegel avancierte Marx zum Antimoralisten. Die konkreten Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Leidenschaften der Menschen begriff er als notwendigen Ausdruck spezifischer historischer Existenzformen, die ihrerseits durch die jeweiligen sozioökonomischen Bedingungen hervorgebracht werden. Der Kapitalist konnte den Proletarier nicht lieben und umgekehrt. Beide waren Marionetten des jeweiligen historisch vermittelten Klasseninteresses. Moral predigen half da wenig. Marx konnte weder den Kapitalisten noch den Aristokraten oder den Klerus moralisch verurteilen. Seiner Meinung nach verhielten sich die Akteure im gesellschaftlichen Spiel exakt so, wie sie sich auf dem erreichten Entwicklungsstand der Produktivkräfte verhalten mussten.

Statt moralische Appelle zu verfassen, versuchte Marx daher die Dynamik zu ergründen, die die Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft seiner Meinung nach so weit hochschaukeln würden, dass die Klasse der Proletarier das Ruder letztlich übernehmen müsste. Dies wiederum sollte nach Marxschem Verständnis nicht nur das Ende der kapitalistischen Lohnausbeutung bedeuten, sondern auch das Ende von Religion, Staat und Moral. All diese Ideologien und Systeme, die – so Marx – in letzter Instanz keinem anderen Zweck dienten, als antagonistische Klasseninteressen zu verschleiern, sollten in der klassenlosen Gesellschaft absterben.


Anmerkungen:

10 Feuerbach, Ludwig (1950): Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: Feuerbach, Ludwig: Kleine philosophische Schriften (herausgegeben von Max Gustav Lange). Leipzig, S. 169.

11 MEW, Bd.1, S. 385.
12 MEW, Bd.40, S. 467 ff.

15 siehe Karl Marx "Bekenntnisse" In: Erinnerungen an Karl Marx. Berlin 1953, S. 241 .