Jedes Jahr veröffentlicht das Public Religion Research Institute (PRRI) den "amerikanischen Religionszensus", eine komprehensive Untersuchung der religionssoziologischen Trends der Nation. Die diesjährige Befragung bestätigt, was bereits vielfach postuliert wurde: in rein quantitativer Hinsicht befindet sich das Weiße Christentum in einer unaufhaltsam scheinenden Abwärtsspirale. Sein politischer Einfluss allerdings ist noch immer ungebrochen.
Der demographische Niedergang des Weißen Christentums
Wenn sie im Jahr 2006 Weiße Evangelikale (23 Prozent), Weiße nicht-Evangelikale (17,8 Prozent) und Weiße Katholik*innen (16 Prozent) aufaddieren, erhalten sie einen Proporz von 56,8 Prozent. Vor nicht einmal 20 Jahren war mehr als jeder zweite Mensch, den Sie in den Vereinigten Staaten trafen, weiß und christlich.
Heute präsentiert sich ein distinkt anderes Bild: Während der Anteil katholischer US-Amerikaner*innen auf 12 Prozent sinkt, stellen weiße Evangelikale und weiße nicht-Evangelikale nunmehr noch jeweils 13 Prozent der Bevölkerung. Das Weiße Christentum repräsentiert lediglich noch 38 Prozent der US-Bevölkerung, was einer veritablen Reduktion von 33 Prozent gegenüber den Verhältnissen von 2006 entspricht.
Anders gesagt hat das Weiße Christentum in den vergangenen 17 Jahren ein Drittel seiner Sichtbarkeit verloren. Die Gruppe, die von diesem Prozess am stärksten profitiert, sind die sogenannten "religiously unaffiliated" oder "Nones", die hier als "Konfessionsfreie" bezeichnet werden. Der Anteil konfessionsfreier US-Amerikaner*innen stieg von 16 Prozent im Jahr 2006 auf 27,4 Prozent im Jahr 2023 und liegt damit nur noch 11 Prozentpunkte hinter dem Anteil Weißer Christ*innen.
Spaltet man die verschiedenen christlichen Denominationen auf, bilden Konfessionsfreie sogar die größte religionssoziologische Gruppe in den Vereinigten Staaten. Dieser Trend hauptsächlich von den Millenials und der Gen X getrieben. Die Gen Z präsentiert sich insgesamt religiöser, in mancherlei Hinsicht sogar religiöser als die Generation der Boomer.
Ein genauerer Blick auf die Konfessionsfreien zeigt, dass sich der Großteil (63 Prozent) keiner bestimmten Weltanschauung zugehörig fühlt, sie bezeichnen sich als "nichts Spezielles" ("nothing in particular", NIP). Jeweils 18,5 Prozent der Konfessionsfreien – dies entspricht je 5 Prozent der US-Gesamtbevölkerung – identifizieren sich als atheistisch beziehungsweise agnostisch.
Der politische Aufstieg des Weißen Christentums
Man sollte nun meinen, dass diese demographischen Trends nicht zu unterschätzende Implikationen für den elektoralen Prozess haben. Man sollte meinen, dass die Tatsache, dass mehr als ein Viertel der USA keiner Religion mehr angehört, sich in einer säkulareren Politik niederschlägt. Die Realität allerdings sieht anders aus.
Betrachtet man die Komposition der beiden Großparteien, zeigt sich ein in politologischer Hinsicht überaus interessantes Bild: 67 Prozent der Republikanischen Partei besteht aus Weißen Christ*innen (knapp ein Drittel sind Weiße Evangelikale), lediglich 12 Prozent sind Konfessionsfreie. Dem gegenüber stehen lediglich 24 Prozent Weißes Christentum (Weiße Evangelikale machen gerade einmal 4 Prozent der Demokratischen Partei aus), aber 33 Prozent Konfessionsfreie bei den Demokraten. Innerhalb der Demokratischen Partei stellen Nones damit die zweitgrößte Gruppe nach den sogenannten "christians of color".
Diese Diskrepanz präsentiert sich auch auf bundesstaatlicher und sogar auf Bezirksebene. Der Religionszensus zeigt, dass Demokratisch regierte Bundesstaaten im Mittel weltanschaulich deutlich diverser sind als Republikanisch regierte. Die zehn Bezirke mit dem niedrigsten Level an weltanschaulicher Diversität finden sich allesamt in den früheren Südstaaten, sechs davon sogar in einem einzigen Bundesstaat: Mississippi.
Die Bezirke mit dem höchsten Anteil weißer Evangelikaler finden sich ebenfalls in den früheren Südstaaten, die Plätze eins und drei belegen dabei jeweils Bezirke im Bundesstaat Alabama. Aufgrund der vor einigen Monaten mit dezidiert christlichen Argumenten unterfütterten Gerichtsentscheidung, Embryonen als Kinder zu werten, bildet Alabama ein eindrückliches Beispiel für die weitreichenden nationalen Konsequenzen des lokalen Weißen Evangelikalismus. Vorausgegangen war der Entscheidung ein Referendum, das der "Heiligkeit des ungeborenen Lebens" in Alabama Verfassungsrang zuspricht.
