Rezension

Die letzten Stimmen des Holocaust

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Eingang zum Konzentrationslager Auschwitz (heute Gedenkstätte)
Eingang zum Konzentrationslager Auschwitz

Im gleichnamigen Buch von Louis Pawellek erinnern sich zwölf Überlebende eindrücklich an ihre Schicksale unter der Nazi-Diktatur. Im Jahr 2014 traf der Autor für ein Schulprojekt eine Zeitzeugin, die den Holocaust überlebt hat. Danach entwickelte er den Wunsch, weitere überlebende Opfer der Nazi-Schreckensherrschaft persönlich kennenzulernen und ihre Geschichten aufzuschreiben. So entstand das Buch "Die letzten Stimmen des Holocaust".

In meinem Geschichtsunterricht (1991—1993) wurde der Themenkomplex der NS-Zeit, Zweiter Weltkrieg und Holocaust in Windeseile mit Zahlen, Daten, Fakten zu Gefallenen, Toten und Deportierten durchgearbeitet. Der Völkermord an sechs Millionen europäischer Juden ist eine schreckliche Tatsache. Aber diese unglaubliche Zahl bleibt eine abstrakte Zahl, sie entspricht in etwa den gesamten aktuellen Einwohnerzahlen von Berlin, Hamburg und Köln. Doch auch dieser Vergleich bleibt abstrakt.

Im Deutschunterricht lasen wir zeitgleich "Das Tagebuch der Anne Frank", in dem die junge Autorin klug, aufmerksam und sensibel über die Zeit ihrer Flucht vor den Nazis und im Versteck im Hinterhaus in der Prinsengracht 263 schreibt. Die Tatsache, dass wir als Leser wissen, dass Anne Frank den Holocaust selbst nicht überlebte, macht ihre Eindrücke schockierend, real und menschlich erschütternd. Hier wird eine junge Autorin zur Stimme eines ganzen Volkes auf der Flucht vor dem Völkermord.

In einem Artikel des Redaktionsnetzwerks Deutschland zitiert der Autor eine Umfrage, die die "Jewish Claim Conference" mit jeweils 1.000 Befragten in acht Ländern durchführte. Diese Länder waren Deutschland, Frankreich, Österreich, Großbritannien, Polen, Ungarn, Rumänien und die USA. "In all diesen Ländern gibt es laut der Befragung einen erheblichen Anteil von jungen Leuten, die nicht wissen, dass bis zu sechs Millionen Juden während der NS-Zeit getötet wurden. In Deutschland liege der Anteil bei den 18- bis 29-Jährigen bei 40 Prozent."

Man muss nicht hochintelligent sein, um den kausalen Zusammenhang zwischen dieser eklatanten geschichtlichen Desinformiertheit und dem Erstarken von in Teilen gesichert rechtsextremen Parteien wie der AfD zu erkennen.

Im Jahr 2014 traf der Autor Louis Pawellek für ein Schulprojekt eine Zeitzeugin, die den Holocaust überlebt hat. Danach entwickelte er den Wunsch, weitere überlebende Opfer der Nazi-Schreckensherrschaft persönlich kennenzulernen und ihre Geschichten aufzuschreiben. So entstand das Buch "Die letzten Stimmen des Holocaust". Die darin beschriebenen Schicksale der Frauen und Männer sind ergreifend und mahnend. Es geht darum, niemals zu vergessen, was unschuldigen Kindern und Erwachsenen angetan wurde.

"Wie konnte ein Mensch einem anderen Menschen solches Leid antun?"

Das ist die Kardinalfrage des Autors, für deren Beantwortung er nach Auschwitz, Birkenau, Theresienstadt reist, um zu verstehen.

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Untertitel

Da ist die Auschwitz-Überlebende Eva Szepesi, A-26877, die gegenüber den Nazis ihr Alter hochschraubt, um nicht aussortiert zu werden. 2011 erschien ihre Autobiografie "Ein Mädchen allein auf der Flucht" im Verlag Metropol.

Edith Erbrich, geboren 1937, wurde aufgrund ihres jüdischen Vaters und der katholischen Mutter nach den Nürnberger Rassegesetzen als "jüdischer Mischling" eingruppiert. Ihre Autobiografie ist unter dem Titel "Ich hab das Lachen nicht verlernt" erschienen.

Christa Rose gehört zu den letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau und außerdem zu den letzten Kindern, welche die Kinderbaracke und die Experimente von SS-Arzt Dr. Mengele in Auschwitz-Birkenau überlebten. "Kurz vor der Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 und vor der Absetzung und Flucht von Dr. Mengele bekamen die Kinder noch eine Spritze von dem SS-Arzt verabreicht. Diese Spritze sollte alle Kinder mit dem Fleckfieber anstecken. Das Ziel war es, die Kinder vor dem Eintreffen der Roten Armee zu Tode zu bringen." Christa Rose verarbeitete diese Geschehnisse in ihrem Buch "Vergiss nicht, dass du Flügel hast".

