Rapsch: Ja, aber diese Organisationen können Einfluss nehmen. Sie sollten sagen: „Wenn ihr euer Kind beschneiden lasst, bekommt ihr kein Geld von uns, da ihr es verstümmelt und ihm schadet.“
Stuart: Also sollten Humanisten das publik machen?
Rapsch: Ja. Die einzige Organisation, die ich kenne und die sich dieses Themas annimmt, heißt WHOA.
Stuart: Australier halten Deutschland für die Wiege des Europäischen Individualismus und sind daher über die Verflechtung von Kirche und Staat überrascht. Wir meinen, Deutschland sei ein Bannerträger der Säkularisierung, zwar ohne Zweifel sehr religiös aber als Privatsache. Inwiefern ist es keine Privatsache? Und wie kam es dazu? Ist es eine Geschichte, die bis zum Kaiser zurückgeht?
Rapsch: Nun, sogar noch weiter. Im Mittelalter erhielten nicht nur weltliche Fürsten, wie z.B. Herzöge, ihr Land vom Kaiser als Lehen, sondern auch Kirchenvertreter wurden Vasallen. Dies führte zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem Kaiser und der Kirche über das Recht, einen Bischof einzusetzen, den sogenannten Investiturstreit: Der Kaiser meinte, er würde natürlich berechtigt sein, zum Bischof zu ernennen wen immer er wollte, denn es sei ja schließlich sein Land, wohingegen der Papst meinte, sein Reich sei nicht von dieser Welt, nur er könne Menschen erheben oder erniedrigen. Dies geschah bereits recht früh, im 11. Jahrhundert, als der Kaiser schließlich nach Canossa gehen musste um sich vor dem Papst in den Staub zu werfen, da dieser ihn zuvor mit dem Kirchenbann belegt hatte. Später kam es zwischen Protestanten und Katholiken zum Dreißigjährigen Krieg, der das Deutsche Reich verwüstete und es in viele kleine Fürstentürmer aufgeteilt hinterließ. Das Deutsche Reich existierte weiter bis 1805, als es durch Napoleon Bonaparte abgeschafft wurde.
Aber bereits 1803, als Napoleon die westrheinischen Fürstentümer besetzt hielt, verloren einige Herzöge und Grafen ihr Ländereien und etwas musste geschehen, da diese von dem Land lebten und weder willens noch in der Lage waren für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Also wurde ein Beschluss gefasst, Kirchenländereien aufzulösen und den Gebieten säkularer Herrscher zuzuschlagen. Plötzlich hatten die Kardinäle und Bischöfe keine Lehnsgüter mehr, und mussten daher vom Staat unterhalten werden. Dieser Ausgleich war allerdings nur für eine Generation gedacht, wird tatsächlich aber bis zum heutigen Tag gezahlt. Die Grundlage für die Besoldung der Kirchenfürsten durch den Staat wurde also bereits 1803 gelegt.
Um 1870 führte der damalige Reichskanzler Bismarck einen sogenannten „Kulturkampf“ gegen die Katholische Kirche, den er verlor. Er war lediglich in der Lage, die „Zivilehe“ einzuführen, bei der die Ehepartner verpflichtet sind, ihre Ehe durch eine staatliche Einrichtung bestätigen zu lassen. Man kann zwar zusätzlich eine Zeremonie in einer Kirche durchführen lassen, aber diese allein macht die Verbindung nicht gültig. Bismarck gelang es nicht, Deutschland weiter zu säkularisieren. Er wurde noch erreicht, dass Religionsunterricht durch den Staat angeboten wurde. Seitdem kann die Kirche auch verlangen, dass ein gewisser Prozentsatz der Professorenstellen in Deutschland durch die Kirche vergeben wird, da die Kirche diese Professuren praktisch besitzt. Ein weiterer Schritt zur Verflechtung von Staat und Kirche.
Als Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, wurde er unverzüglich vom Vatikan um den Abschluss eines Konkordats, eines Vertrages zwischen dem Deutschen Reich und dem Vatikan, ersucht.
Stuart: Glaubst Du persönlich, dass Hitler Katholik war? Manche Leute behaupten, er sei Atheist gewesen.
Rapsch: Nun ja, er war definitiv kein Atheist, er glaubte ja unter anderem an die Vorsehung. Er wurde zwar als Katholik erzogen, aber ich würde ihn nicht als strenggläubigen Katholiken bezeichnen. Aber er war auch kein Atheist. Ihm war sehr wohl bewusst, wie er die Kirche instrumentalisieren konnte und er wurde unbestreitbar von der katholischen Kirche unterstützt. Erst 1944 wandten sich einige Kardinäle gegen ihn, aber das war sehr spät, als bereits das Ende absehbar war. Widerstand, sofern es die Kirche betraf, kam aus den Reihen der Protestanten, allerdings gegen den Willen ihrer Kirche. Die Kirchenorganisationen unterstützten Hitler voll und ganz. Durch den methodistischen Hintergrund meine Freundin beschäftigte ich mich auch mit der Rolle dieser Kirche im Dritten Reich und erfuhr, dass die Methodisten Hitler bis zum Schluss unterstützen, er ist durch sie nie kritisiert worden – eines der dunklen Kapitel dieser Kirche.
In den fünfziger Jahren wurde die Gültigkeit des Konkordats bestätigt und es bleibt bis zum heutigen Tage gültig. Wir haben also derzeit eine Situation, in der die Kirche in Deutschland sehr stark aufgestellt ist, obwohl dies nicht mehr die Bevölkerungsstruktur widerspiegelt. In Deutschland sind zurzeit etwa 30% der Bevölkerung protestantisch, weitere 30% katholisch und der Rest gehört anderen Religionen an oder ist konfessionslos.. Methodisten beispielsweise zählen dabei zu den Protestanten.
Stuart: Erzähl mir jetzt bitte etwas mehr über das Steuersystem, dass durch das Konkordat und andere Einflüsse etabliert worden ist.
Rapsch: Dies ist in der Tat sehr interessant, da der Staat den Kirchen bei der Eintreibung der Steuern hilft. Wenn auf der Steuerkarte „katholisch“ oder „evangelisch“ steht, zieht der Staat automatisch 9% von der Einkommensteuer ein und leitet sie an die jeweiligen Kirchen weiter. Dies ist ein Steuergeschenk des Staates an die Kirchen. Nun wird häufig gesagt: „Wenn Du die Kirche nicht mehr finanziell unterstützen willst, warum trittst Du dann nicht einfach aus und zahlst keine Kirchensteuer mehr?“. Nun, man vermeidet dann zwar, diese 9% Kirchensteuer zu zahlen, verhindert dadurch aber nicht die Finanzierung der Kirchen durch Steuergelder, denn die hauptsächliche Anteil der Finanzierung der Kirchen geschieht durch den Staat mit Steuermitteln. Für Sozialdienste wie z.B. katholische Kindergärten, katholische Krankenhäuser oder evangelische Krankenhäuser steuern die Kirchen nur 2% der Mittel bei, der Rest wird aus Steuermitteln finanziert, also durch jeden: Muslim, Humanist, Atheist oder wen auch immer. Nun behaupten die Kirchen, sie böten ihre Dienste schließlich für jeden an. Ja, das stimmt zwar, aber um z.B. als Krankenschwester in einem katholischen Krankenhaus arbeiten zu können, muss man der katholischen Glaubensgemeinschaft angehören und somit 9% Kirchensteuer zahlen. Das System finanziert sich also nahezu von selbst, da die Angestellten gezwungen sind, für die Kirchenzugehörigkeit zu zahlen.