Rezension

Und alle singen mit

Dient Adolf Hitler, seit seinen Lebzeiten bis heute, als Symbolfigur des Bösen in der Welt, führt die inflationäre Referenz auf den Diktator zu einer Trivialisierung seiner leidvollen Herrschaft. Auch die Normalisierung der NS-Zeit lässt sich in Deutschland – und darüber hinaus – an einer kaum überschaubaren Fülle von Dokumentationen ablesen, die sich mit den faktischen und vermeintlichen Absurditäten der Jahre 1933 bis 1945 befassen, jedoch mehr der seichten Unterhaltung denn der wissenschaftlichen Aufklärung dienen. Das Absurde schafft eine Distanz zur Normalität von damals, die heute unvorstellbar erscheinen mag. Tillmann Bendikowski, promovierter Historiker, Journalist und Publizist, versucht in seinem Buch über den Nationalsozialismus jene damalige Normalität auf populärwissenschaftliche Art einzufangen.

In zwölf Kapiteln zeichnet Bendikowski das Jahr von Dezember 1938 bis November 1939 nach und greift für jedes Kapitel – in chronologischer Monatsfolge – ein besonderes Ereignis als thematischen Aufhänger heraus. Er rekonstruiert indes nicht nur deskriptiv diese konkreten Zeitpunkte, sondern umreißt auch in jedem Kapitel umfassend verschiedene Aspekte des Alltags: Tradition, Religion und Kirche; Propaganda und Ideologie; Gesundheit, Arbeit und Freizeit; Rollenbilder und Erziehung; Sorgen und Euphorie zu Beginn des Krieges; Verfolgung, Gewalt, Flucht und Widerstand. Spielend gelingt es ihm, diese Tour d'Horizon "der Diktatur und ihre[r] Strukturen" (S. 11) in ein gut lesbares und quellenfundiertes Buch zu packen.

Jedoch: Wirklich Neues ist nicht zu erfahren. Bendikowski wartet nicht mit bisher unbekannten, bahnbrechenden Erkenntnissen über den Alltag unter dem Hakenkreuz auf. Darin kann eine vertane Chance gesehen werden, stellt sich doch die Kluft zwischen extremer Brutalität des Regimes und vermeintlicher Normalität des Alltags heute noch immer als gedanklich schwer überbrückbar dar. Zu Beginn fragt der Autor selbst: "Weshalb konnte diese Diktatur funktionieren?" (S. 9). Am Ende ist der Leser nur bedingt schlauer.

Der wohl entscheidende Grund ist der Mangel einer Definition von "normal" beziehungsweise "Normalität". Ohne eine solche auszuformulieren, beschreibt der Autor das, was er als "ganz normales Leben der Deutschen" ansieht. Ausgeblendet wird aber, wie es zu einer solchen Normalisierung von Institutionen und Regeln, zur Internalisierung von Normen und Werten kam, wie sie Akzeptanz fanden in der Bevölkerung und wie sie durch routinemäßige Mechanisierung als soziale Praxis stabilisiert wurden.1 Ganz wesentlich hängt das mit der historischen Beschneidung auf das Jahr 1938/39 zusammen, die etwas dünn begründet wird: Das Jahr definiere die Mitte der NS-Herrschaft – also einen Moment zwischen Institutionalisierung und Zerfall. Dadurch werden indes wichtige Aspekte ausgeblendet, die der Beantwortung der eigenen Fragestellung zuträglich wären. Vermutlich soll die Leserschaft nicht mit zu viel methodischem Ballast abgeschreckt werden, was legitim ist, richtet sich das Buch doch an ein breites, auch nichtakademisches Publikum. Dennoch ergeben sich daraus drei zentrale Kritikpunkte.

Erstens gelingt es Bendikowski nur bedingt, den "normalen Alltag" im Dritten Reich darzustellen. In weiten Teilen bleibt er den Führungspersönlichkeiten, allen voran Adolf Hitler, Institutionen wie der Partei und ihren Machtstrukturen, der Ideologie und der pompösen Propaganda verhaftet. Ein Leben abseits dessen wird oft nur schemenhaft dargestellt. Dies hängt wohl mit dem Fokus auf markante Daten und Ereignisse zusammen, die in erster Linie für die herrschenden NS-Eliten von besonderer Bedeutung waren – aber auch für die "normalen Deutschen"?

