In der Leipziger Internetzeitung werden unter dem Titel "Wenn Leipziger träumen" Einwohner gebeten, ihre Wünsche für die Zukunft der Stadt und auch des Landes zu benennen. Mit dabei: Die Sprecherin der gbs Leipzig, Jana Steinhaus.
Manchmal öffnet eine Dystopie den Menschen mehr die Augen als eine Utopie. Ich beschreibe daher meinen – nein: unser aller – Albtraum:
Wir schreiben das Jahr 2045 und der religiöse Rollback hat Leipzig und die ganze Republik verändert. Das neue Leipziger Rathaus ist umringt von Gotteshäusern. Nachdem die Stadt eines ihrer Filet-Grundstücke für den Bau der neuen Propsteikirche an die Katholische Kirche verkauft hatte, forderten auch andere Religionsgemeinschaften einen solchen prominenten Platz im Stadtzentrum ein. Beim Land erstritten sie sich hierfür auch noch großzügige Finanzspritzen. Das Bundesverfassungsgericht half ihnen dabei, indem es auf die bereits bestehenden "Kirchenbaulasten" der Länder verwies und auf den Gleichbehandlungsgrundsatz pochte.
Im Jahr 2045 werden Schüler im staatlichen Religionsunterricht nach noch mehr Konfessionen aufgeteilt als bisher und Religionen werden darin weiterhin als "bestehende Wahrheit" (!) vermittelt – natürlich auf Steuerzahlerkosten. Dass Philosophie, Logik, Rationalität und kritisches Denken die Kinder besser gegen religiösen Fundamentalismus wappnen würde, wird von der Politik weiterhin nicht in Betracht gezogen.
Auch haben zwar immer noch nicht alle Leipziger Schulen funktionierende Toiletten, dafür müssen sie aber immer öfter schließen, um ihre Räume den Teilnehmern religiöser Missionierungsfeste als Schlafstätten zur Verfügung zu stellen. Auch Barzuschüsse zahlen Stadt, Freistaat und Bund nun nicht mehr nur an Katholiken- sowie (evangelische) Kirchentage, sondern auch für sunnitische, schiitische, alevitische, hinduistische, buddhistische, taoistische und weitere religiöse Sommerfeste. Nur Organisationen wie die International Humanist and Ethical Union (IHEU) oder die Atheist Alliance International (AAI) erhalten weiterhin keine Förderung.
Während 2017 "lediglich" die Interkulturelle Woche mit einer "interreligiösen Eröffnungsfeier" im Rathaus (!) startete und das Stadtfest seine Bühne kostenlos für Gottesdienste zur Verfügung stellte, wird nun auch jede Stadtratssitzung gleich von mehreren Geistlichen eröffnet.
Das Paulinum trägt nun nicht mehr nur den Zusatz "Aula – Universitätskirche St. Pauli", sondern "Multireligiöser Gebetssaal: Kirche. Moschee. Synagoge. Bethaus. Hindutempel. Bahai-Schrein. Pagode." Nanu, fehlt da nicht die "Aula"? Tja, vor lauter falschverstandener "religiöser Toleranz" kann die Universität das Paulinum kaum noch als Aula nutzen. Daher hat man der Universität die alte, baufällige Propsteikirche aus DDR-Zeiten als Aula zugewiesen. So wiederholt sich Geschichte – nur mit umgekehrten Vorzeichen.
Stadt und Freistaat nehmen ihre sozialen Aufgaben kaum noch selbst wahr, sondern haben fast alle Aufgaben auf freie Träger übertragen. Diese sind überwiegend in religiöser Hand. In Altenheimen wird nun nicht mehr nur evangelisch oder katholisch gepflegt und geputzt, sondern auch sunnitisch, schiitisch, etc. Sie kennen die Liste ja schon. Natürlich werden auch diese neuen konfessionellen Anbieter wie bisher zu 98 Prozent aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen finanziert – also auch von den Konfessionsfreien, die im Jahr 2045 über die Hälfte der Bevölkerung stellen. Trotzdem können die konfessionellen Träger von ihren Mitarbeitern verlangen, dass sie der jeweiligen Religionsgemeinschaft angehören und sich entsprechend ihrer Moral-Standards verhalten. Chefärzte können nun nicht mehr nur entlassen werden, weil sie nach einer Scheidung wieder heiraten wollen, sondern z.B. auch, weil sie ein nicht-koscheres Schweine-Herz nicht in östlicher Richtung bei der Organtransplantation eingesetzt haben. 2018 hat das Bundesverfassungsgericht auch die Verfassungsbeschwerden gegen das inhumane Sterbehilfe-Verhinderungsgesetz abgelehnt, obwohl 86 Prozent der Bevölkerung für das Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende sind. Für Abtreibungen oder die "Pille danach" müssen Frauen inzwischen ins progressive Tschechien fahren.
