Wie die EKD Verfassungsrichter manipuliert

Allerdings hat sich an dieser Stelle ohnehin bereits der Eindruck verfestigt, dass Frau Bahr in einem bizarren Paralleluniversum für TheologInnen zu leben glaubt. Ihren „Endspurt“ begann sie zuvor nämlich so:

Der Traum vom christlichen Ständestaat war erst ausgeträumt, als es das Grundgesetz schon gab. Einen großen Anteil an der innerlichen Bereitschaft, sich auch aus theologischen Überzeugungen auf die Demokratie mit ihren Zumutungen einzulassen, hatten übrigens die Kirchen in Europa und Amerika. Rudolf Smend beschreibt eindrücklich, dass das Motto „Demokratie wagen“ auf der ökumenischen Vollversammlung in Amsterdam 1953 eine große Rolle gespielt habe.“ [S. 9-10]

Theologen erschließen sich die Vorzüge der Demokratie offenbar nicht ohne weiteres. Und Frau Bahr hält es für eine gute Idee, Verfassungsrichtern zu erläutern, dass christliche Theologen noch nach dem Zweiten Weltkrieg damit gerungen haben, sich „auf die Demokratie mit ihren Zumutungen einzulassen“. 1953 diskutierte die ökumenische Vollversammlung darüber, ob man „Demokratie wagen“ sollte? An dieser Stelle hätten die teilnehmenden Juristen eigentlich die Veranstaltung verlassen müssen, denn was soll man sich von so jemandem über Verfassungsrecht erzählen lassen?

(Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass mit der „ökumenischen Vollversammlung“, auf die sich Bahr/Smend beziehen, offenbar die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen gemeint ist, die 1948 in Amsterdam stattfand – nicht 1953.)

Frau Bahrs nächster Satz, auf das Wesentliche reduziert:

„Es ist Karl Barth gewesen, der große Theologe […], der […] dem lutherischen Naturrechtsdenken und seiner weichgespülten, kulturalistischen Variante eine Absage erteilt und so den theologischen Zugang zur Demokratie ermöglicht hat.“ [S. 10]

Die Widerstände der Theologen gegen die Demokratie ergaben sich offenbar daraus, dass ein theologischer Zugang zur Demokratie ohne Karl Barth nicht möglich war. An dieser Stelle haben sich vermutlich die weniger religiösen unter den anwesenden Juristen gefragt, wie viele Christen weltweit mit der Theologie von Karl Barth vertraut sind, und die religiöseren, warum sich Gott mit Karl Barth so viel Zeit gelassen hat.

Es folgt eine Darstellung von Barths Ansatz, der aber naturgemäß nur für jemanden von Bedeutung ist, der Demokratie ohne „theologischen Zugang“ nicht akzeptieren kann. Es wäre bedauerlich, wenn sich im Publikum so jemand befunden hätte.

Frau Bahr kommt zu dem Ergebnis:

[Barth] dreht […] das kulturalistische Argument um und verlangt von den Kirchen, den Blick aus der Vergangenheit auf die Gegenwart zu richten, also keine Kulturschuld einzuklagen, sondern den Beitrag des Christentums zu den anstehenden Gegenwartsproblemen zu leisten.“ [S. 11-12]

Mit „Kulturschuld“ ist hier die „kulturalistische Versuchung“ gemeint:

Das Christentum habe unsere Kultur geprägt, deshalb müsste es von Staat und Recht auch gegenüber allen anderen Weltanschauungen und Religionen bevorzugt werden, und zwar in der Form der beiden verfassten großen christlichen Kirchen.“ [S. 9]

Demzufolge kam Barth zu dem Ergebnis, dass die Kirchen eben keine Bevorzugung einklagen sollen. Also genau das Gegenteil von dem, was Frau Bahr mit ihrem Vortrag getan hat – und was auch der Zweck des „Foyers Kirche und Recht“ ist. Was soll man dazu sagen? Versteht Frau Bahr ihr eigenes theologisches Geschwurbel nicht mehr? Oder glaubt Frau Bahr – da sie ja eine Bevorzugung des Christentums nicht explizit gefordert hat – dass ihre Manipulationsbemühungen so subtil waren, dass der Widerspruch niemandem auffällt?

