Interview mit Jacques Tilly

"Satire heißt nicht einfach nur Draufhauen"

Dass Jacques Tilly irgendwann der spiritus rector der Wagenbaukolonne des Düsseldorfer Karnevals wurde, war ein Glücksfall. Für Düsseldorf, weil fortan der "Zoch" der spannendste in Deutschland war und weltweite Aufmerksamkeit erfuhr. Für Jacques Tilly, weil er in die für einen politischen Künstler außergewöhnliche Lage kam, dass jedes Jahr Zehntausende von Menschen zur "Vernissage" seiner Arbeiten eilten und Millionen am Fernseher zumindest von einzelnen Kunstwerken erfuhren. Seit dem Weltjugendtag 2005 kommen seine Großplastiken auch auf Veranstaltungen der säkularen Szene zum Einsatz. Ein soeben erschienener Bildband gewährt Einblick in das langjährige politische Engagement des Künstlers. Dazu hatte der hpd einige Fragen an Jacques Tilly.

hpd: Wie erlebst Du aktuell die politische Weltlage, Jacques?

Tilly: Auch bei nüchternem Abwägen: bedrohlich. Eine rechtspopulistische bis rechtsextreme Welle rast um den Globus, die ein Land nach dem anderen mit dem nationalistisch-autoritären Virus infiziert. Die Wähler nicht nur des Westens sind verrückt geworden und wählen irre Despoten und unfähige, verantwortungslose Spinner in höchste Ämter. Inkompetenz und Ignoranz wird in diesen Kreisen ja als Tugend gefeiert. In Europa sind jüngst Tschechien und Italien betroffen, und demnächst wird auch Brasilien, die größte Demokratie Südamerikas, von einem rechtsextremen Schurken der schlimmsten Sorte regiert. Trump provoziert jetzt aus heiterem Himmel eine neue atomare Aufrüstungsrunde. Die Stimme der Vernunft wird weltweit schwächer und schwächer. Der Irrationalismus und die Gegenaufklärung sind auf dem Vormarsch. Und die Gegenkultur in Deutschland ist momentan eindeutig rechts. Da gibt es nichts zu beschönigen.
 

Wen oder was hältst Du aktuell für die größte Bedrohung der offenen Gesellschaft?

Der Befund liegt klar auf der Hand: Die antiliberalen Kräfte weltweit haben momentan Oberwasser, der liberale Rechtsstaat und das Konzept einer offenen Gesellschaft sind in der Defensive. Schon einmal, in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, gab es eine Angriffswelle auf die Ideen und Werte der Aufklärung und der Moderne. In der Epoche des europäischen Faschismus wurden Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Liberalismus und Sozialismus brutal bekämpft. Nur unter unglaublichen Opfern wurde dieser Angriff auf die Zivilisation abgewehrt. Und im Moment erleben wir eine zweite Angriffswelle. Allerdings wird die Demokratie heute nicht mehr so offen bekämpft wie damals. Und es drohen auch kein Völkermord und keine KZs. Heute geht man raffinierter vor: Die Demokratie wird nach und nach mit den Mitteln der Staatsgewalt ausgehöhlt – etwa in den USA, in Polen, Ungarn, der Türkei. Der Übergang in den autoritären Staat geschieht schleichend. Anhand der AfD kann man diese Strategie gut beobachten. Die AfD ist eine Fassadenpartei, die Rechts- und Systemtreue nach außen simuliert, aber innen schon längst von rechtsextremen Kräften zerfressen ist. Diese wollen ein anderes System, eine andere Gesellschaft. Da mögen die Parteiführer noch so sehr propagieren, dass nur sie die wahren Sachwalter der Demokratie, der Gesetzestreue und der Meinungsfreiheit sind. Wenn die AfD einmal an der Macht ist – wenn, in deren Jargon, "die historische Stunde gekommen ist" –, ist es schnell aus damit, wie schon jetzt in Polen, Ungarn und Russland. Ich denke, dass fast alle der heutigen AfD-Wähler 1932 die NSDAP gewählt hätten. Die Motivlage, die Vokabeln und die paranoiden und apokalyptischen Narrative von damals und heute überschneiden sich in weiten Teilen. Putin ist das große Idol der Rechten und Putin unterstützt Europas rechtsextreme Parteien, wo er nur kann. In Russland gibt es nur eine Meinung, die von Wladimir Putin. Und so hätten es die Rechten hier auch gerne.

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Künstler Jacques Tilly mit dem Kopf von Wladimir Putin (© Jacques Tilly)

Als Satiriker brauchst Du einen funktionierenden Kompass für den schmalen Grat zwischen entlarvendem Spott und gezielter Diffamierung. Was sind die Leitplanken Deiner Arbeit? Wo verlaufen für Dich die Grenzen und was muss absolut erlaubt sein?

