Interview mit Jacques Tilly

MEHR WAGEN! – Satire und Kunst in Zeiten von Shitstorm-Aktivismus

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Jacques Tilly will MEHR WAGEN.

"MEHR WAGEN" ist der doppeldeutige Titel des neuesten Buches über die Arbeit von Jacques Tilly, dem Düsseldorfer Satiriker und Karnevalswagenbauer. Ein guter Anlass, um nachzufragen, wie es denn seiner Meinung nach um die Satire im Coronajahr 2020 steht.

hpd: Wird es im nächsten Februar einen Rosenmontagszug geben?

Jacques Tilly: Ganz klar wird es keinen Zug nach traditionellem Muster geben. Im Gespräch ist ein kleinerer Zug, der nur durch das Düsseldorfer Stadion läuft und vom WDR übertragen wird, vor ein wenig Publikum. Aber auch das muss finanziert werden und hängt letztlich von der Coronalage ab. Es ist also alles noch offen. Züge wurden ja schon oft abgesagt, das hat es schon oft gegeben, wegen Sturm oder einmal 1991 wegen des Golfkrieges.

Du baust seit 1983, also seit 37 Jahren Wagen für den Düsseldorfer Karneval. Wie hat sich Deine Arbeit im Laufe der Jahrzehnte verändert?

Als ich mit dem Wagenbau begonnen habe, stand der meist linksliberal positionierte Satiriker natürlich gegen den Staat und seine Repräsentanten. Man war gegen Franz-Josef Strauß, Bundeskanzler Helmut Kohl, gegen Atomkraft und Nachrüstung. Man rief zum Ungehorsam gegenüber diesem "System" auf und sympathisierte mit den damals vorherrschenden Alternativbewegungen. Doch die Lage ist heute völlig anders. Rechtsextreme Verschwörungsidioten, PEGIDA, eine AfD, die Nazis in ihren Reihen duldet und fördert, irre Reichsbürger und andere Wirrköpfe bilden heute eine aggressive Gegenkultur gegen den Staat, seine Repräsentanten und die liberalen Medien. Wutbürger greifen gegenüber Polizeibeamten, Feuerwehr und Sanitätern zu körperlicher Gewalt. Da muss sich die Satire vor diesen Staat stellen und vielleicht auch mal – entgegen all ihrer eigenen Traditionen – zum Gehorsam aufrufen. In solch einer politischen Situation, in der so viel Schützenswertes bedroht wird, sollten auch die Kabarettisten und Satiriker in der Lage sein, ihre eingespielten Reiz-Reflex-Mechanismen radikal umzubauen.

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Wagenbau ist Teamarbeit. Tilly und sein Düsseldorfer Team. (© Team Tilly)

Wirst Du deshalb von rechts so angefeindet?

"Systemling" und "Systemhure" sind noch die harmloseren Beschimpfungen. Und sie stimmen ja im Kern auch, ich stelle mich in der Tat vor unser politisches System, trotz all seiner Schattenseiten und Unzulänglichkeiten. Wenn ich mich in der Welt so umschaue, dann bin ich sehr froh, hier in Deutschland eine Freiheit und Rechtssicherheit genießen zu dürfen, die ihresgleichen sucht und die weltweit auf dem Rückzug ist. Ein Blick nach Polen genügt ja schon. Unsere Demokratie funktioniert, im Gegensatz zu den beklagenswerten Zuständen in den sogenannten Mutterländern der Demokratie, in Großbritannien und den USA. Diese kostbaren politischen Errungenschaften lasse ich mir von durchgedrehten Hysterikern, verquasten "Querdenkern" und selbst ernannten "Widerständlern" nicht niederschreien. Wer Merkel für eine Diktatorin hält, der hat auch nicht den Hauch einer politischen und historischen Bildung. Zum Glück sieht das hierzulande nur eine kleine, wenn auch lautstarke Minderheit so – die aber dennoch großen Schaden anrichtet.

Wenn es einen Zug geben sollte: Werden die aktuellen Verschwörungstheoretiker und "Covidioten" als Wagenmotiv bei Dir auftauchen?

