Die Radikalisierung von Gudrun Ensslin

Die Studie des an der Universität der Bundeswehr in München lehrenden Erziehungswissenschaftlers Alex Aßmann "Die Geschichte einer Radikalisierung" behandelt das Leben Gudrun Ensslins bis zu ihrem Schritt in den Untergrund, der mit der Befreiung von Andreas Baader im Mai 1970 begann. Folglich handelt es sich bloß um eine Biographie für die Vor-Terrorismuszeit.

Gudrun Ensslin, geboren 1940 als Tochter eines Pfarrers aus dem Schwäbischen, gehörte mit Andreas Baader, Horst Mahler sowie Ulrike Meinhof zu den Mitbegründern und zum harten Kern der ersten Generation der "Roten Armee Fraktion". Ihr wurde in der Forschung weitaus weniger Aufmerksamkeit geschenkt – erst 2017 erschien eine Biographie über sie aus der Feder von Ingeborg Gleichauf. Die Radikalisierung bezieht sich also nur auf die Zeit bis Ende der 1960er Jahre, auf die Phase von der Demokratin bis zur Extremistin, die zweite Phase der Radikalisierung bleibt also ausgespart.

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Für den Verfasser ist Ensslin der Prototyp einer Radikalen. Die Ursachen ihrer Radikalisierung binnen kurzer Zeit, die keineswegs folgerichtig war, will er einfangen. Bei der Schilderung ihrer Lebensstationen (Elternhaus, Schulbesuch in den USA in den 1950er Jahren, Beziehung mit Vesper, Mitarbeit im Wahlkontor der SPD, Studentenbewegung in Berlin, Kaufhausbrandstiftung, Heimkampagne) kommen allerdings Ensslins Beweggründe nicht recht zur Sprache. Vielleicht wird beim Prozess der Radikalisierung die Rolle ihrer Partner unterbelichtet betrachtet. Mit Bernward Vesper, Sohn des NS-Schriftstellers Will Vesper, hatte sie ein Kind, mit Andreas Baader (und zwei anderen) hatte sie aus Protest gegen den Krieg der Amerikaner in Frankfurt am Main zwei Kaufhäuser in Brand gesteckt. Neu ist die plausibel begründete These, Ensslin habe sich von Vesper nicht wegen Baader getrennt, und Ihre Liaison mit diesem sei anfangs keineswegs stürmisch gewesen.

Die Stärke der Studie: Detailliert und einfühlsam wird Ensslins Leben bis Ende der 1960er nachgezeichnet, auch aufgrund neu erschlossener Quellen. Allein die Zeit bis Ende der 1950er Jahre nimmt mehr als ein Drittel des Umfangs ein. Der Leser erfährt manches über die protestantische Lebensform – so verkehrten bei ihrem liberalen Vater, der im Dritten Reich nicht "mitgemacht" hatte, die SPD-Politiker Fritz Erler und Gustav W. Heinemann –, und ihm war der Befund nicht bewusst, die Jahre nach dem Krieg seien Jahre einer "ungezügelten Sexualität" (S. 66) gewesen.

Die Schwäche: Der Verfasser kann nicht recht die Ursachen für die Radikalisierung nachvollziehen. Seine These lautet, "dass sich der Radikalisierungsprozess eines Menschen auch als Bildungsprozess rekonstruieren lässt" (S. 18). Bildung habe Radikalität gefördert, Radikalität Bildung. Aber wieso hat Ensslin, Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes, die Arbeit an ihrer Dissertation über den Schriftsteller Hans Henny Jahn nicht ernsthaft betrieben? Die Behauptung, "Stipendiatin zu sein, ist für sie eine andauernde moralische Prüfung" (S. 154), nimmt Ensslins Aussage für bare Münze. Eine Zäsur stellt für Aßmann der Todesschuss auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 anlässlich der Demonstration gegen den Schah dar. Doch das gilt auch für andere, die nicht in den Terrorismus abglitten. Die Annahme, der Anwalt Horst Mahler sei für Ensslin in der zweiten Hälfte "die passende Schlüsselfigur" (S. 189) gewesen, wird nicht näher begründet.

Insofern ist der Titel ein Etikettenschwindel. Das Urteil über die flüssig geschriebene und ausgezeichnet recherchierte Arbeit fällt damit ambivalent aus. Sie leistet einen guten Beitrag zur Atmosphäre in den 1960er Jahren, trägt aber wenig dazu bei, die Ursachen für Ensslins Radikalisierung aufzuhellen. Waren es die Umstände? Lag dies in ihrer Person begründet? Oder trugen ihre Partner maßgeblich dazu bei? Wahrscheinlich spielt ein ganzes Ursachenbündel hinein.

Alex Aßmann, Gudrun Ensslin. Die Geschichte einer Radikalisierung, Paderborn 2018 (Schöningh Verlag), 271 S., 24,90 Euro.