Der aktuelle Report von Amnesty International zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe der weltweiten Hinrichtungen dokumentiert für 2022 mindestens 883 Hinrichtungen in 20 Ländern – die höchste Anzahl von gerichtlichen Hinrichtungen seit 2017.
Erhängen, Enthaupten, Giftinjektion oder Erschießen: mindestens 883 Menschen in 20 Ländern wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International im Jahr 2022 auf diese Weise hingerichtet. 90 Prozent der weltweit registrierten Hinrichtungen wurden von nur drei Ländern in der Region Naher Osten und Nordafrika durchgeführt. Die Zahl der erfassten Hinrichtungen im Iran stieg von 314 in 2021 auf 576 in 2022. In Saudi-Arabien verdreifachte sich die Zahl von 65 in 2021 auf 196 in 2022, dort wurden an nur einem einzigen Tag 81 Menschen exekutiert. In Ägypten wurden 24 Menschen hingerichtet.
Wie in den Jahren zuvor, fehlen in dieser Bilanz des Grauens die Angaben aus China, Nordkorea und Vietnam, wo vermutliche tausende Todesurteile vollstreckt wurden. Die Regierungen dieser drei Staaten halten Angaben zur Todesstrafe unter Verschluss und behandeln sie als Staatsgeheimnis. Eine unabhängige und genaue Überprüfung ist unmöglich. Doch Amnesty International geht davon aus, dass in China nach wie vor weltweit die meisten Hinrichtungen stattfinden. Menschenrechts-Beobachter gehen von Tausenden aus.
Todesstrafe für "Feindschaft zu Gott"
In zahlreichen Staaten wird die Todesstrafe als Instrument staatlicher Repression gegen Minderheiten und Demonstrierende eingesetzt, etwa im Iran. Die UN geht davon aus, dass in diesem Jahr bereits insgesamt mindestens 209 Menschen im Iran hingerichtet wurden, unter anderem wegen vage formulierter Anklagepunkte wie "Feindschaft zu Gott". Erst vor wenigen Tagen, am 8. Mai, waren in einem Gefängnis in der Stadt Arak zwei Männer wegen "Beleidigung des Propheten Mohammed und andere Blasphemien einschließlich der Verbrennung des Koran" hingerichtet worden. Nach Angaben der US Commission on International Religious Freedom waren die beiden Männer seit März 2020 in Haft. Unter welchen Umständen das Geständnis zustande kam, ist nicht bekannt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren immer wieder, dass im Iran derartige Geständnisse durch Folter oder andere Misshandlungen erzwungen werden.
Das Mullah-Regime will Härte demonstrieren, Menschen sollen eingeschüchtert werden. Die Vertreter des Regimes klammern sich mit allen Mitteln an die Macht. Dass ihnen das gelingt, liegt auch darin begründet, dass sie nach wie vor auf ihre Gefolgschaft setzen können. In einer Erklärung hatten 227 der 290 iranischen Parlamentarier*innen die Justizbehörden aufgefordert, "keine Nachsicht" mit den Demonstrierenden zu üben und dringend Todesurteile gegen sie zu verhängen. So soll anderen eine "Lehre" erteilt werden. Ein Sprecher der iranischen Justizbehörden forderte rasche Gerichtsverfahren und Bestrafungen, einschließlich Hinrichtungen.
Julia Duchrow, stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, sagt: "Die iranische Führung ist für 65 Prozent der weltweit bekannt gewordenen Hinrichtungen im vergangenen Jahr verantwortlich. In dem Versuch, den Massenprotesten für "Frauen – Leben– Freiheit" ein gewaltsames Ende zu setzen, hat die iranische Justiz bereits mindestens vier Demonstrierende hinrichten lassen. Dutzende weitere Menschen sind im Zusammenhang mit den Protesten akut von der Todesstrafe bedroht." Die aktuellen Entwicklungen im Iran zeigen: notwendig und eindeutiger als bisher ist der internationale Druck auf das Mullah-Regime.
