Das "politische Berlin" und die Provinz

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Foto: Deutscher Bundestag / Achim Melde

BERLIN. (hpd) Wie präsentiert sich das „politische Berlin“ dem Bürger aus der „Provinz“? Das selbst zu erkunden, führte kurz nach dem 3. Oktober auch 46 Menschen aus Mittelthüringen für drei Tage in die deutsche Hauptstadt.

Hierfür nutzten sie die Möglichkeit einer „Informationsfahrt für politisch interessierte Bürger“, wie sich solche Berlin-Touren im Amtsdeutsch nennen: Jeder einzelne Bundestagsabgeordnete hat das Recht, pro Jahr zu zwei derartigen Reisen einzuladen. Bewerben kann sich hierfür jeder Bürger aus seinem Wahlkreis, unabhängig davon, ob man Mitglied oder Wähler der Partei des einladenden Abgeordneten ist. Die Teilnehmerzahl wird lediglich durch die Kapazität der Reisebusse begrenzt, also maximal 50 pro Fahrt. Den Reisenden entstehen keine Kosten, auch nicht dem einladenden Bundestagsabgeordneten. Die Kosten für solche Informationsfahrten trägt gemäß seinem Auftrag das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.

Die thüringische Gruppe setzte sich zu etwa Dritteln aus Teilnehmern eines Jugend- und eines Frauenprojektes zusammen. Lediglich ein Drittel war Mitglied der Partei ihrer Einladerin, der LINKEN-MdB Luc Jochimsen.

Über Jugend-Subkulturen

Der erste Besuchstag führte die Thüringer in die Bundeszentrale für politische Bildung. Hier wurden sie zunächst mit der Geschichte und den vielfältigen Aufgaben dieser nachgeordneten Bundesbehörde vertraut gemacht. Den Hauptteil dieser Informationsveranstaltung bestritt eine Mitarbeiterin des Vereins Archiv der Jugendkulturen e.V.

Mitarbeiterin Monica Havelke gab mit einem sehr engagierten Vortrag Einblicke in das Angebot ihres Vereins, der sich nicht nur mit dem Archivieren von Publikationen und Datenträgern befaßt. In besonderem Maße treten Vereinsmitarbeiter in Schulen auf, um dort einen ganz spezifischen Beitrag zur politischen Bildung von Kindern und Jugendlichen zu leisten. Ausgehend von den jeweiligen Interessen der Schüler. Wie das Projekt „Culture on the road“ funktioniert wurde anhand eines Videos dargestellt. Allerdings wurde auch nicht verschwiegen, daß die Zukunft des Vereins gefährdet ist. Wie zumeist liegt das an unzureichender öffentlicher finanzieller Förderung des von der Politik so gern beschworenen Ehrenamtes...

Propaganda statt Informationen

Völlig anders sah es am folgenden Tage aus. Dieser begann mit einem Besuch im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Im Mittelpunkt dieser Veranstaltung stand ein nur peinlich zu nennender Propagandafilm über die derzeit amtierende Ministerin Kristina Schröder (CDU). Offen wurde in den wenigen verbleibenden Minuten, daß es keine langfristige und nachhaltige Gesamtpolitik gibt, sondern daß lediglich zeitweilige und punktuelle Projekte „gefördert“ werden.

Widerspruch wurde laut, und das aus allen drei Dritteln dieser Besuchergruppe, als der referierende Beamte verkündete: Das Ministerium ist nicht zuständig für die Formung von Gesellschaftsbildern. Unisono meinten die Thüringer, das mag für das Ministerium an sich stimmen, doch die Bundespolitik gäben finanzpolitisch durchaus und sehr spürbar ein Gesellschafts- und Ideal-Familienbild vor. Und zwar mit dem „Ehegattensplitting“ das der längst überholten und nicht mehr allgemeingültigen bürgerlichen Ehe aus alleinverdienendem Ehemann, nicht berufstätigen Ehefrau und -mutter, egal ob mit oder ohne Kinder. Jede andere Form des Zusammenlebens würde auf diese Weise außerhalb der Norm gestellt, meinten die Frauen und Männer unabhängig von ihrem Alter und ihrer sozialen Stellung.

Zum Nachmittagsprogramm gehörten Besuche in der Thüringer Landesvertretung sowie im bereits 1925 gegründeten Antikriegsmuseum.

Im Reichstag

Der dritte Besuchstag führte die Gruppe in den Reichstag. Hier konnten sie zunächst eine Stunde lang von der Besuchertribüne des Plenarsaales der laufenden Debatte folgen. Hier ging es um die „Ökonomische Wirkung der Konjunkturpakete“. Gerade die Ausführungen des FDP-Redners wirkten auf die Thüringer: Sie ballten die Fäuste in den Hosentaschen angesichts der schönfärberischen „Erfolgsgeschichte von Schwarz-Gelb“ und der schamlosen Verhöhnung von Langzeitarbeitslosen...

Einem Besuch der Kuppel schloß sich dann der letzte politische Punkt an, ein Gespräch mit der einladenden Abgeordneten. Luc Jochimsen traf den Nerv ihrer Gäste, als sie nicht nur über Allgemeinparlamentarisches und Fraktionelles sprach, sondern auch auf sehr persönliche Fragen zu ihrem beruflichen und politischen Lebenslauf einging.

Berlin ist immer eine Reise wert

Man muß nicht nur wegen der Politik nach Berlin fahren. Die sich dynamisch entwickelnde Stadt ist immer eine Reise wert. Das zeigte sich auch bei der sich „an politischen Gesichtspunkten orientierenden Stadtrundfahrt“. Eine solche Tour ist stets fester Bestandteil dieser Informationsfahrten.

Der Verfasser dieser Zeilen hat nicht zum ersten Mal an einer solchen Rundfahrt teilgenommen und kann daher einschätzen: Dieses „Sightseeing“ hob sich wohltuend von früheren Fahrten ab, es war nicht politisch korrekt... Es war also keine billige Propaganda. Stattdessen zeigte und erklärte ein Kreuzberger Original seine Stadt – von den Anfängen über die verschiedenen politischen Systeme und die weltkriegsbedingte Teilung bis zum heutigen Berlin. Faktenreich und zugleich mit Berliner Witz wurde so die Metropole lebendig, ihre Schattenseiten ebenso wie ihre Glanzpunkte.

SRK