BERLIN. (hpd) Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestags und Mitglied im Bundesvorstand der SPD, äußerte sich in der Zeitschrift der Jesuiten auch zur Rolle der Kirchensteuer für den deutschen Staat und verdeutlichte dabei eine solche Unwissenheit über die Thematik, dass man sich fragt, wie unwissend, d.h. dumm darf man als Politiker sein?
Ein Kommentar von Carsten Frerk
Wie das katholische domradio am Dienstag berichtete sieht der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, in der Kirchensteuer eine finanzielle Unterstützung der Gläubigen für den Staat. „Denn mit den Mitteln würden jene sozialen und kulturellen Leistungen der Kirchen unterstützt, die sie für die öffentliche Hand übernähmen, schreibt Thierse in einem Beitrag für die in München erscheinende Zeitschrift ‚Jesuiten‘. Dadurch werde auch die Vielfalt von Angeboten und damit auch der soziale und kulturelle Reichtum der Gesellschaft gefördert. Die Eigenbeiträge der Gläubigen müssten daher ‚mindestens als Gewinn für beide Seiten‘ betrachtet werden, so der SPD-Politiker.
Das ist schlicht falsch. Auch wenn Thierse es immer wieder so sagt.
Wolfgang Thierse ist ein umtriebiger und entschlossener Lobbyist seiner christlichen Religion, einer der Sprecher des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD und seit langen Jahren hinzugewählte Einzelpersönlichkeit im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Er verunglimpft konsequent u.a. die Thesen der Laizisten in der SPD als „Anachronistische Forderung“. Das ist jedoch Politik und wer nicht gemobbt werden will, sollte wohl nicht in die Politik gehen. Meinungen kann man insofern sagen und ändern, Tatsachen aber bleiben Tatsachen.
Thierse ist ein ausgezeichneter Politiker - Moses-Mendelssohn-Preis (1992), Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1993), Goldenes Mikrofon als "Redner des Jahres" (1993), Großkreuz des Bundesverdienstkreuz (1999), Theodor-Heuss-Preis (2001), Ignatz Bubis-Preis (2001), Träger des Sozialistenhutes (2002), Walter-und-Marianne-Dirks-Preis (2003), Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (2004), Preis der Deutschen Gesellschaft e.V. für Verdienste um die deutsche und europäische Verständigung (2005), Martinipreis der SPD Südpfalz (2009) und Herzogin-Hedwig-von-Schlesien-Preis für deutsch-polnische Verständigung (2011) - er wäre also gut beraten, wenn er sich an die Tatsachen hält.
Nach der letzten vorliegenden Gesamtdarstellung („Caritas und Diakonie in Deutschland", 2005) werden aus den kirchlichen Finanzeinnahmen rund 840 Millionen Euro für die von Thierse angesprochenen sozialen Leistungen ausgegeben. Das ist bei einem Jahresvolumen der Caritas und Diakonie von rund 45 Milliarden Euro gerade einmal knapp 2 Prozent der Kosten. Legt man dann noch zugrunde, dass die Kirchensteuer nur rund die Hälfte der Kircheneinnahmen ausmacht, dann stammen also auch nur 420 Millionen Euro aus der Kirchensteuer. Das heißt, nur etwa ein Prozent der Kosten von Caritas und Diakonie werden von den Kirchen selber finanziert.
Das könnte man als kirchlichen Beitrag auffassen, der von anderen Stellen nicht finanziert werden muss, aber das stimmt so einseitig eben nicht.
Diese kirchlichen Beiträge werden von Seiten des Staates dadurch gewürdigt, dass als Ausgleich dafür die gezahlte Kirchensteuer in voller Höhe von der Einkommensteuer abgesetzt werden kann. Diese „Begünstigung anerkannter Religionsgesellschaften und ihnen gleichgestellter Religionsgemeinschaften [erfolgt ] aus kirchen- und sozialpolitischen Erwägungen.“ Der Staat, also Bund und Länder, verzichten dadurch nach den Angaben der 23. Subventionsberichts der Bundesregierung (Seite 74) im Jahr 2012 auf Steuereinnahmen in Höhe von 2,88 Milliarden Euro.
