Nach Durchsicht des Koalitionsvertrages "Verantwortung für Deutschland" wirft Projekt 48 Union und SPD "religionspolitische Orientierungslosigkeit" vor und fordert ein Neutralitätsgesetz sowie eine Meldestelle für religiöse und weltanschauliche Unduldsamkeit.
"Der Koalitionsvertrag weist große Defizite auf, was die Gleichbehandlung aller religiösen und weltanschaulichen Strömungen angeht", so die Vorsitzende Nicole Thies. "Trotz einer sich rasant verändernden Gesellschaft vertreten die zukünftigen Regierungsparteien auf dem Gebiet der Religions- und Weltanschauungspolitik ein Konzept des vollständigen Stillstands." Weder das Religionsverfassungsrecht solle weiterentwickelt werden noch seien irgendwelche Schritte geplant, bestehende Ungleichheiten zu beseitigen.
Konkret spricht Projekt 48 an, dass das diskriminierende und europäischen Standards widersprechende kirchliche Arbeitsrecht offenbar nicht geändert werden soll. Besonders kritisch sieht der Menschenrechtsverein, dass die zukünftige Regierungskoalition beim Thema "Islam" keinerlei gesellschaftspolitische Ansätze erkennen lässt und stattdessen bestehende kulturelle Differenzen und Konflikte auf ein ordnungspolitisches Problem reduziert. "Das ist sehr weit entfernt von unserem Verständnis von moderner Religionspolitik", meint Nicole Thies. Projekt 48 schlägt stattdessen die Einführung eines Neutralitätsgesetzes als nachhaltige Grundlage für die Sicherung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit vor.
Während vor gut drei Jahren im Koalitionsvertrag der "Ampelparteien" wenigstens einige Projekte in Aussicht gestellt waren, die auf Veränderungen abzielten, ist diesmal nichts dergleichen vorgesehen. Veranschaulichen lässt sich dies beispielsweise mit den Aussagen zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Seit dessen Einführung monieren Expert:innen, dass Paragraf 9 im Widerspruch zur Intention der einschlägigen EU-Richtlinien stehe. So war es folgerichtig, dass eine Koalition, die mit dem Leitspruch "Mehr Fortschritt wagen" antrat, konkret vereinbarte, zumindest zu prüfen, "inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden" könne. In der Vereinbarung von Union und SPD taucht dieser Punkt hingegen nicht mehr auf. Es ist nur noch sehr vage von einer "AGG-Reform" die Rede: Die Koalitionspartner wollen den Diskriminierungsschutz "stärken und verbessern" (Seite 92). Konkrete Schritte werden nicht benannt.
Nicht nur an diesem Beispiel zeigt sich, dass die Privilegierung der beiden großen christlichen Kirchen gegenüber anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, aber auch gegenüber allen sonstigen zivilgesellschaftlichen Kräften vollumfänglich aufrechterhalten werden soll. Als Fortschritt könnte lediglich gedeutet werden, dass offenbar nicht angestrebt wird, weitere Religionsgesellschaften mit dem privilegierten Status einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts auszustatten (zumindest wird im Koalitionsvertrag diesbezüglich keine Überlegung angestellt, die dann an die dafür zuständigen Bundesländer herangetragen werden könnte).
Am deutlichsten wird die religionspolitische Orientierungslosigkeit der voraussichtlichen zukünftigen Regierungskoalition am Thema "Islam". Zu diesem Themenbereich, zu dem eine kontroverse öffentlichen Debatte stattfindet, bietet die Vereinbarung von Union und SPD keine Zukunftsperspektive. Gesellschaftspolitische Ansätze, wie einerseits die Ausgrenzung von Muslimen verhindert und gleichzeitig der islamischen Rechten etwas entgegengesetzt werden kann, fehlen völlig. Stattdessen reduziert die Koalition die Frage, wie kulturelle Differenzen und Konflikte erfolgreich bearbeitet werden könnten, auf ein ordnungspolitisches Problem: Dementsprechend wird im Abschnitt über Extremismusbekämpfung ein ständiges Gremium im Bundesinnenministerium angekündigt ("Task Force Islamismusprävention"), das "sich umfassend mit diesem Phänomenbereich" beschäftigen soll (Seite 85).
Positiv ist zu bewerten, dass die Arbeit des Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religions- und Weltanschauungsfreiheit Fortsetzung finden soll (Seite 135). Allerdings wäre diese Arbeit wahrscheinlich glaubwürdiger, wenn sich in Deutschland selbst eine moderne, auf die Gleichbehandlung aller religiösen und weltanschaulichen Strömungen ausgerichtete Religionspolitik durchsetzen würde. Projekt 48 fordert dafür die Einführung eines Neutralitätsgesetzes sowie eine Meldestelle für religiöse und weltanschauliche Unduldsamkeit, wohin Betroffene ihre Erfahrungen übermitteln können.