Offenbar letzteres. Kurz darauf erklärt sie nämlich:

Das beste Argument gegen den kämpferischen Laizismus ist ein lebendiges Christentum, das sich nicht abschließt in kirchliche Kreise oder beleidigt auf seine Bestände pocht, sondern geistliche Phantasie entwickelt für den Umgang mit den entfremdeten Milieus der Eliten wie der Ränder der Gesellschaft und die die inneren Distanzen und Nähen der Menschen zur Kirche ernstnimmt und achtet.“ [S. 12]

Natürlich wäre ein lebendiges Christentum besser als „beleidigt auf seine Bestände zu pochen“. Für den Fall, dass es mit dem lebendigen Christentum nicht so klappt, oder dass sich die entfremdeten Milieus – horribile dictu – von Frau Bahr vielleicht doch nicht so ernstgenommen fühlen, hat die EKD-Kulturbeauftragte allerdings schon mal vorgesorgt, das ist ja auch erklärtermaßen der Zweck dieser Veranstaltungen.

Nach einem derartigen Vortrag kann Frau Bahr nicht im Ernst erwarten, dass man ihr diese Aussage abnimmt. Vielmehr scheint sie hier ihrer Weltsicht noch die Krone aufzusetzen, indem sie den anwesenden (Kirchen?) Journalisten pünktlich zum Abschluss ihres Vortrags ein Häppchen liefert, das Schlagzeilen erlaubt wie:

Gegen Fatalismus und Besitzstandswahrung: Kulturbeauftragte der EKD spricht beim Empfang für Juristen der Bundesgerichte

Schließlich ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit nicht den Eindruck bekommt, die Kirchen würden ihre „Dialoge“ mit Deutschlands höchsten Juristen zur Besitzstandswahrung nutzen. Und es ist vermutlich kein Zufall, dass dies gerade die Pressemitteilung der gastgebenden Evangelischen Kirche in Baden ist.

Frau Bahrs Halbsatz, nicht beleidigt auf seine Bestände zu pochen, ist allerdings keineswegs als Absage an die kirchliche Besitzstandswahrung zu verstehen, wie uns Dr. Daniel Meier, der Pressesprecher der Badischen Landeskirche, mit seiner Schlagzeile glauben machen will. Mit dem „Christentum, das […] beleidigt auf seine Bestände pocht“ bezieht sich Frau Bahr nämlich auf das kulturalistische Argument (s.o.), demzufolge die „beiden verfassten großen christlichen Kirchen“ wegen ihrer kulturprägenden Kraft „von Staat und Recht auch gegenüber allen anderen Weltanschauungen und Religionen bevorzugt werden“ müssten. [S. 9] Diese Argumentation hat sie zuvor selbst verworfen, und zwar mit der Begründung:

„Das kulturalistische Argument, dass auf Grund der historischen Prägekräfte eine Art christlichen Kulturvorbehalt begründet, der auch für das Recht gelten muss, kann schon da zur Falle werden, wo sich die Größenverhältnisse durch Demographie und weiteren Vertrauensschwund weiter verschieben zugunsten einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen Christen sind.“ [S. 9]

Da sie dem kulturalistischen Argument zuvor ausdrücklich bescheinigt hat „auf den ersten Blick sehr überzeugend“ zu klingen [S. 9], macht sich ihre Kritik also gerade nicht an der geforderten Besitzstandswahrung fest, sondern daran, dass das kulturalistische Argument nicht zur Besitzstandswahrung taugt, „wo sich die Größenverhältnisse durch Demographie und weiteren Vertrauensschwund weiter verschieben zugunsten einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen Christen sind.“ Einem typischen theologischen Denkmuster folgend, beurteilt die EKD-Kulturbeauftragte diese Argumentation also nicht anhand ihrer Stimmigkeit, sondern danach, ob sie zu dem gewünschten Ergebnis führt. Und das von Frau Bahr gewünschte Ergebnis ist genau die Besitzstandswahrung, von der uns die Pressemitteilung der Badischen Landeskirche weismachen will, sie sei dagegen.