Dass auch in Afghanistan, Kuwait, Myanmar, Palästina (Gazastreifen) und Singapur nach Unterbrechungen wieder Todesurteile vollstreckt werden, ist erschreckend. Auch in den USA stieg die Zahl der Hinrichtungen. Das Recht des Staates, ein schweres Verbrechen mit der Hinrichtung des Täters zu sühnen, gilt noch immer in zahlreichen Bundesstaaten der USA – auch im Jahr 2022. Nach der Trump-Ära, der sich als Hardliner die Todesstrafe befürwortete und auf Bundesebene ausweitete, stieg die Zahl der Hinrichtungen von elf im Vorjahr auf 18 in 2022. Zwar ist die Todesstrafe in den USA auf dem Rückzug, doch in zahlreichen Bundesstaaten, vor allem in Südstaaten wie Texas, wird trotz der zunehmenden Schwierigkeiten, die nötigen Stoffe für die Giftspritze zu beschaffen, weiter exekutiert.
Vor allem die Zahl der Menschen, die im Zusammenhang mit Drogendelikten exekutiert wurden, hat sich 2022 im Vergleich zu 2021 mehr als verdoppelt. Hinrichtungen wegen Drogenstraftaten sind ein Verstoß gegen internationales Recht, das die Verhängung der Todesstrafe auf "schwerste Verbrechen" beschränkt – das sind Verbrechen, die eine vorsätzliche Tötung beinhalten. Derartige Hinrichtungen wurden in China, Iran (255), Saudi-Arabien (57) und Singapur (11) verzeichnet. Auch in Vietnam gab es vermutlich Hinrichtungen wegen Betäubungsmittelstraftaten, allerdings hält der Staat die entsprechenden Zahlen geheim. Die Hinrichtungen machten einen Anteil von 37 Prozent aller von Amnesty erfassten Hinrichtungen aus.
Ende der Todesstrafe gefordert
Doch es gibt in dieser globalen Schreckens-Bilanz auch positive Anzeichen. Sechs Staaten schafften 2022 die Todesstrafe vollständig oder zum Teil ab. In Kasachstan, Papua-Neuguinea, Sierra Leone sowie in der Zentralafrikanischen Republik wurde die Todesstrafe für alle Straftaten aufgegeben, in Äquatorialguinea und Sambia nur für gewöhnliche Verbrechen. Bis Jahresende 2022 hatten insgesamt 112 Länder die Todesstrafe für alle Straftaten aus ihrem Recht getilgt, hinzu kommen weitere neun Länder, die sie nicht mehr für gewöhnliche Verbrechen vorsehen.
Eine weitere positive Entwicklung gab es in Liberia und Ghana: Beide Länder haben rechtliche Schritte zur Abschaffung der Todesstrafe eingeleitet. Die Behörden von Sri Lanka und den Malediven gaben zudem bekannt, künftig auf die Vollstreckung von Todesurteilen verzichten zu wollen. In Malaysia haben beide Kammern des Parlaments Gesetzesentwürfen zur Abschaffung der obligatorischen Todesstrafe zugestimmt.
Immer mehr Länder weltweit geben die Todesstrafe auf. Im Dezember 2022 unterstützte bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine noch nie dagewesene Anzahl von 125 UN-Mitgliedsstaaten eine Resolution, die die Einführung eines weltweiten Hinrichtungsmoratoriums mit dem Ziel der vollständigen Abschaffung der Todesstrafe fordert.
Julia Duchrow sagt: "Die Welt hat sich zweifellos auch 2022 weiter von der Todesstrafe als Strafmittel entfernt. Die Länder, die weltweit für die meisten Hinrichtungen verantwortlich sind – China, Iran, Saudi-Arabien, Nordkorea und Vietnam – gehören mit ihrem brutalen Vorgehen jetzt eindeutig zu einer isolierten Minderheit. Gerade hier stellen wir unsere Forderung nach einem Ende der Todesstrafe besonders laut."
Buch-Empfehlung:
Helmut Ortner, Ohne Gnade – Eine Geschichte der Todesstrafe, Nomen Verlag, 230 Seiten, 22 Euro