Die Schweiz wird zusehends säkular. In den einzelnen Orten ist die Anzahl der religiösen Gruppen zurückgegangen, die Mitglieder schwinden und es kommen kaum Jüngere dazu. Gleichzeitig werden die Gruppen inklusiver und offener für homosexuelle Mitglieder und für Frauen in Leitungspositionen.
Zu diesen Ergebnissen kommt die aktuelle "National Congregation Study Switzerland". Im Gegensatz zu früheren Untersuchungen widmet sie sich nicht der individuellen Religiosität, sondern der Entwicklung von Gemeinschaften. In der umfassenden Studie haben Religionssoziologen und Theologen der Universitäten Basel, Lausanne und Straßburg zwischen 2008 und 2022 alle religiösen Gruppen in der Schweiz gezählt, also Pfarreien, Gemeinden, Synagogen, Tempel, Moscheen, Kulturzentren und andere. Zudem führten sie Interviews mit einer repräsentativen Stichprobe der Leiterinnen und Leiter. Dabei zeigte sich, dass die Anzahl der religiösen Gruppen im Beobachtungszeitraum um mehr als 7 Prozent zurückging, von 6.341 (2008) auf 5.883 (2022). Die Besucherzahlen schrumpften ebenfalls: Während es 2008 noch 894.000 regelmäßige Teilnehmer gab, waren es 2022 nur noch 824.000.
Außerdem registrierten die Forscher bei den "spirituellen Leitungspersonen" zwischen 2008 und 2022 einen Anstieg des Durchschnittsalters von 50,8 auf 53,8 Jahre. Damit sind sie deutlich älter und altern im Mittel schneller als die erwerbstätige Bevölkerung insgesamt. Zum Vergleich: Das Durchschnittsalter der Erwerbstätigen in der Schweiz stieg im Beobachtungszeitraum von 40,8 auf 42 Jahre. Diesen eklatanten Unterschied führt die Studie darauf zurück, "dass nicht genügend jüngere spirituelle Leitungspersonen rekrutiert werden".
Eine vergleichbare Entwicklung zeigt sich auch bei den regelmäßigen Teilnehmern. Der Religionssoziologe Jörg Stolz von der Uni Lausanne, Co-Autor der Studie, deutet all dies als Indiz für eine Säkularisierung. Dieser Alterungstrend sei bei Kirchen wie auch bei nicht anerkannten christlichen und anderen Gemeinschaften zu beobachten. Ausnahmen: konservative Evangelikale und "andere Christen", worunter offenbar verschiedene kleinere Gruppierungen zusammengefasst werden.
Weiter belegt die Studie, dass die lokalen religiösen Gruppen inklusiver und diverser werden. So wurden laut Umfrage Homosexuelle 2008 von 63 Prozent aller Gruppen als Mitglieder voll anerkannt, 2022 war dies bereits bei 75 Prozent der Gruppen der Fall. Auch die Akzeptanz von Schwulen und Lesben in ehrenamtlichen Führungsrollen ist im Untersuchungszeitraum gestiegen: von 36 Prozent auf 55 Prozent. Interessanterweise zeige sich dieser Trend vor allem "in den katholischen, evangelisch-konservativen und muslimischen Traditionen". Unbekannt bleibt indes, wie viele religiöse Gruppen in der Schweiz die Leitung tatsächlich an eine homosexuelle Person übertragen haben.
Auch gegenüber Frauen an der Spitze werden religiöse Gruppen allmählich aufgeschlossener. 2022 erklärten sich 54 Prozent von ihnen grundsätzlich offen dafür, 2008 waren es noch 47 Prozent. Weitaus geringer sind die tatsächlichen Quoten von Frauen in derartigen Ämtern. 2008 betrug ihr Anteil 12,4 Prozent, 2022 war er nur leicht auf 15,2 Prozent gestiegen. Die größten Zuwächse fanden die Forscher unter Reformierten, klassischen Evangelikalen und Buddhisten, dagegen zeigte sich bei konservativen Evangelikalen, Orthodoxen, Muslimen und Hindus/Sikhs nur eine geringe, teils negative Veränderung.
Die zahlenmäßige Entwicklung der verschiedenen Religionen wurde in der Studie ebenfalls erfasst. Dabei ergab sich bei christlich-evangelikalen Gruppen eine hohe Fluktuation. Das bedeutet, dass sich im Untersuchungszeitraum viele neue Gruppen gegründet haben, aber auch viele wieder verschwunden sind. Die Gesamtzahl ist annähernd gleich geblieben, ebenso die Summe der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Eine klare Zunahme stellten die Forscher bei den orthodoxen Christen fest. Die Anzahl ihrer Gruppen stieg zwischen 2008 und 2022 von 70 auf 118, eine Folge der Einwanderung aufgrund der Konflikte in Syrien, Äthiopien und Eritrea. Dass auch bei den buddhistischen Gruppen ein starker Anstieg (von 141 auf 161) zu verzeichnen ist, sei jedoch nicht auf Zuwanderung, sondern auf den Erfolg des Buddhismus bei Einheimischen zurückzuführen.
Differenziert stellt sich die Entwicklung für den Islam in der Schweiz dar. So ist die Zahl der Moscheen leicht gesunken (von 323 auf 311), während die Zahl der Muslime im gleichen Zeitraum deutlich um 28 Prozent angestiegen ist, und ein größerer Anteil von ihnen die Moscheen besucht.
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