Ich mache mir immer wieder bewusst, dass in den 30er Jahren jede Menge widerliche, antisemitische Karnevalswagen durch Deutschlands Straßen gerollt sind. Die Annahme, dass Satiriker und Künstler automatisch auf Seiten des Wahren, Guten und Schönen stehen, ist falsch. Das Zitat von Tucholsky, nämlich dass die Satire "alles" dürfe, wird in diesem Zusammenhang immer wieder gerne bemüht. Doch Satiriker haben keinen Freibrief zur willkürlichen Beleidigung oder Herabwürdigung, genausowenig wie jeder andere Bürger auch. Satire heißt nicht einfach nur Draufhauen, Verspotten und Verletzen um jeden Preis. Gute Satire muss sich durch eine innere Haltung auszeichnen, einen Wertekanon, der im Kern humanistisch sein sollte. Wenn dieser Kern vorhanden und in der Arbeit spürbar ist, darf Satire schon sehr weit gehen. Wir leben in einer demokratischen Streitkultur. Und jeder Mensch, jede Organisation und jede Weltanschauung, die ihre Meinung zu Markte trägt, muss es sich in der offenen Gesellschaft gefallen lassen, in Grund und Boden kritisiert zu werden. Jeder muss lernen, auch beißenden Spott und giftige satirische Polemik zu ertragen. Und gerade die Religionen haben mit fundamentaler Kritik noch ihre Schwierigkeiten. Darum sehe ich meine Arbeiten auch als kleine Lockerungsübung für verbohrte Fundamentalisten.

Wie wichtig ist Dir der Humor in Deiner Arbeit?

Subversiver Humor, der ans Eingemachte, an die Grundlagen geht, kann eine scharfe Waffe sein, die die Mächtigen zu Recht fürchten. Durch Angst herrschen totalitäre Absolutisten und Diktatoren, durch Angst herrschten und herrschen Priester, Päpste und radikale Islamisten. Und das Lachen, der Witz, der Humor ist, wie es in der Schlusspointe des Romans "Der Name der Rose" so treffend heißt, "die Kunst zur Vernichtung von Angst". Nichts fürchten Menschenrechtsfeinde, Autoritäten und Würdenträger aller Art mehr als das befreite Lachen eines angstfreien Menschen. Plötzlich stehen sie nackt da, ihres schützenden Respekts und ihrer Ehrfurcht beraubt, und jeder sieht, was sie wirklich sind: lächerlich.
 

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Der Brexit-Wagen von Jacques Tilly fuhr auch in England (© Jacques Tilly)

Es gibt schon mehrere Bücher über Dein Werk, das letzte ist erst wenige Jahre alt. Warum jetzt dieses neue Buch?

Meine Arbeiten sind immer am Puls der Zeit. Sie reagieren auf das Tagesgeschehen und kommentieren es. Was vor drei Jahren hochaktuell war, kann heute kalter Kaffee sein, wenn es inzwischen von den neuesten Entwicklungen überrollt wurde. In den letzten drei Jahren ist so viel passiert, dass sich ein neues Buch, in dem die aktuellsten Arbeiten aufgegriffen werden, wirklich lohnt. Neu ist vor allem, dass meine Wagen inzwischen auch vor Ort, in den jeweils betroffenen Ländern wirken. Im letzten und in diesem Jahr sind vier Wagen von mir im Ausland gefahren, in England, in Tschechien und in Polen, und haben dort viel Zustimmung, aber auch Widerspruch hervorgerufen.

Warum ist es wichtig, dass die Leute das Buch lesen?

Zu Lesen gibt es in einem Bilderbuch ja eher wenig. Allerdings gibt es ein großartiges Vorwort von dem Kölner Kabarettisten Jürgen Becker. Und es gibt einen längeren Text von mir, in dem ich die aktuelle politische Situation einschätze und bewerte. Außerdem hat die Herausgeberin Eva Creutz meine Arbeiten hervorragend ausgewählt und präsentiert. Darum ist das Buch sehr unterhaltend, bunt und vielseitig. Es macht einfach Spaß – natürlich nur, wenn man meinen Wertekanon einigermaßen teilt. Sinn und Zweck des Buches ist es, ein überzeugendes Statement gegen die Feinde der offenen Gesellschaft zu liefern. Um aus dem Buch zu zitieren: "Macht sie lächerlich, all die kleinen und großen Trumps, Dutertes und Erdoğans, zieht sie durch den Kakao, stellt sie bloß, all die Gaulands, Bannons und Le Pens, übergießt sie mit Kübeln voll Spott und beißender Polemik."
 

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Die Karnevalswagen von Jacques Tilly sind sehr politisch (© Jacques Tilly)

Das neu erschienene Buch stellt dar, dass Du aufgrund Deiner Arbeiten schon bedroht wurdest. Wie wirken diese Drohungen auf Dich? Haben sie Wirkung auf Deine Arbeit?

