TRIER. (hpd) Hans Neuenfels gilt als einer der skandalträchtigsten Theater- und Opernregisseure Deutschlands. Der Regisseur verteilte 1966 vor dem Trierer Dom rosafarbene Handzettel mit der Aufforderung “Helfen Sie mit, den Trierer Dom abzureißen”, und seine “Idomeneo”-Deutung in der Deutschen Oper Berlin musste im Zuge des Karikaturenstreits unter Polizeischutz aufgeführt werden. Der 70jährige las gestern aus seinem autobiografischen “Bastardbuch”.
Da er in Trier las, war Trier auch eine der Stationen, von denen er lesend berichtete. Nach 45 Jahren in eine Stadt zurückzukommen, die für ihn „sehr wichtig war, die der Anfang allen Übels war“, sei anders als die Reise in andere Städte gewesen. Der damals 25-jährige Neuenfels wurde seinerzeit, 1966, mit Schimpf und Schande aus Trier verjagt.
Doch zunächst erzählte der Schriftsteller, Dichter, Filmemacher, Librettist, Theater- und Opernregisseur mit dem zerfurchten, markanten Gesicht aus seiner Kindheit und Jugend in Krefeld.
Wortgewaltig, schalkhaft, mit manch ellenlangen, überraschenden Sätzen und assoziativen Exkursen trug Hans Neuenfels vor. Seine Stimme passt zu seinem Gesicht und klingt nach Jahrzehnten des Genusses diverser Substanzen. Selbstverständlich rauchte der Mann vor der Lesung und nach der Lesung und trank ein Glas Weißwein dazu.
Vor allem las er aus dem zweiten Werk mit dem Titel „Das Bastardbuch“ (das erste Buch heißt „Wie viel Musik braucht der Mensch?“). Schreiben tue er, weil man beim Inszenieren der Schriften und Musik von Genies sein Ich verliere. Beim Schreiben sei man allein, das Schreiben sei eine Findung.
Trügerische Realitätspartikel
Es gebe, so Neuenfels, nur Realitätspartikel. Erinnerungen seien oft schmerzhaft und oft trügerisch. Aber für ihn habe es so stattgefunden (erwiderte er, als seine Frau, die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar, bei der Lektüre seiner Reminiszenzen meinte: „Das war doch ganz anders!“). Der erste Tagebucheintrag des kleinen Hans lautete: „Ich bin neun und neugierig und heiße Neuenfels“. Die Mutter lud Sängerinnen der örtlichen Oper zu Kaffee und Kuchen ein, unter ihnen die Fee Ursula. Später gab die Mutter der Ursula eine Schuld an der (Fehl-) Entwicklung ihres Sohnes. Nachdem sich zwei Fische in der Salatschüssel gegenseitig die Flossen abgefressen hatten, folgte: „Selbst die Tiere werden bei ihm zu Selbstmördern, raunte mein Vater und öffnete sich eine zweite Flasche Bier“. Dem Jungen war zum Fürchten klar geworden, „dass das Diesseits auch mein Jenseits sein müsste“.
Ein Jahr lang lebte Hans Neuenfels mit dem surrealistischen Künstler Max Ernst, dem Genie, in Paris. Die Begegnung löste einen Traum aus von der Verheiratung Ernsts mit Ursula (der Fee). Aufgewacht, reckte und streckte sich der junge Assistent und sagte zu sich: „Ich bin ein Bastard“.
Überhaupt nähert sich Neuenfels häufig mittels Träumen und imaginären Situationen den Themen und Menschen. Seine wiederkehrenden Begegnungen und Gespräche, etwa mit Giuseppe Verdi, vermitteln dem Zuhörer Aspekte von Person und Opern Verdis, die ansonsten wohl nicht erfassbar wären.
„Manchmal muss man durch die Porta Nigra gehen“
Trier stellt Hans Neuenfels vor als jetzt amüsierend, damals aber erschrak er in dem äußerst aufregenden Jahr in „der Stadt, in der Karl Marx geboren wurde und deren Bischöfe wie zum Trotz den Katholizismus des Mittelalters erbarmungslos konservierten“. Nach einem Jahr mit etlichen Inszenierungen in Trier sowie andernorts, stets der Erschöpfung nahe, verteilte der 25-Jährige, der gerade Vater eines Benedict mit C geworden war, auf dem Hauptmarkt Einladungen zum 1. Happening in Rheinland-Pfalz. Warum allein? Das Blatt enthielt zehn Thesen, gegeben zu Trier, den 21.6.1966: „Helfen Sie mit, den Trierer Dom abzureißen!“ und „Auch Sie als alter Nazi sind herzlich willkommen!“ sowie „Warum schänden Sie nicht KLEINE Mädchen?“ waren drei davon.
Der Spiegel berichtete über den Vorfall wie auch über den angekündigten Auftritt einer Tänzerin (Renate), die nackt in vier Badewannen unterschiedlichen Inhalts steigen würde. Nach der Vorstellung wollte Neuenfels selbst als Mussolini verkleidet in einem offenen Wagen vor dem Trierer Theater eine faschistische Rede halten, doch daraus wurde nichts. Seines Amtes als Dramaturg wurde er enthoben, die angebotene Stellung als Regisseur lehnte er dann ab. Nach der letzten Inszenierung in der Bischofsstadt („Tango“ von Slawomir Mrozek), welche ein Polizeiaufgebot inkludierte, verhalfen ihm seine Trierer Fans, dessen Wortführer ein „fast pensionsreifer Oberstudienrat“ war, zur nächtlichen Flucht aus Trier nach Krefeld.
Durchweg finden sich sowohl während der Lesung als auch im Leben von Hans Neuenfels religionskritische Aussagen. „Ich bin lieber Humanist als Christ“, ließ er als 17-Jähriger seine Eltern wissen. Giuseppe Verdi, der binnen fünf Jahren seine Tochter und seine Frau verlor, legte er in den Mund, es gebe keinen Gott, dem er zumuten würde, dafür verantwortlich zu sein. Im Herbst 2006 setzte die Intendantin der Berliner Oper Mozarts „Idomeneo“ ab: Im Epilog setzt der König die blutigen Köpfe der drei Religionsgründer Jesus, Buddha und Mohammed neben dem Kopf Poseidons auf Stühle, sie befürchtete „gewalttätige Aktionen“. Drei Monate später wurde die von Neuenfels inszenierte Oper dann doch aufgeführt, unter Polizeischutz und mit prominenten Besuchern.
Der Tod, so beginnt er vor der Geschichte vom Bastard auf der Couch eines imaginären Psychiaters, ist für Neuenfels einfach das Ende des Zufalls, geboren worden zu sein und zu leben. Da jeder Mensch fehlerhaft sei, erwachse daraus die Möglichkeit, sich und anderen zu verzeihen und nicht beleidigt zu sein, wenn man kritisiert werde. Ein sehr kluger Mann ist dieser Hans Neuenfels, dessen eigentümliche Sicht sowie die Art und Weise, diese Sicht in Worte zu fassen, fesselt, Heiterkeit auszulösen vermag, der jedenfalls zu schreiben und zu erzählen weiß und der auch etwas zu erzählen hat.
Fiona Lorenz
Die Veranstaltung fand statt im Rahmen der Eifelkulturtage in Zusammenarbeit mit dem Theater Trier.