Aufgrund der Natur des US-amerikanischen Rechtssystems haben Gerichtsentscheidungen eine höhere Präzedenzwirkung als beispielsweise in Kontinaleuropa – Stichworte Common Law und Civil Law. So kommt es, dass ein einzelner Richter aus Alabama eine nationale Krise um die Legalität der In-Vitro-Fertilisation auslösen kann.
Die Gründe für den Aufstieg des christlichen Nationalismus sind also nicht nur in gesellschaftlichen oder makroökonomischen Trends zu verorten, sondern auch in der steigenden weltanschaulichen Diskrepanz zwischen den verschiedenen Regionen der Nation. Diese analogen Versionen der "Echokammer" können über den juristischen Prozess sogenannte ripple effects, also "Welleneffekte", auslösen, an deren Ende ein Supreme Court steht, der Roe v. Wade über den Haufen schmeißt und die Freiheitsrechte der Gesamtbevölkerung zugunsten der religiösen Freiheit eines Weißen christlichen Konservatismus beschneidet.
5 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
In der Theorie zur Demokratie wird der Bürger als "Souverän" angesehen.
Aber wie souverän ist ein indoktrinierter Souverän, ein indoktrinierter Bürger?
Eine funktionsfähige Demokratie setzt voraus, dass die Bürger sich nicht indoktrinieren lassen, dass die Bürger Indoktrinationsversuche durchschauen und abwehren können.
Ist dem so? Wird entsprechend erzogen, wird "Indoktrinationserkennung" in den Schulen trainiert?
Rene Goeckel am Permanenter Link
Das gilt aber nicht nur für die Bürger. Wieviele unserer Politiker und Abgeordneten haben nebenher irgendwelche unsinnigen Kirchenjobs? Ich finde, das grenzt an Korruption.
A.S. am Permanenter Link
Unser Staat ist von "Kirchendienern" unterwandert. Das war ab 1949 ganz normal, mittlerweile stoßen sich viele Bürger daran.
G.B. am Permanenter Link
Nun es ist sicher nicht einfach sich von langjähriger Indoktrination zu befreien, aber nur so
==warrior_of_re... am Permanenter Link
Leider kommen Evangelikale hierzulande in der Berichterstattung fast nur als Feindbild vor. Ich bevorzuge eine differenzierte Sichtweise, und so stoeren mich auch hier vor allem zwei Dinge:
1) egal was passiert, die Evangelikalen sind immer auf dem Vormarsch. Das stimmt ueberhaupt nicht! Ihr politischer Einfluss erreichte seinen Hoehepunkt in den fruehen 90er Jahren und geht seitdem zurueck. Es gaebe heute kein Jahr der Bibel mehr wie einst unter Reagan, und ein Prediger wie Pat Robertson waere auch kein ernsthafter Praesidentschaftskandidat mehr. Bei wichtigen Themen wie Evolutionstheorie und Gebet in oeffentlichen Schulen haben Evangelikale de fakto aufgegeben. Es werden keine landesweiten Debatten mehr darueber gefuehrt. In der Rueckschau wirkt selbst der aufrichtig glaeubige Bush eher wie das Ende einer Epoche. Die Allianz von Evangelikalen mit Trump ist ein reines Zweckbuendnis. Dass Abtreibung wieder ein Thema geworden ist liegt an dem zufaelligen Tod einer Richterin. Frueher hatte die GOP die Stimmen von Abtreibungsgegnern sicher, konnte aber wegen Roe vs Wade Abtreibung nur begrenzt erschweren. Das ist jetzt nicht mehr Fall, und Republikaner wurden von Waehlern wegen ihrer veralteten Ansichten in den Midterms ja auch abgestraft.
2) die Evangelikalen an sich sind Weisse. Manchen reicht das als Beweis fuer ihre Bosheit, und diese Art des Rassismus will ich nicht unerwaehnt lassen. In Wirklichkeit sind die als evangelikal verstandenen Kirchen mit charismatischen Predigern, Bekenntnis zur Bibel, konservativen Haltungen zu Familie, Schwulen etc. bei Schwarzen beliebter, und auch viele Einwanderer aus Lateinamerika sind nicht mehr katholisch, sondern evangelikal. Abtreibungsgegner gibt es in schwarzen Kirchen tatsaechlich deutlich seltener, aber ansonsten geht es da bei Themen wie Homosexualitaet und Verschwoerungstheorien noch abenteuerlicher zu. Die Demokraten koennen diese Gruppen auch nicht ignorieren. Bei den letzten Vorwahlen musste Pete Buttigieg ja auch aufgeben, weil schwarze Waehler zu homophob waren.