Über Helmut Kraussers Roman „Eros".
Der deutsche Romancier und Dramatiker Helmut Krausser, der einem breiteren Publikum vor allem durch
die Verfilmung seines Romans „Der große Bagarozy" bekannt ist, erzählt in seinem neusten Roman „Eros" die faszinierende Geschichte einer lebenslangen Obsession.
Der 13-jährige Alexander von Brücken, Sohn eines sehr reichen Unternehmers, verliebt sich während der Bombenangriffe auf Nazideutschland in die Arbeitertochter Sofie, mit der er im Luftschutzbunker ein Bett teilen muss. Seine Liebe wird umso stärker, als sich die Beiden in den Wirren der letzten Kriegstage aus den Augen verlieren. Als von Brücken später die Mittel zur Verfügung stehen, lässt er so lange nach Sofie suchen, bis er sie gefunden und zu sich geholt hat. Doch Sofie zeigt sich schockiert von der Realitätsferne von Brückens und wendet sich von ihm ab. Seiner Zuneigung tut dies jedoch keinen Abbruch und so lässt er Sofie von einem Heer von Spionen, darunter auch sein bester Freund Lukian, Sohn des früheren Geschäftsführers der Firma der von Brückens, beobachten. Doch seine Liebe zu Sofie, die sich inzwischen zur wahren Besessenheit entwickelt hat, lässt ihn auch immer wieder trotz moralischer Bedenken in ihr Leben eingreifen, so verhilft er ihr später, unerkannt von Sofie, unter anderem zur Flucht aus der DDR.
Von seinem seltsamen Verständnis von Liebe ausgehend macht sich von Brücken zu einem gottgleichen Herrn über Sofies Schicksal, der jederzeit bereit ist, das Leben Sofies nach seinen Wünschen zu gestalten. Verloren in seinem Wahn und geblendet von seinem Reichtum und seiner Macht scheint Sofie für ihn zu einer Puppe bar jeder Selbstbestimmung und zu einer Bühne seiner Eitelkeit geworden zu sein.
Die Erzählung der von Brücken'schen Vita ist von einer Rahmenhandlung umgeben, in welcher der inzwischen von schwerer Krankheit gezeichnete von Brücken einem nicht näher genanntem Autor, dem zweiten Ich-Erzähler des Romans, in der Abgeschiedenheit seines Schlosses seine Lebensgeschichte erzählt. Bereits in dieser Rahmenhandlung wird die Programmatik des Krausser'schen Romans deutlich, nämlich die z.T. recht ernsthaften und düsteren Passagen durch humoreske Stellen aufzulockern. Diese reichen in ihrer Palette von einer Persiflage von Murnaus Stummfilm-Klassiker „Nosferatu" gleich zu Beginn der Erzählung hin bis zu fast schon boshaft-zynischen Kommentaren über den Zweiten Weltkrieg. Diese Mischung aus Ernsthaftigkeit und immer wieder auftretender Komik ist einer der Vorzüge dieses Romans und sorgen zusammen mit der sehr klaren, fast durchgehend schnörkellosen Sprache gleichsam für eine gute und spannende Unterhaltung, als auch für einen gewissen Charme, der den Leser recht unaufdringlich gefangen nimmt und ihm die Charaktere des Romans trotz ihrer diskussionswürdigen Handlungen als sympathisch erscheinen lässt. Vielleicht liegt die Sympathie aber auch in der Identifikation mit den Figuren begründet, denn Krausser gelingt es, sowohl Sofies spätere Abneigung gegenüber von Brücken, als auch von Brücken in seiner Sehnsucht nach der ersten Liebe und sogar in seinem Voyeurismus nachvollziehbar zu gestalten - ein Verdienst der sehr feinen, ambivalenten Zeichnung des Charakters von Brücken, der nicht nur als Voyeur auftritt, sondern zugleich auch die Rolle als Kritiker an seinem eigenen Verhalten einnimmt, der sich durch die Erzählung seines Verbrechens keine Absolution, aber immerhin eine geringe Wiedergutmachung erhofft. Schade allerdings, dass die Figur der Sofie im Vergleich mit von Brücken deutlich oberflächiger und psychologisch nicht allzu fein ausgearbeitet ist. Zwar spricht sich Krausser von jeder Schuld frei, indem er Sofies Charakter nur in den Erinnerungen seines von Brückens beschreibt und zugleich diesen an den Autor zugewandt sagen lässt, dass man Sofie so ungenau wie möglich darstellen muss, damit jedem Leser eine Projektionsfläche geboten sei, doch scheint eine solche oberflächige Charakterzeichnung in diesem Roman unangebracht: Sofie erscheint dem Leser zuweilen als Schimäre, ein nicht greifbares Phantom dessen Anziehungskraft unerklärlich bleibt.
Vielleicht aber ist auch gerade das Kraussers Intention: zu verdeutlichen, dass es keines besonderen Umstandes, keines außergewöhnlichen Merkmals bedarf damit ein Mensch einem anderem [oder einem Ding] verfällt. Jeder Gegenstand, so alltäglich er auch sein mag, kann, aufgeladen mit einer emotionalen Bedeutung, Grundlage einer Obsession sein. Wenn Krausser diese These verdeutlichen wollte, so ist es ihm gelungen, wenn auch für den Leser nicht sofort ersichtlich. Doch Kraussers Roman ist viel mehr als ein bloßer Diskurs über die Mechanik der Obsession und die damit verbundenen ethischen und moralischen Probleme; der Roman ist auch ein Diskurs über das literarische Schreiben an sich. So fordert von Brücken den namenlosen Autor auf, keine Biografie, sondern einen fiktionalen Roman zu schreiben um sich selbst dadurch als Kunstwerk stilisieren und zugleich eine Möglichkeit von Realität leben zu können: Von Brückens Erzählung ist - so wird schnell deutlich - in vielen Teilen fantasiert; eine schöngefärbte, fast märchenhafte Wirklichkeit, aber keine Biografie. Und so steht hinter dem Roman auch die These, dass fiktionales Schreiben auch immer Bewältigung und Reflexion der eigenen Biografie ist. Keine gewagte These, denn Krausser selbst war einmal vernarrt in eine Frau, wenn auch nicht in dem Ausmaß seines von Brückens.
Krausser, der bereits 1997 mit der Arbeit an „Eros" begonnen hatte, verfasste seinen Roman in insgesamt siebzehn Fassungen, von denen eine laut eigener Aussage über 800 Seiten lang und mit historischen Details gespickt gewesen sein soll. Erst nachdem Krausser gemeinsam mit Tom Tykwer an einer Drehbuchfassung gearbeitet hatte, soll die vorliegende, 318 Seiten lange Fassung entstanden sein, mit der sich Krausser selbst nun äußerst zufrieden zeigt, habe er doch „alles uninteressante" herausgestrichen.
Zwar haben die Kürzungen dazu geführt, dass die historischen Ereignisse nicht mehr als nur bloße, wenn auch gut recherchierte Kulisse sind, doch der Geschichte um einen liebestrunkenen Phantasten, der seine Macht manchmal schon fast zügellos missbraucht, tat dies keinen Abbruch - im Gegenteil: Mit „Eros" schuf Krausser einen gewaltigen Roman, der nicht weniger ist als Literatur auf hohem Niveau.
Benjamin Hahn
Helmut Krausser: „Eros". Köln: Dumont Literatur und Kunst Verlag; (September 2006) 318 Seiten, Euro 19,90 (ISBN 3832179887)