Nach dem 2017 der Hassprediger Martin Luther mit einer viertel Milliarde Euro an Staatsgeldern gefeiert wurde, wird es auch 2019 ein Jubiläum geben: Seit 100 Jahren werden Bund und Länder gegen ihren Verfassungsauftrag verstoßen, endlich die Staatsleistungen an die Kirche einzustellen. Im Gegenteil: Die Zahlungen werden sich bis 2045 sogar vervierfacht haben, da sie seit 1993 trotz sinkender Mitgliederzahlen der Kirchen ständig steigen. Und sie wurden bis 2045 ausgeweitet auf andere Religionsgemeinschaften – aber nicht nur muslimische, wie so mancher Abendland-Schützer nun denken mag. Unter Verweis auf das Diskriminierungsverbot hat der Staat die Privilegien der christlichen Kirchen nicht etwa abgebaut, sondern auf zahlreiche Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften übertragen. Bereits 2017 gab es über 70 verschiedene Konfessionen in Leipzig. Während die Zahl religiöser Menschen in Deutschland also sinkt, nimmt die Anzahl der verschiedenen Konfessionen und ihr Einfluss auf die Politik in der "Kirchenrepublik Deutschland" wieder zu.
Erstveröffentlichung: Leipziger Internetzeitung
3 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Na, Jana - das ist doch großenteils keine Dystopie von 2045, sondern (leider) schon jetzt erschreckende Realität. Wenn das so weitergeht...
Klaus Bernd am Permanenter Link
Ein interessantes Szenario, das ich aber fast schon nicht mehr für einen Albtraum sondern für etwas zu optimistisch halte; ich glaube, dass wir 2045 dem Szenario, das Boualem Sansal (Friedenspreis des Deutschen Buchha
1. Der Anteil der Atheisten – jedenfalls der bekennden Atheisten - wird gegen Null gehen. Deutschland wird dem Beispiel Ägyptens gefolgt sein und - ganz im Sinne des Fuldaer Bischofs Algermissen - Atheismus wieder zum Straftatbestand gemacht haben.
2. Der ökumenische Kuschelkurs wird keinen Bestand haben, wenn die Ressourcen knapp werden. Ob es nun die Grundstücke in den Innenstädten sind oder der Geldtopf an Steuermitteln. Selbst wenn die Großkonzerne des Esoterik-Business ihre fundamentalen Differenzen in Glaubensfragen in „versöhnter Verschiedenheit“ unter den Teppich kehren, wenn es ums Geld geht, verstehen sie keinen Spass. Die katholische Kirche wird sicher schon bald ein Äquivalent zu den 250 Millionen für die Lutherdekade einfordern. Auch wenn die „Versöhnung“ ja sogar soweit geht, dass der Vatikan eine Luther-Briefmarke herausgegeben hat. (Es war leider nur Platz für seinen Kopf, es wäre aber ganz passend gewesen z.B. in einer Sprechblase ein paar der derben Ausdrücke zu zitieren, die Luther für den Papst gebrauchte.)
Also - im Ernst - ich weiß nicht, ob es gelingen wird, dass der Islam „seine Spiritualität, seine wichtigste Kraft, wiederfindet“ und ihn/sich zu „befreien, entkolonisieren, sozialisieren.“ (B.S. und andere) oder ob sich im Gegenteil die christlichen Religionen im Bund mit Traditionalisten und Nationalisten wieder radikalisieren werden und wir dann - wie heute schon viele Staaten auf der Welt - in Religions-Bürger-Kriegen stecken.B.S. geht in 2084 davon aus, dass die Islamisten diese Auseinandersetzungen gewinnen.
Kaum notwendig zu erwähnen, dass auch gegen ihn längst eine Fatwa ausgesprochen wurde. Eher notwendig, der vielen Unbekannten zu gedenken, die von einer Fatwa bedroht werden oder ihr schon zum Opfer gefallen sind. Die kopftuchschwenkende Iranerin dürfte leider die nächste auf der Liste sein.
Resnikschek Karin am Permanenter Link
Wie erfrischend! Wenn man seit 50 Jahren als Theologin/Ex-, Ethiklehrerin und HVDlerin gegen Gotteswahn und Gottesrepublik kämpft, vergeht einem sonst das Lachen. Danke!