Winteranfang in Santiago – am Welthumanistentag

SANTIAGO DE CHILE. (hpd) Die deutschen Humanistinnen und Humanisten feiern gerade den Welthumanistentag, in Berlin erstmals sogar mit einem großen Straßenfest, am 21. Juni, also der Sommersonnenwende am längsten Tag im Jahr. Aber hier in Chile ist es dies der kürzeste Tag im Jahr und der Beginn des Winters auf der Südhalbkugel. Dabei wurde mir erneut klar, wie eurozentrisch wir in Deutschland denken.

Doch was heißt schon "Winteranfang in Santiago"?

Nachts ist es zwar mit 4 – 5 Grad plus empfindlich kühl, doch tagsüber kann die Sonne die Luft auch am Beginn des Winters auf 20 Grad erwärmen. In den Parks blühen noch die Geranien und der Lavendel, aber am Rand der Hauptstadtregion leuchten bereits die schneebedeckten 4.000er der nahen Anden. Gleichzeitig hat die Stadtverwaltung schon zum zweiten Mal in diesem Juni Smog-Alarm ausgerufen – Inversionswetterlage: Unten kalt, oben warm und kein Wind, also keine Durchmischung.

Eine gelbe Dunstglocke hängt über dem Talkessel der 6 Millionen-Metropole und die Sonne schimmert nur fahl hindurch. Fahrverbot für Autos mit bestimmten Endziffern sowie für alle KFZ ohne Katalysator. Das trifft besonders die Armen, denn die Wohlhabenden fahren freilich moderne PKWs mit Katalysator. Also sind die U-Bahnen und Busse noch voller als ohnehin. Während der Stoßzeiten morgens und abends drücken dutzende Uniformierte auf jedem U-Bahnsteig die Menschenmassen buchstäblich per Hand in die überfüllten Waggons um dem Ansturm einigermaßen Herr zu werden. Bisher dachte ich, dies gäbe es nur in Tokio oder Shanghai.

Smogalarm
Smogwarnung

Um nicht dem täglichen Verkehrschaos während der Rush-Hour ausgesetzt zu sein, wohnen wir in größtmöglicher Nähe zu unserem Arbeitsplatz an der Deutschen Schule im Bezirk Vitacura – dem vornehmsten und reichsten Distrikt von ganz Chile. Hier sind die Mieten doppelt so hoch wie in den anderen Stadtteilen und mit denen in München vergleichbar. Doch was sich anfangs als finanzielles Abenteuer andeutete entpuppt sich nun im Winter überraschend als klimatischer Segen: Vitacura ist zugleich einer der höchst gelegene Stadtteile mit sehr viel Grün und du hast hier auch bei Smog noch einigermaßen frische Luft. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich in Chile sind selbst beim Atmen spürbar…

Macht die Erderwärmung Chile grüner?

Ganz im Unterschied zum vertrockneten Braungelb während des heißen und langen Sommers ist die gesamte Landschaft um die Hauptstadtregion herum und an den Hängen der umliegenden Berge jetzt mit einem satten Grün überzogen – ein massiver Gegensatz, der aber wohl nur uns Gästen aus Europa so auffällt. Dabei setzte diese winterliche Vegetationsperiode in diesem Jahr offenbar deutlich früher ein als sonst – eine Folge heftiger Regengüsse im Herbst, also im April und Mai mit Überschwemmungen selbst im Stadtzentrum. Nachdem es Mitte April an mehreren Tagen so viel geregnet hatte wie sonst im ganzen Winter, trat der Mapocho über die Ufer und die Wassermassen überfluteten sogar ganze U-Bahn-Schächte.

Vielfach wurde das Trinkwasser verunreinigt. Folge: Für über 4 Millionen Hauptstädter wurde das Trinkwasser abgestellt, alle Schulen blieben geschlossen, auf mehreren U-Bahn-Linien musste der Verkehr eingestellt werden und in einigen Geschäften kam es schon zu ersten Hamsterkäufen. Übrigens blieben die ohnehin schon privilegierten knapp 100.000 Einwohner von Vitacura auch von diesem Stopp des Trinkwassers verschont, weil es in dem Bezirk auf Grund der exponierten Höhenlage zu keinen Schäden an den Trinkwasserleitungen kam.

Klimaforscher vermuten, dass für die ungewöhnlichen Regenfälle der in diesem Jahr wesentlich stärkere sog. "El Niño" (gesprochen "el ninjo") verantwortlich ist, der gerade für die Pazifikregion eine erhebliche Bedeutung hat. "El Niño" ist ein Synonym für "Christkind", weil es um Weihnachten herum bis weit in das neue Jahr in unregelmäßigen Abständen zu extremen Wetterveränderungen in der Pazifikregion kommt.

Dieses komplexe Wettergeschehen auf dem Punkt gebracht bedeutet: Der kalte Humboldtstrom, der von der Antarktis kommend vor der Küste Chiles und Perus nach Norden gigantische Wassermassen Richtung Äquator schiebt, erwärmt sich während einer solchen Phase spürbar. Folge: Das wärmere Wasser verdunstet vor der Westküste Südamerikas sehr viel mehr Feuchtigkeit als normal und diese regnet sich dann u.a. an den Anden ab. So kam es Anfang dieses Jahres selbst im ansonsten extrem trockenen Norden Chiles zu Starkregen und die Atacama-Wüste verwandelte sich stellenweise in eine blühende Landschaft.

Der El-Niño 2015/16 gilt mittlerweile als der stärkste, der je beobachtet wurde. Wissenschaftler vermuten Zusammenhänge mit der Erderwärmung bzw. dem damit verbundenen globalen Klimawandel. Könnte es also kommen, dass die sonst sehr trockene Region um Santiago in Zukunft in gewisser Weise sogar vom Klimawandel profitiert und sich zu einer grünen Oase entwickelt? Der diesjährige Winteranfang am Welthumanistentag jedenfalls könnte vielleicht schon darauf hindeuten…