Ein Satiriker, der von allen geliebt sein will, macht seine Arbeit nicht richtig. Viele meiner Arbeiten sind ja harte, polemische Attacken, da darf ich mich über Gegenwind nicht beklagen. Die meisten Beschimpfungen sehe ich aber als Theaterdonner, den ich der von mir gewünschten Streitkultur zuordne. Im aktuellen Buch sind die schönsten und kreativsten Beschimpfungen und Drohungen aufgelistet, die mich vor allem 2017 wegen des Wagens "Blond ist das neue Braun" ereilten. Für ernstzunehmende Kritik bin ich allerdings immer sehr offen und dankbar, denn sie hilft ja, besser und treffsicherer zu werden, mich immer wieder neu zu justieren und zu korrigieren. Ein Kritiker, der nur austeilen, aber selbst keine Kritik einstecken kann, ist selbst eine Witzfigur.

Was kann Kunst im gesellschaftlichen Diskurs erreichen?

Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass Bilder eine sehr starke Durchschlagskraft haben können. Deshalb bin ich von der Überlegenheit des Bildes überzeugt. Wenn die Bilder gut sind und eine Botschaft knackig auf den Punkt bringen, werden sie in Sekundenschnelle verstanden. Sie dringen sofort in das emotionale Zentrum des Betrachters ein und lösen dort etwas aus. Darum hatten ja die dänischen Mohammed-Karikaturen von 2005 so eine enorme Wirkung. Wenn stattdessen ein kritischer Text gedruckt worden wäre, hätte kein Hahn danach gekräht. Und die Bilder werden ja auch dankbar aufgegriffen. So finde ich die Wagen der letzten Jahre in immer stärkerem Maße in der Weltpresse wieder. Im Jahr 2017 wurden sie in den Medien von über 80 Ländern aller Kontinente gezeigt. Ein größeres Publikum kann man sich gar nicht wünschen. Ob meine Arbeiten aber wirklich etwas erreichen, lässt sich natürlich schwer messen. Man sollte die Wirkung von Satire deshalb nicht überschätzen. Andererseits gibt es auch keine Veranlassung, ihre Wirkung zu unterschätzen. Denn zweifellos hat sie ihre Wirkung. Im aktuellen Buch nehmen deshalb nicht nur die Plastiken selbst, sondern auch vielfach deren Wirkungsgeschichten breiten Raum ein.

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Cover des neuen Buchs von Jacques Tilly (© Jacques Tilly / Alibri Verlag)

Wie das Buch zeigt, hast Du mit sehr treffsicherem Gespür politische Entwicklungen vorweggenommen. Im Nachhinein zeigt sich oft, dass die Kritik Deiner Plastiken ins Schwarze traf. Würdest Du einen Ausblick wagen, wie sich unsere demokratische Gesellschaft weiterentwickelt?

Es wäre zu simpel, wenn man prognostizieren würde, dass die aktuellen Entwicklungen und Trends einfach weiterlaufen und sich verschärfen werden. So funktionieren gesellschaftliche Prozesse nicht. Es gibt Kräfte und immer auch Gegenkräfte. Darum ist das Rennen offen. Sicher kann man aber sagen, dass im Westen das Bewusstsein für die Katastrophe der Weltkriege nach und nach abgenommen hat. Bei den Politikern der Nachkriegszeit war das "Nie wieder!" der politische Imperativ, der immer im Bewusstsein war. Alles politische Handeln stand immer vor dem negativen Bezugsrahmen der unfassbaren Geschehnisse der Naziherrschaft und des Krieges. Selbst der bräsige Helmut Kohl wurde durch den sinnlosen Tod seines Bruders im Krieg geprägt und hatte vor diesem Hintergrund Politik gestaltet. Doch dieses Bewusstsein schwindet, die Katastrophe ist einfach zu lange her. So kommen die Gespenster der Vergangenheit nach und nach wieder. Es feiern Denkformen und Werte eine fröhliche Wiederauferstehung, von denen wir dachten, sie seien – so hatte es Peter Glotz einmal treffend formuliert – 1945 endgültig im Blut ersoffen. In der AfD wird wieder munter mit dem Begriff "völkisch" operiert und ein Finsterling wie Steve Bannon kann ungestört seine mörderische Kriegsverherrlichung verbreiten. Das alles verheißt natürlich nichts Gutes für die Zukunft.

Weißt Du schon, wem die nächste beißende Großplastik gewidmet sein soll?

Klar fallen mir spontan einige Kandidatinnen und Kandidaten ein, die ich satirisch verwursten möchte. Aber für meine Arbeit gilt aus guten Gründen immer die strengste Geheimhaltungsstufe. Also: Psst – und lasst euch überraschen.

Jacques Tilly: Despoten. Demagogen. Diktatoren. Ein satirisches Bilderbuch. Vorwort von Jürgen Becker. Hrsg. Eva Creutz. Aschaffenburg 2018, Alibri Verlag, 120 Seiten, gebunden, Euro 15.-, ISBN 978-3-86569-299-3