Die kirchen- und sozialpolitische Erwägung, den Beitrag der Kirchen durch Stützung der Kirchensteuer auszugleichen, war vielleicht in den fünfziger Jahren noch ein Nullsummenspiel für beide Seiten: was die Kirche finanzierte, bekamen die Kirchenmitglieder als Steuererleichterung zurück, so dass sie motivierter waren, die Kirchensteuern zu bezahlen, damit die Kirche „so viel Gutes“ damit tue.
Nun hat sich die Kirche aber seit Jahrzehnten immer mehr aus den selber finanzierten oder mitfinanzierten sozialen Leistungen zurückgezogen. Deutlichstes Beispiel dafür sind die früheren Kirchengemeindeschwestern, die als Diakonissen oder Ordensschwestern im Kirchendienst von den Kirchengemeinden finanziert wurden. Sie waren, als‘ praktische Seelsorge‘, für die soziale und einfache medizinische Betreuung der Gemeindemitglieder bei Wind und Wetter unterwegs. Diese kirchlich finanzieren Gemeindeschwestern gibt es jedoch schon lange nicht mehr, sie sind übergewechselt in die öffentlich finanzierten Sozialstationen von Caritas und Diakonie.
Auch durch diese Veränderungen ist der kirchlich finanzierte Anteil am Sozial- und Gesundheitssystem immer geringer geworden, so dass die steuerliche Absetzbarkeit der Kirchensteuer von der Einkommenssteuer sich zuungunsten des Staates entwickelt hat. In diesem Zusammenhang ist die häufige Darstellung, dass das Gesundheits- und Sozialsystem in Deutschland zusammenbrechen würde, wenn die Kirche sich aus den Einrichtungen zurückziehen würde, eine schlichte Falschdarstellung und Angstmacherei.
Würden, einmal angenommen, alle Einrichtungen, die sich jetzt in kirchlicher Trägerschaft befinden, in öffentliche Regie übernommen, dann müsste der Staat einerseits rund 840 Millionen Euro mehr bezahlen als bisher. Da dann aber auch die steuerliche Absetzbarkeit der Kirchensteuer keine Begründung mehr hätte, also wegfallen würde, hätte der Staat eine Mehreinnahme von 2,88 Milliarden Euro. Diese 2,88 Milliarden Mehreinnahme minus 840 Millionen Mehrkosten bedeuten eine Nettoeinnahme von rund zwei Milliarden Euro für den Staat.
Diese zwei Milliarden, die der Staat bisher den Kirchenmitgliedern und damit der Kirche zukommen lässt, könnten dann zu Verbesserungen im Sozialsystem eingesetzt werden, für die derzeit häufig kein Geld mehr in den öffentlichen Kassen ist.
Auf der Ebene der Tatsachen bedeutet es, dass man nur zwei Zahlen korrekt gegeneinander in Bezug setzen muss. Ist das anscheinend manchmal schon zu viel verlangt?
Aber Wolfgang Thierse ist da nicht alleine. So schreibt etwa Robert von Lucius zeitgleich, am Dienstag (in der gedruckten Ausgabe) der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Der Staat begreift sich als Kulturstaat und Sozialstaat. Religionsgemeinschaften nehmen ihm viele Aufgaben ab - Schule und Ausbildung etwa, Denkmalpflege, Hospitäler, Kindertagesstätten und Altenheime. Knapp ein Drittel des deutschen Gesundheitsmarktes in Krankenhäusern wird von Kirchen getragen.“
Das ist schlicht falsch, denn die aufgezählten Leistungen werden, bis auf die Denkmalpflege, nur geringfügig oder (Hospitäler, Altenheime) überhaupt nicht von den Kirchen finanziert. Ein Beispiel, dass hinter dieser Zeitung nicht unbedingt ein kluger Kopf sitzt.