Zweitens bleibt das Bild des Alltags ein statisches: Weder wird erschöpfend gezeigt, wie sich die "Normalität" des Jahres 1938/39 generierte, noch welchen Wandlungen sie bis zum Ende des Nationalsozialismus, insbesondere im Angesicht von Krieg, Vernichtung und schließlich Niederlage, unterworfen war. Insbesondere der Gegensatz zwischen normalem Alltag und Holocaust, der die späten Jahre des Dritten Reiches kennzeichnete und die Entwicklungslinien des Nationalsozialismus ins Extrem verdichtete, bleibt leider vollkommen unbeachtet.

Zudem ist drittens nach der Lektüre unklar, welche Ambiguitäten und Konflikte sich im Alltag der Deutschen im Totalitarismus eröffneten – ein Punkt, zu dem gerade eine Alltagsgeschichte Zugänge eröffnet hätte. So bleibt der Eindruck, zwischen fanatischer Überzeugung beziehungsweise unbedingtem Gehorsam einerseits und Widerstand, Flucht oder innerer Migration andererseits, habe es kaum Graubereiche gegeben, in denen sich das Leben der Menschen abspielte. Waren all die knapp 80 Millionen Deutschen tatsächlich zur "Schicksalsgemeinschaft" verschmolzen, die mit skrupelloser Gewalt die Außenseiter vernichtete, die nicht dazugehörten? Verkörperte Hitler, frei nach Viktor Klemperer, die "deutsche Volksseele" (S. 201)? Sangen alle im Gleichlaut das Hohelied auf Führer, Volk und Vaterland? Gab es eine Nuanciertheit in der "verlogenen Normalität des 'Dritten Reichs'" (S. 120), so bleibt sie unterbelichtet. Gab es sie nicht, wird nur oberflächlich dargestellt, wie es dazu kommen konnte.

Wozu also dieses Buch? Bendikowski will Kontinuitäten aufzeigen. Seine Mahnung am Schluss des Buches, die Deutschen der Gegenwart verbinde "mit den Deutschen jener Jahre mehr, als uns lieb ist" (S. 481), verfängt indes kaum. Will der Autor zeigen, Deutschland könne womöglich wieder in eine Diktatur rutschen, weil unser Alltag in Teilen jenem von damals ähnelt, so verkennt er, dass Alltag immer ist, und manche soziale Praxis, Tradition oder Wertvorstellung fortdauert, ganz unabhängig vom politischen Überbau. Zugleich haben sich aber andere – gerade wegen der Erfahrung des Nationalsozialismus – fundamental geändert. Im Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart lassen sich immer gewisse Gemeinsamkeiten erkennen, die jedoch nur vor dem Hintergrund der Unterschiede hervorstechen. Mögen damals alle mitgesungen haben, so herrscht heute eine zuvor ungekannte Pluralität. Zwar ist es ein Verdienst des Autors, auch ein Licht auf Bereiche zu werfen, die im Konvolut zum Nationalsozialismus bisher nicht so deutlich herausgestellt wurden: alltäglicher Mangel schon vor dem Ausbruch des Krieges durch desaströse Wirtschafts- und Kriegspolitik, grassierende Korruption, enorme Arbeitsbelastungen oder die gravierende, anhaltende soziale Ungleichheit abseits ethnokultureller Ausgrenzungen. Doch auch hier bleibt der Autor eine Antwort schuldig, warum all dieses Leid und die Entbehrungen nicht zu Ablehnung und Unruhe in der breiten Masse führten. Am Ende fällt das Buch auch deswegen hinter seinen eigenen Ambitionen zurück.


1Vgl. dazu beispielsweise die ähnlich angelegte, aber methodisch dichtere Studie von Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, 2., durchgesehene Auflage, Darmstadt 2011.

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