Ich mache mir nie vor Neujahr Gedanken über die politischen Wagen. Was jetzt aktuell ist, ist im Februar meist schon kalter Kaffee. Und Aktualität ist Trumpf bei meiner Arbeit. Aber klar, mir juckt es schon in den Fingern, gerade hierzu meinen närrischen Senf dazuzugeben.

Über positives öffentliches Feedback kannst Du Dich nicht beklagen. 2019 sind Deine Wagen in 1.500 Artikeln in fast 100 Ländern gezeigt worden und nun ist auch schon das fünfte Buch über Deine Arbeit erschienen. Motiviert Dich das?

Der Sinn der Wagen ist ja, dass sie gesehen werden und wirken, darum freut mich jede Veröffentlichung. Nur die wenigsten Menschen können die Wagen ja live am Straßenrand sehen, deshalb ist die mediale Verbreitung auch in den sozialen Netzwerken sehr wichtig. Und in Büchern wird diese ziemlich vergängliche Kunst langfristig bewahrt und zugänglich. Natürlich spornt mich ein positives Feedback an. Aber ich schiele nicht ständig nach Beifall. Meine Arbeit muss vor allem vor mir selbst bestehen können, da bin ich selbst mein schärfster Kritiker.

Was ist denn der Schwerpunkt Deines jüngsten Buches?

Das letzte Buch "Despoten, Demagogen, Diktatoren" ist 2018 erschienen. Darum werden im aktuellen Buch "MEHR WAGEN" vor allem die politischen Wagen von 2019 und 2020 gezeigt. Aber während die vorherigen Bücher den Schwerpunkt auf der Politik und dem Endergebnis, also den fertigen Wagen und den Reaktionen darauf hatten, geht es diesmal auch um das "Making Of". Darum ist die Hauptperson in diesem Buch mal nicht der werte Herr Tilly, sondern mein Team. Jedes Teammitglied wird vorgestellt und man erfährt sehr viel über den technischen und künstlerischen Entstehungsprozess. Alles, was wir machen, ist ein Gemeinschaftsprodukt. Klar, die Ideen stammen meist von mir, aber ohne ein Team, das die Entwürfe unter großem Zeitdruck so hervorragend ausführt, wäre ich nichts. Von dieser Symbiose erzählt das Buch.

Die Wagen werden ja nach Rosenmontag alle zerstört und leben nur in den Fotos und Filmen weiter. Tut Dir das nicht weh, die Wagen am Tag nach Rosenmontag zu verschrotten?

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Jacques Tilly beim postkarnevalistischen Zerstören seiner Wagen. (© Eva Witten)

Ja, fast alle politischen Wagen überleben den Veilchendienstag nicht. Sie hatten ja ihren Auftritt, womit sie ihren Lebenszweck erfüllt haben. Doch in letzter Zeit gibt es verstärkt Ausnahmen. Direkt nach Rosenmontag erreichten mich immer wieder Bitten aus verschiedenen Ländern, einige Wagen nicht zu zerstören, sondern noch einmal "vor Ort", also in den Ländern, auf die sie sich beziehen, fahren zu lassen. So habe ich inzwischen schon vier Wagen nach England "exportiert", die dann dort von Europafreunden im Kampf gegen den absurden und völlig sinnlosen Brexit eingesetzt wurden. Ebenso viele Wagen fuhren durch Polen, um gegen den Demokratieabbau der rechtskonservativen PiS-Regierung zu demonstrieren. Ein Wagen aus Düsseldorf fuhr auch schon durch Prag. Und die politischen Aktivisten sind extrem dankbar für die Schützenhilfe aus Düsseldorf. Denn die Wagen haben auch im Ausland eine sehr starke mediale Durchschlagskraft, sie gehen direkt ins emotionale Zentrum des Betrachters. Der Satz "Ein Bild sagt mehr als tausend Worte" ist ja keine leere Floskel.

Kann denn Satire wirklich etwas bewirken?