Dieses Denkmuster spiegelt sich in ihrem Vortrag auch in umgekehrter Weise, wenn sie meint, der Laizismus sei eine Weltanschauung, die der Staat sich nicht zu Eigen machen dürfe, wenn sie sagt, die antiklerikale Bewegung sei „nicht liberal, wenn es um die Freiheit anderer geht“ und wenn sie von einem Milieu spricht, „das für Religionsfreiheit streitet, aber dem Anspruch nach gerade die Neutralität des Staates gegenüber den religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen seiner Bürger unterläuft.“ Denn diese Behauptungen sind zwar absurd, haben aber für Frau Bahr offenbar den Vorteil, dass sie nicht vom Anteil der Christen an der Bevölkerung abhängen.

In Frau Bahrs theologischem Paralleluniversum gilt:

Ich glaube, die größte Herausforderung für die Kirchen sind nicht die Lautsprecher unter den Laizisten und auch nicht die radikalen religiösen Strömungen […]. Die größte Herausforderung ist eine geistliche: dem grassierenden Fatalismus der Menschen, die mitten in den drohenden Katastrophen leben, zu begegnen.“ [S. 12]

Außerhalb von Petra Bahrs Bizarro-Welt* kann man allerdings den Eindruck gewinnen, dass die größten Herausforderungen der Kirchen gerade diejenigen sind, die Frau Bahr während ihres Vortrags konsequent ausgeblendet hat: Die erodierende Glaubwürdigkeit des Christentums, seine fehlende Relevanz, und die Argumente der Kirchenkritiker, denen Frau Bahr auch nicht im Entferntesten etwas entgegenzusetzen hatte.

Die katholische und die evangelische Kirche haben offenbar erkannt, dass ihnen die Felle davon zu schwimmen drohen. Das Christentum verliert immer mehr an Glaubwürdigkeit und Relevanz für die Bevölkerung. Für den Erhalt des derzeitigen „Laizismus light“ – strikte Trennung von Staat und Kirche, außer für das Christentum – ist allerdings weniger die Religiosität der Bevölkerung entscheidend als die Positionen der gesellschaftlichen „Key Player“ – also beim Verhältnis von Staat und Kirche die Politiker und die Verfassungsrichter. Umso mehr muss es die Kirchenfunktionäre mit Sorge erfüllen, dass laizistische Forderungen mittlerweile nicht mehr nur von kirchenkritischen Organisationen erhoben werden, sondern auch aus der Politik. Und umso wichtiger wird natürlich das großkirchliche Lobbying der Verfassungsrichter, seit 2007 institutionalisiert durch das „Foyer Kirche und Recht“.

Angesichts des Missbrauchsskandals ist der folgende Vergleich zwar etwas makaber, aber Frau Bahrs Vortrag nach zu urteilen stehen die Geistlichen dabei jetzt auch argumentativ ohne Hosen da.

Letztlich werden die Verfassungsrichter – selbst, wenn sie wollten, und das ist schon fraglich – den Abbau der kirchlichen Privilegien (oder „Bestände“, wie Frau Bahr sie nennt) auch nicht verhindern können. Denn über die Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche entscheiden die Politiker, nicht das Verfassungsgericht. Und wenn sich die Politik dazu entscheidet, den Kirchen ihre Privilegien zu nehmen, dann werden die Kirchen sie auch nicht wieder einklagen können.
 

* In der US-amerikanischen Umgangssprache bezeichnet Bizarro einen „bösen Zwilling“ oder ein „verzerrtes Spiegelbild“ einer Person, beziehungsweise als Kompositum in Verbindung mit anderen Begriffen die ins Gegenteil/Negative verkehrte Version eines beliebigen Objektes, einer Institution, einer Idee oder Vorstellung. (Wikipedia)