Szene 7: Die Bühne dreht sich. Michael Gerber steht im Glasraum, eine gute Inszenierung. Zwei Stimmen beginnen eine Geschichte zu erzählen, seine Umwandlung zum Transvestit. Am Schluss ist nur noch Anna Blomeier auf der Bühne - die Umwandlung ist vollendet, das gespaltene Ich wieder eins.
Szene 8: Eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönt, Alexander Khuon bewegt sein Mund dazu - „ Hey Schatz, ich glaub ich will dich lieber loswerden“, eröffnet er Anna Blomeier. Eine erfrischende Szene. Die Beziehung scheitert, aber er profitiert und macht Karriere in der Musikszene „ Ich danke dir - ja ja, ist alles ganz gut“, während sie vor Wut schäumt.
Szene 9: Wieder ein Paar, verbittert steht sie neben ihm, während er erzählt. Es geht um die Fresssucht, das Loch, in dem er sich wieder findet: kein Job, kein Geld, Alkohol, sein Leben scheint am Ende- doch dann der Kampf, der Scham. Sie verlässt die Bühne, er erzählt weiter. Eine Magen OP, das nächste Loch: Wohin geht es jetzt? Ziele stecken, doch was für welche? Es ist authentisch, man beginnt nachzuvollziehen, versteht die Verzweiflung.
Szene 10: Alle drei sitzen am Tisch und trinken Kaffee, Gelächter.
Szene 11: Michael Gerber wieder alias Heide Simonis. Dieses Mal geht es um den Tanzwettbewerb. Ja, „ manchmal ist es besser den Raum zu verlassen“. Zurück bleibt Alexander Khuon.
Szene 12: Er stellt sich vor das Publikum, es wird ernst. Dann, wie Frauen keine Erektion bei ihm hervorrufen, sein Kopf klar bleibt, als ob er eine Stulle schmiere. Gelächter. Er machte sich auf die Suche nach dem Kick, von Sado Maso bis zu Domina - Spielen und Gruppensex – erfolglos. Bis er eines Tages seine Erregung gegenüber seiner Nichte entdeckte. Stille. Authentisch stellt Alexander Khuon die innere Gefühlswelt eines Pädophilen dar. Die gesellschaftliche Praxis, Pädophile mit Tätern gleichzusetzen. Sein Schweigen und seine Angst, seine Familie zu verlieren. Der Weg, der ihn auf die zu zahlenden Internetseiten bringt. Der Versuch ein neues Leben zu beginnen. Die Verkrampfung und zugleich die Erregung beim Gedanken an die Stimme, an die Körperform, an die linkische Bewegung junger Mädchen. Nur Khuons Mundwinkel spiegeln diese Zwiespältigkeit wider, fantastisch gespielt. Es geht um Schuld und Eigenverantwortung und Hilflosigkeit. Das Loslassen von der Vorstellung eine Familie zu haben und die Unmöglichkeit ein soziales Netzwerk aufzubauen, denn solange Pädophile als Täter angesehen werden, wie soll er sich Freunden gegenüber öffnen, ohne sie zu verlieren, ohne in die Ecke der Täter gestellt zu werden? Doch wie soll er gegenüber seiner Pädophilie stark bleiben, wenn Einsamkeit doch der größte Feind bleibt?
Eine ergreifende Szene, nicht vollgeladen mit Melancholie, aber die vom Kampf zwischen Vernunft und Wünschen handelt, von Kapitulation und Möglichkeiten und gesellschaftlichen Barrieren. Eine Sekunde länger und die Qualität der Szene hätte gelitten.
Dann geht das Licht aus. „ Kapitulation“ ist zu Ende. Das Publikum klatscht begeistert, will gar nicht mehr aufhören.
Die letzte Szene hat das ganze Theaterstück noch einmal aufgewertet. Sie erweitert Horizonte, man nimmt etwas an Erkenntnis mit, überdenkt vielleicht seine Einstellung hinsichtlich Pädophilie. Depressive Fresssüchtige, alleingelassene Mütter, karrieregescheiterte Gestalten – ja, das sind Geschichten aus dem Alltag, die nicht unbedingt unbekannt sind. Hätte man den Geschichten etwas mehr Zeit gelassen, sich noch mehr zu entfalten, vielleicht hätten sie mehr Eindruck hinterlassen, hätten sie einen mehr berührt. Doch bevor man überhaupt in einer Szene angekommen war, fing schon die nächste an. Die Übergänge waren verwirrend, die Rollenverteilung erst spät deutlich.
Dieses Rätselraten kann durchaus sehr positive Effekte haben. Die künstlerische Gestaltung der Szenen war kreativ, das Besondere aus manch öde erscheinender Alltagsgeschichte wurde hervorgelockt. Die schauspielerischen Fähigkeiten, vor allem von Anna Blomeier und Alexander Khuon, haben den Figuren Authentizität verliehen, haben einen in die Welten dieser Personen geführt.
Doch leider sind genau diese künstlerisch wertvollen Feinheiten in der Quantität, 12 Szenen in nur zwei Stunden, etwas untergegangen. Warum die Szenen 1, 2, 5, 10 und 11 nicht einfach weglassen? Wozu das Geigenspiel oder der Tanzwettbewerb von Heide Simonis?
Wollte man mit dieser Zügigkeit, ein Thema nach dem anderen anzureißen, auf das moderne Zeitverständnis und die Oberflächlichkeit, mit der vor allem unangenehme Themen behandelt werden, hinweisen? Eine Zeit, in der selten nach den Ursachen von Problemen gefragt wird, sondern in der der Fokus darauf liegt zu reparieren und Unannehmlichkeiten schnellst möglichst vom Tisch zu wischen, an den Rand der Gesellschaft verschwinden zu lassen?
Die zweite Folge „Kapitulation“ hat es auf jeden Fall erreicht, sein Publikum zu verwirren, es anzuregen und nachdenklich zu stimmen. Auch die Schwere der Themen war durchaus zu ertragen – zwar basieren die Geschichten auf den Interviews vom Journalisten Dirk Schneider, die hier in Berlin geführt worden sind, doch ob die Thematiken so Berlin spezifisch sind, sei dahergestellt.
Theresa Siess
Deutsches Theater, Berlin: „Geschichten von hier – Kapitulation“ ein Projekt von Frank Abt / Bühne und Kostüme Anne Ehrlich / Dramaturgie Meike Schmitz / Interviews Dirk Schneider / Besetzung Anna Blomeier, Michael Gerber, Alexander Khuon
Weitere Termine: 22. September 2010 (20.30 Uhr), 05. Oktober 2010 (20.30 Uhr ), 09.Oktober 2010 (19.30 Uhr), 31. Oktober 2010 (20.30 Uhr)