Wie zu allen Zeiten hat die Satire auch heute die Aufgabe, gesellschaftliche oder politische Fehlentwicklungen, Skandale und jede Form des Machtmissbrauchs humorvoll aufzuspießen. Satire stärkt das Immunsystem einer jeden Gesellschaft für die Abwehr totalitärer und autoritärer Bestrebungen. Ich sehe sie als Teil der "vierten Gewalt", der sogenannten "Publikative". Und man sollte ihre Wirkung nicht über-, aber auch nicht unterschätzen.

Nun gibt es totalitäre Bestrebungen nicht nur am rechten Rand, auch aufseiten der Linken gibt es verstärkt Zensurbestrebungen. Wie positionierst Du Dich da?

In der Tat kann man seit einiger Zeit beobachten, dass eine freiheitliche Atmosphäre für die Kunst- und Humorschaffenden von beiden Seiten des politischen Spektrums eingeengt wird. Die Angriffe vor allem im Verlauf der letzten Monate kommen diesmal aus den vermeintlich eigenen Reihen aus dem eher linksliberalen, progressiven und emanzipatorischen Spektrum der Gesellschaft.

Kannst Du ein paar Beispiele nennen?

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Von Aktivisten in anderen Ländern werden einige von Tillys Wagen nach dem Karneval weiterverwendet, wie hier in Polen. (© Jacques Tilly)

Die altehrwürdige Karikaturistin Franziska Becker wird von jungen Feministinnen als Rassistin beschimpft, weil sie sich in ihren Karikaturen gegen die Islamisierung von Migrantenkindern und gegen Kopftücher für kleine Mädchen ausgesprochen hat.

Der Comiczeichner Ralf König wird als "transphob" und rassistisch bezeichnet und wird aufgefordert, seine eigene Arbeit, in diesem Fall ein Wandbild in Brüssel, zu überpinseln. Ausgerechnet Ralf König. Und Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling wird gerade von rechts und links in die Zange genommen. Vor einem Jahr haben durchgeknallte polnische Priester ihre Harry-Potter-Bücher verbrannt, weil diese Bücher "Propaganda für Hexerei und Dämonen" machen würden. O.K., von dieser Seite kann man solcherart gefährlichen Stuss erwarten. Aber seit sie sarkastisch bemerkte, dass man doch statt "menstruierende Menschen" ruhig den alten Begriff "Frau" nutzen könnte, ging die Minderheit der Transfrauen und alle, die sich mit ihren solidarisierten, also die LGBTI-Szene, auf die Barrikaden. Auch hier wurden Rowlings Bücher verbrannt, wenn auch nur virtuell/digital.

Die Klamotte um die geplante Hamburger Lesung der Kabarettistin Lisa Eckhart gehört in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt. Genauso wie Dieter Nuhr, der für seine kritischen Äußerungen zu Greta Thunberg heftig attackiert wurde.

Nun war gerade Dieter Nuhrs Angriff auf die FFF-Bewegung doch in der Tat fragwürdig. Sind solche Debatten nicht vielmehr ein sinnvoller Ausdruck einer wirklichen Streitkultur?

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In Großbritannien sind derzeit besonders Tillys Brexit- und Johnson-kritischen Motive gefragt. (© Team Tilly)

Ich selbst sehe Greta und die Fridays-for-Future-Bewegung auch anders, nämlich sehr viel positiver als Dieter Nuhr. Ich habe da einen ganz anderen Standpunkt. Und einige Äußerungen von Lisa Eckhart halte ich zumindest für grenzwertig. Auch Satiriker und KabarettistInnen können sich irren und dürfen selbstverständlich kritisiert werden. Auch die Kritiker müssen Kritik an ihrer Kritik ertragen, so sind nun mal die Spielregeln einer offenen Streitkultur. Und man muss es auch hinnehmen, dass sich die Wertordnung der Gesellschaft allmählich wandelt und man heute die Dinge unter Umständen anders sieht als noch vor etwa 50 Jahren. Und manch blutrünstiger Kolonialist muss nicht für ewig als Denkmal verherrlicht bleiben, wenn sich die Gesellschaft und damit die Sicht auf die Geschichte wandelt, da bin ich ganz d'accord.