Wir lesen die Geschichte von Sonja Strauß, die das "Zigeunerlager" in Auschwitz überlebte. Nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau erkrankte ihre Schwester Waltraud an Typhus und starb. "Mein Bruder Afred wickelte Waltraud in ein Tuch ein und trug sie aus der Baracke nach draußen. Dort riss ihm ein SS-Mann das Bündel aus den Armen, holte den kleinen Körper aus der Decke und trat ihn mit dem Fuß auf den Leichenhaufen, den man vor der Baracke aufgestapelt hatte."

Sonja Strauß berichtet im Interview von den geheimen Vergewaltigungen schöner Sinti-Frauen durch SS-Aufseher, von den Zwangssterilisationen im KZ Ravensbrück zur Verhinderung der Fortpflanzung der "minderwertigen und asozialen Menschenrasse". Der KZ-Arzt Dr. Carl Clauberg, der bei Sonja die Zwangssterilisation durchführte, war auch für seine eigenen Experimente und Versuche im KZ Auschwitz bekannt und berüchtigt. Die Schreie der durch seine Versuche missbrauchten Frauen hörte man quer durchs Lager. Heute geht man von 550 bis 700 durch Clauberg sterilisierten Häftlingsfrauen aus. Eine davon war die damals dreizehnjährige (!) Sonja.

Wenn die letzten Zeitzeugen sterben, braucht es "Zweitzeugen"

Dies sind nur kurze Schlaglichte auf die von mir herausgepickten Biografien, mit denen ich die Bandbreite der Schicksale von den interviewten Holocaust-Opfern skizziere. Doch das Buch ist mehr als nur ein Buch: Der Autor Louis Pawellek hat seine Gespräche mit Videokamera aufgezeichnet. Die Aufnahmen können über QR-Codes, die sich am Ende jedes Kapitels befinden, im Internet angeschaut werden.

Pawellek, geboren 1998 in Peine, ist gelernter Erzieher. Seit der Jugendzeit beschäftigt er sich mit der Thematik Holocaust. Er ist in den vergangenen Jahren europaweit mit Überlebenden in Kontakt getreten. Der Autor hat bereits zahlreiche Vorträge über das Thema gehalten.

Louis Pawellek beschließt sein Projekt im Nachwort: "Irgendwann werden auch die letzten Überlebenden der deutschen ehemaligen Konzentrationslager und Ghettos verstorben sein. Ich habe nur nacherzählt bekommen, was meine Eltern erlebt haben. Es ist enorm wichtig, diese Rolle als 'Zweitzeuge' wahrzunehmen und in der Öffentlichkeit kundzutun, um dem Hass und der Hetze in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Die Gräueltaten, die während der Nazi-Barbarei geschehen sind, müssen den Menschen täglich als Mahnung vor Augen geführt werden, sei es durch Gedenkstättenbesuche, Vorträge, Zeit- oder Zeitzeugengespräche oder Lesungen."

"Hass und Hetze in der Gesellschaft" ist ein gutes Stichwort für die derzeitige politische Gemengelage in Deutschland kurz vor der vorzeitigen Bundestagswahl. Louis Pawelleks Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es die tragischen Einzelschicksale von Juden und unerwünschten Minderheiten während der Nazi-Diktatur deutlich macht. In einer Gesellschaft, in der der Fokus maximal auf die Themen Remigration und neue Asylgrenzgesetze ausgerichtet ist, müssen wir uns wieder vergegenwärtigen, wie viele Menschenleben andere Staaten gerettet haben, indem sie deutschen Exilanten in der Zeit der Nazi-Herrschaft Asyl gewährten. Diese schrecklichen Jahre sind Teil des kollektiven deutschen Erbes und wir haben keine andere Wahl, als im Heute an Mitmenschlichkeit zurückzugeben, woran die Gesellschaft ab 1933 gescheitert ist. Natürlich brauchen wir eine Reform des Asylrechts. Es ist kein deutsches Problem, sondern betrifft alle europäischen Staaten. Aber es kann keine Lösung sein, Migranten auf einer Gefängnisinsel zu internieren. Deportation ist keine Lösung. Wir dürfen nicht verlernen, als Gesellschaft zu handeln und als Individuen mitzufühlen.

"Die letzten Stimmen des Holocaust" zeigt uns als Leser den Weg, wie wir heute mit Asylanten aus der Ukraine, den syrischen Flüchtlingen sowie der israelischen Zivilbevölkerung mitfühlen müssen, um ansatzweise zu begreifen, was Flucht und der Schutz des eigenen Staates, der eigenen Bevölkerung für sie bedeuten. Absolut lesenswert!

Louis Pawellek: Die letzten Stimmen des Holocaust. 12 Überlebende erinnern sich. Echter Verlag, Würzburg 2024, 280 Seiten, 24,90 Euro, ISBN-13: ‎978-3429059477

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