Angriff auf Palliativmedizin

Die Auseinandersetzung bezüglich der Verbindlichkeit von validen Patientenverfügungen hat an Schärfe zugenommen.

 Jetzt zeichnet sich sogar ein Streit zwischen Palliativmedizin einerseits und Vertretern eines Lebens- und Behandlungszwanges andererseits ab.

Im Hinblick auf Lebensschutz und Fürsorgeethik war man sich bisher einig, dass die Palliativmedizin als notwendige Alternative zur „aktiven Sterbehilfe“ zu gelten habe und auszubauen sei. Nun der Eklat. Dem namhaften Palliativmediziner <Prof. Dr. Borasio> (München) wird von Gegnern einer uneingeschränkt möglichen Patientenverfügung „Einschüchterung“ und „Kulturkampf“ vorgeworfen. Ein weiterer Vorwurf gegen Borasio lautet, er setze das Vertrauenspotential der Palliativmedizin leichtfertig aufs Spiel und wische mit „Totschlagargumenten“ Warnungen vor Aushöhlung des Lebensschutzes vom Tisch.

Tatsächlich ist auch der Ton des Münchner Neurologen und Lehrstuhlinhabers für Palliativmedizin, schärfer geworden. Gegnern der Patientenautonomie bescheinigt Borasio „Weltfremdheit“ und schlimmer gewordenen „ethischen Paternalismus“. Als leidenschaftlicher Befürworter des Dialogs zwischen Arzt und Patient hat er sich einen Namen gemacht. Gegen eine so genannte Reichweitenbeschränkung einer Patientenverfügung nur auf „unumkehrbar tödliche“ Krankheitsverläufe, wie dies etwa auch der CDU-Politiker <Wolfgang Bosbach> fordert, fand Borasio klare Worte. In einem Interview (vollständig im Anhang) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 19. Januar 2007 kritisiert er:

„Das ist absurd. Ein Patient, der bei Bewusstsein ist, kann doch selbstverständlich jede ärztliche Behandlung zu jedem beliebigen Zeitpunkt ablehnen. Dieses Recht einem Patienten abzusprechen, der vorab eine wirksame Patientenverfügung angefertigt habe, wäre eine krasse Ungleichbehandlung. Eine solche Regelung würde vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Auch medizinisch ist eine solche Einschränkung Unsinn ...“ Eine vorgesehene Einschränkung durch einige Kirchen- und Parlamentsvertreter interpretiert der Palliativmediziner weiter „als Ersatz des alten medizinischen Paternalismus durch einen neuen – und schlimmeren – ethischen Paternalismus. Das zentrale Prinzip des Lebensschutzes wird zum Dogma des Lebenszwangs umgedeutet und damit entwertet. Das hat in meinen Augen etwas Fundamentalistisches.“

Die <Tagespost> beklagt Borasios Äußerungen wie folgt:
„…Fundamentalismus, Paternalismus, Dogma, Zwang zum Leben, Inhumanität, Beraubung der Autonomie – wer will jetzt noch den Versuch wagen, Patientenverfügungen kritisch zu diskutieren? Wer will jetzt noch warnen, wenn der Palliativmediziner Borasio ex cathedra dekretiert: „Der Wille des Patienten ist unbedingt zu befolgen.“ Die Fragesteller in dem Interview zeigten sich auch entsprechend eingeschüchtert, und vermieden jede kritische Nachfrage. Gefragt wurde nicht, ob Borasio auch die Krankheitsbilder Demenz, Multiple Sklerose oder Depressionen in den Katalog mit aufnehmen will, die nach dem Willen eines Patienten zumindest passive Sterbehilfe rechtfertigen? Gefragt wurde nicht, wo und ab wann hier die Grenze von Barmherzigkeit Richtung medizinisch unterstütztem Suizid überschritten wird. Gefragt wurde nicht, welche Rolle Patientenverfügungen im Falle eines Wachkomas spielen sollen – ein Punkt, den zum Beispiel Kardinal Karl Lehmann als besonders neuralgisch hervorgehoben hat ...“

In der vom Bundesjustizministerium einberufenen Kommission wirkte Borasio maßgeblich und engagiert an einem Entwurf zum Patientenverfügungsgesetz mit. Dieser entspricht dem vorliegenden Entwurf des rechtspolitischen Sprechers der SPD-Fraktion Joachim Stünker sowie dem der FDP-Fraktion weitgehend. Wer seinen Willen zu äußern vermag, kann selbstverständlich jede Therapie verweigern. Dieses "Selbstbestimmungsrecht", so heißt es in der Begründung von <Stünkers Entwurf>, "wäre entwertet, wenn es Festlegungen für zukünftige Konfliktlagen, in denen der Patient aktuell nicht mehr entscheiden kann, nicht umfassen würde."

 

In Deutschland streitet man noch, ob eine Patientenverfügung nicht im Einzelfall als freiverantwortliche Suizidverfügung „missbraucht“ werden könnte. In der Schweiz wurde in einem jetzt veröffentlichten Grundsatzurteil auch Menschen mit psychischer Erkrankung – nach vertiefter psychiatrischer Begutachtung – das grundsätzliche Recht zugebilligt, ärztliche Hilfe zu einem sog. Bilanzsuizid in Anspruch zu nehmen.

 

Der hpd wird die Debatte wie gewohnt verfolgen. 

GG