An ein redliches Aufklärungsinteresse der Kirche glaubt auch Denef nicht, weil sie „sonst endlich alle Akten offenlegen müsste.“ Und maßgeblicher Grund für das Scheitern des Gremiums sei der Unwille, die Verjährungsregeln anzutasten, erklärte er. Dabei erneuerte er die Kritik an Straf- und Zivilrecht in Deutschland, das den aktuellen Forschungsergebnissen zu sexuellem Missbrauch nicht genug Rechnung trage. Norbert Denef will nicht nur eine vorgesehene Anhebung von Verjährungsfristen für zivilrechtliche Entschädigungsansprüche auf 30 Jahre ab Tatzeitpunkt, sondern die vollständige Abschaffung.
„Im Zivilrecht sind die Fristen besonders absurd, weil es hier auch um Entschädigungszahlungen geht, für die die Spätfolgen der Tat einkalkuliert werden müssen. Spätfolgen zeigen sich nun einmal spät.“ Die Verjährungsfristen müssten völlig weg, damit „Opfer mehr Raum für die Verarbeitung der Taten“ erhielten. Und ohne diesen zeitlichen Raum fehlt nicht nur ein Entschädigungsanspruch, sondern auch der Staatsanwaltschaft die Handhabe. Trotz Anzeige greift die Verjährung, verhindert jede Möglichkeit zur Ermittlung. Es gehört im modernen Rechtsstaat zur Konsequenz des Katalogs der Grundrechte, die zu Tätern gewordenen Menschen zustehen – einem Verein wie einer Kirche hingegen nicht.
Für Norbert Denef und viele andere bietet auch die Sammelklage am EGMR, zunächst jedenfalls, nicht mehr als die Aussicht auf die nötige Aufmerksamkeit und eine ideelle Befriedigung. Denn das Grundgesetz sieht für rückwirkende Rechtsänderungen ein klares Verbot vor, was im Strafrecht in besonders strengem Maße gilt. Auch eine völlige Aufhebung für die Zukunft ist wenig wahrscheinlich.
„Wichtig ist uns dabei, dass die Gründe für das Schweigen der Opfer auch in der Art und Weise liegen, wie die Gesellschaft ihr Leid anerkennt. Diese Anerkennung muss durch eine machtvolle symbolische Geste bekräftigt werden“, so Denef in der ZEIT. Zur Beendigung des gesellschaftlichen Schweigens zum Thema Missbrauch würde er der Politik vorschlagen, „wir bilden eine Wahrheitskommission, die befugt ist, alle Missbrauchsfälle aufzuarbeiten, egal, ob sie verjährt sind oder nicht.“ So eine Aufarbeitung könnte das Leid schließlich wenigstens aufzeigen und dokumentieren. Doch dazu bräuchte die Kommission wohl die passenden gesetzlichen Ermittlungsbefugnisse, wo wieder die Verjährungsregeln relevant werden.
netzwerkB legte nun aus Anlass der vorläufig letzten Sitzung des Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch ein Positionspapier zu einem Gesetzentwurf vor, der ebenfalls das Aufhebungsvorhaben anpeilt. Darin heißt es: „Beide Verjährungsfristen sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht sind unangemessen, da Betroffene aus vielen wesentlichen Gründen nicht klagen können. Sowohl Angst, Scham, Selbstbeschuldigung, Abhängigkeit vom Täter als auch Verdrängung und Traumatisierung führen dazu, dass Betroffene, wenn überhaupt, sich erst im hohen Alter zu einer Klage durchringen können.“ Die Aufhebung sei „alternativlos“, heißt es im Papier. Ansonsten werde nach Auffassung von netzwerksB in inakzeptabler Weise der Täterschutz über den Opferschutz gestellt, wodurch die Opfer sich einmal mehr entwürdigt sähen. „Dies ist in keiner Weise hinnehmbar und kann nicht totgeschwiegen werden“, so das Netzwerk.
Die vom Runden Tisch der Bundesregierung für die Zukunft vorgesehenen Reformen reichen der Betroffenenvereinigung netzwerkB in jedem Fall nicht. Die Sammelklage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte soll Abhilfe schaffen, weil Norbert Denef und die vielen Betroffenen den Fluch der falschen Moral endlich abschütteln wollen. Im ZEIT-Interview fragte er: „Wohin sollen wir uns wenden, wenn wir uns von der Politik verraten fühlen?“
Arik Platzek