Was mich aber wirklich besorgt, ist dieser neuartige Furor an Verbissenheit, Unerbittlichkeit und Selbstgerechtigkeit, der sich hier Bahn bricht. Die Künstler werden nicht nur kritisiert, sie sollen in ihrer künstlerischen Existenz zu Fall gebracht werden. Sie sollen nichts mehr schreiben, zeichnen, nicht mehr auftreten dürfen, werden ausgeladen, boykottiert und geächtet. Und das geht einfach zu weit. Dann kippt die ganze Sache. Der Gipfel für mich war dann erreicht, als ich lesen musste, dass selbst das Kinderbuch "Jim Knopf" rassistisch sei und aus Kitas und Bibliotheken entfernt werden müsse.

Kannst Du das genauer erläutern, was es mit den Vorwürfen gegen Jim Knopf auf sich hat? Und was hier Deiner Meinung nach falsch läuft in der Rassismusdebatte?

Ausgerechnet das Buch mit meinem Kindheitshelden Jim Knopf – verfasst auch noch in den recht reaktionären 50er-Jahren – ist in meinen Augen geradezu ein Paradebeispiel für antirassistische Kinderbuchliteratur. Doch im Juli dieses Jahres hat eine Pädagogin namens Christiane Kassama in der Zeit Online vor Jim Knopf gewarnt. Denn hier würden unbewusst rassistische Klischees und Stereotypen bedient. Und die Begründung lautete, und jetzt zitiere ich Kassama: "Jim Knopf ist so, wie sich Weiße ein lustiges, freches, schwarzes Kind vorstellen." Das war's. Mehr gab es nicht zu beanstanden. Ja, wie, das frage ich jetzt in aller Deutlichkeit, sollte Michael Ende denn sonst einen kindlichen Protagonisten darstellen, wenn nicht frech und lustig? Das Urmel, Pippi Langstrumpf, der Pumuckl, die sind alle frech und lustig.

Liebe Rassismusjäger, sucht und bekämpft doch bitte den Rassismus vor allem dort, wo er wirklich und nachweislich existiert, nämlich in der rechtsextremen Gegenkultur, bei den Trumps, den Identitären und AfDlern. Da lohnt es sich wirklich.

Was haben denn diese Entwicklungen für Auswirkungen auf die Arbeit der Künstler und Satiriker?

Wenn sich diese Tendenz in den nächsten Jahren noch verstärkt, wird Satire, wie wir sie jetzt noch kennen, unmöglich. Jeder Künstler und Humorist wird dann versuchen, sich nach allen Seiten abzusichern, damit nicht möglicherweise irgendeine Minderheit, von deren Existenz er ja unter Umständen noch nicht einmal wusste, sich als beleidigtes Opfer darstellt und eine Ächtungskampagne in die Wege leitet. Ich habe jedenfalls nicht vor, mir von einer Gesinnungspolizei – gleich welcher Couleur – vorschreiben zu lassen, was eine Karikatur darf und was nicht.

Satiriker, Künstler und Humoristen aller Art sind dazu da, (fast) alles und jeden durch den Kakao zu ziehen, lächerlich zu machen, Grenzen zu sprengen, sich auch mal hemmungslos zu irren, von ihrer Freiheit, die Dinge anders zu sehen und darzustellen, Gebrauch zu machen, zu irritieren – und eben auch mal die eigene Klientel vor den Kopf zu stoßen. Genau das ist ihre Aufgabe. Sie sollten einen möglichst großen Freiraum haben, denn die Kunst ist für jede Gesellschaft das wichtigste Experimentierfeld. Die Gesellschaft profitiert enorm davon. Sie wird pluraler, offener, veränderungswilliger, bleibt in Bewegung und erhält neue Impulse. Wenn die Künstler und Humoristen diese Funktion nicht mehr wahrnehmen dürfen, dann – und jetzt leihe ich mir eine schon recht abgegriffene Formulierung der Bundeskanzlerin – wäre dies kein Land mehr, in dem wir gut und gerne leben.

Jacques Tilly: MEHR WAGEN. Das Werkstattbuch. Hrsg. Eva Witten. Alibri Verlag | 128 Seiten | gebunden | 16 Euro | ISBN 978-3-86569-313-6

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