MARBURG. Der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Philipps-Universität verlieh
dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt am Dienstag (27. Februar) in der Aula der Alten Universität die Würde eines Ehrendoktors der Philosophie.
Die Würdigung war umstritten, weil der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften in Marburg u.a. von <Wolfgang Abendroth> geprägt ist, einem „einflussreichen Außenseiter".
"Kann Politik vernünftig sein?" lautete der Titel des Festvortrags von Prof. Dr. Dr. Carl Friedrich Gethmann. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und Direktor der Europäischen Akademie in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Doch verblassten seine Ausführungen neben dem rhetorisch brillanten Referat des 88-jährigen Schmidt.
Im Anschluss an die Verleihung der Urkunde hielt der ehemalige Bundeskanzler die Christian-Wolff-Vorlesung zum Thema "Die Verantwortung des Politikers".
Kritisch äußerte sich der einstige Spitzenpolitiker und spätere Mitherausgeber des Hamburger Wochenblatts "Die Zeit" zur Rolle von Religionen: Alle großen Weltreligionen enthielten einen gemeinsamen ethischen Kern. Dennoch ermutigten Priester, Rabbiner, Mullahs und andere Religionsführer die Gläubigen kaum zur intensiveren Auseinandersetzung mit anderen Religionen. Vielmehr betonten sie immer wieder die Überlegenheit des eigenen Glaubens und vertuschten beispielsweise auch die Gemeinsamkeiten von Judentum, Christentum und Islam.
Bereits <Christian Wolff > habe die Feststellung getroffen, dass ethisches Verhalten auch völlig ohne religiöse Grundlagen entwickelt werden kann. Anlass dieser Erkenntnis war für ihn der Konfuzianismus in China, der eine hohe Kultur ohne religiöse Verbrämung entwickelt hatte. Für diese Aussage wurde Wolff jedoch unter Androhung des Strangs aus Halle verwiesen. So kam er nach Marburg.
Gegen den Glauben an Gott hielt Schmidt die Vernunft als gemeinsame Gabe aller Menschen. Die Menschenrechte erklärte er zum zivilisationsübergreifenden Gut der gesamten Menschheit. An ihnen müsse jeder Politiker sein Handeln ausrichten.
"Das Gewissen ist für mich die oberste Instanz", beteuerte der Politiker. Der 88-jährige legte ein entschiedenes Plädoyer für eine vernunftgeleitete Politik ab. Zwar müsse man sein Gewissen auch immer wieder selbstkritisch befragen und auch bereit sein zu Kompromissen, doch solle ein Politiker alle seine Entscheidungen nach den absehbaren Folgen und ihren Auswirkungen auf die Menschen ausrichten.
An sechs Fällen stellte Schmidt dabei die Dilemmata derartiger Entscheidungen dar. Fünf davon stammten aus seiner eigenen politischen Praxis als Bundestagsabgeordneter, Hamburger Innensenator und Bundeskanzler. Einen weiteren Fall hatte sein Nachfolger im Amt vorgegeben. Die Aufhebung der Verjährung von Mord und Völkermord angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen, den verfassungswidrigen Einsatz der Bundeswehr bei der Sturmflut 1962 in Hamburg, die Unterzeichnung des Atomwaffen-Sperrvertrags, den umstrittenen „NATO-Doppelbeschluss", die Reaktion des Staates auf Entführungen durch die "Rote Armee Fraktion" (RAF) und schließlich Helmut Kohls Zehn-Punkte-Plan zur Deut-schen Einheit erörterte Schmidt kurz in ihren Entscheidungs-Alternativen.
Bei allen Entscheidungen helfe dem Politiker allein seine Vernunft. Selbstverständlich könne auch er dabei irren. Korrektiv von Fehlentscheidungen seien die Wählerinnen und Wähler, deren Entscheidungen jedoch nicht immer vernunftgeleitet seien. So kritisierte Schmidt die Kritik am NATO-Nachrüstungsbeschluss als überzogene "Ängste", die durch Demagogie und eine aufgebauschte Berichterstattung der Medien hervorgerufen worden seien.
Noch arroganter machte der Marburger Philosoph Prof. Dr. Peter Janich als Urheber der Würdigung die Proteste gegen die Ehrenpromotion des Ex-Kanzlers nieder. Bei den Kritikern - so bekundete er abfällig - handele es sich um "unwissende Studenten".
Derweil hörten die Festgäste in der Alten Aula unterhalb vom Rudolphsplatz her die Trillerpfeifen und gelegentliche Sprech-Chöre der Protestierenden. War die Alte Universität bereits gut abgeschirmt, so rief eine empörte Besucherin ihre missbilligende Äußerung zu Schmidts Ehrenpromotion laut in den Saal: "Ein Armutszeugnis für die Wissenschaft!"
Franz-Josef Hanke