Frau Bahrs vermeintliche Sorge um ihre eigene Freiheit ist umso unappetitlicher, als sie – nach eigener Aussage – dem Kirchenkritiker in der Berliner Innenstadt selbst entgegen hielt, „man könne doch an 350 Tagen im Jahr ungehemmte Heidenfreuden genießen“. Man möchte Frau Bahr das Jesuswort aus Matthäus 7,1-5 nahelegen. Es geht dabei um Splitter, Balken und Heuchler. Das betrifft übrigens auch den Vorwurf des „Etatismus“ – wenn er von einer Seite kommt, die den Staat nicht nur die Kirchensteuer einziehen, sondern auch anderen Menschen das Tanzen verbieten lässt.
Jedenfalls stellt Frau Bahr in ihrem Vortrag mehrfach und an zentraler Stelle Anschuldigungen in den Raum, ohne diese zu begründen. Und ohne, dass ersichtlich wäre, worauf sie sich beziehen könnte.
Die EKD-Kulturbeauftragte blendet aber in ihrem Vortrag auch regelmäßig Aspekte aus, die sie offenbar nicht wahrhaben will. In der obigen Passage zeigt sich dies in dem Satz
„ ‚Die Kirche ist eine Zwangsanstalt. Befreien Sie sich!“, ruft der Knabe den Passanten zu, als sei die Kirchenmitgliedschaft mit Zwängen und der Austritt mit Sanktionen belegt.“ [S. 2]
Nun, wenn Frau Bahr aus der Kirche austreten würde, wäre sie ihren Job bei der EKD sofort los. Das gilt allerdings nicht nur für Theologen, sondern z.B. auch für Putzfrauen, die in kirchlichen Einrichtungen arbeiten.
In Deutschland wird man üblicherweise nicht aus freien Stücken Kirchenmitglied, sondern weil man als Säugling getauft wurde. Sobald man eigenes Einkommen erzielt, wird dann automatisch Kirchensteuer fällig. Will man aus der Kirche austreten, wird in den meisten Städten eine Gebühr fällig, die bis zu 60 Euro betragen kann. Wer getauft ist und das Pech hat, dass er seinen Beleg für den Kirchenaustritt nicht mehr beibringen kann, dem kann es passieren, dass er - und das gerade in der Landeskirche, innerhalb deren Grenzen Frau Bahr lebt -, rückwirkend für mehrere Jahre zur Kirchensteuer herangezogen wird. Und in der katholischen Kirche wird man automatisch exkommuniziert, wenn man aus der Kirche austritt.
Frau Bahr tut hier so, als könne sie diese Zusammenhänge nicht erkennen. Sie ist absichtlich undifferenziert. Das ist besonders unangenehm, da Frau Bahr gerne – auch in diesem Vortrag – andere Auffassungen als „schlicht“ abtut und bei Kritikern mangelndes Niveau bemängelt.
Diese Blindheit für das Naheliegende, das Offensichtliche, durchzieht ihren ganzen Vortrag: Dass dem Islam eine gewisse Gewaltbereitschaft innewohnen könnte, scheint Frau Bahr nicht in den Sinn zu kommen, stattdessen macht sie für islamistischen Extremismus „komplizierte Ursachenbündel“ aus – was ja nicht verkehrt ist, bei Frau Bahr dann aber eben nur Ursachen wie Migration, mangelnde Teilhabe oder politische Demütigung beinhaltet. Frau Bahr spricht selbst an, wie wichtig „glaubwürdige Vertreter“ einer Weltanschauung sind – wundert sich dann aber, wenn junge Muslime sich für eine wörtliche Interpretation des Islam entscheiden und nicht für eine „freie individuelle Interpretation der Gebote“, bei der man „den Ramadan halten und trotzdem mit Freunden mal einen Hamburger essen“ kann." [S. 5]
Als Gründe für das Erstarken der „atheistischen und antiklerikalen Bewegungen der Gegenwart“ [S. 7] á la Richard Dawkins [S. 8] in Deutschland macht Frau Bahr nicht etwa die Gegenbewegung zum Kreationismus und die Anschläge vom 11. September aus, sondern „[z]wei Generationen ererbter Gottlosigkeit“ und einen „in zwei Diktaturen herangereifte[n] und von oben verordnete[n] Antiklerikalismus“. [S. 3]
Und für eine „äußere Distanz zur verfassten Kirche“ macht Frau Bahr „tiefe Skepsis gegenüber lebenslangen Bindungen, die innere Distanz zu großen Institutionen, auch das Misstrauen, das die großen Skandale der letzten Jahre befördert haben“ verantwortlich – nicht aber die Möglichkeit, dass viele Menschen heute einfach nichts mehr mit dem christlichen Glauben anfangen können, oder dass er einfach nicht mehr überzeugend erscheint. [S. 4]
Was Kirche oder Religion infrage stellt, blendet Frau Bahr aus. Es ist wohl müßig, zu fragen, ob dies Absicht oder Unvermögen ist – die Frage ist eher, ob eine EKD-Vertreterin überhaupt zugeben könnte, dass der christliche Glaube an Überzeugungskraft und Relevanz verliert oder dass es tatsächlich gute Gründe für Kirchenkritik gibt.
Ihrer Beschreibung der Kirchenkritiker steht allerdings Frau Bahrs Darstellung des Christentums kaum nach. An „den Rändern des Christentums“ entwickeln sich Frau Bahr zufolge „geschlossene Milieus“, für die sie als Beispiele radikale Lebensschützer, Homeschooler (Schulverweigerer) und die „Feuilletonkatholiken“ Matthias Matussek und Martin Mosebach nennt. [S. 6] Die „Ränder des Christentums“ verortet Frau Bahr somit bemerkenswerterweise dort, wo – im Gegensatz zur Mitgliederschaft der EKD – die einzelnen Aussagen des christlichen Glaubensbekenntnisses tatsächlich noch geglaubt werden und die Teilnahme am Gottesdienst hoch ist. Das Bild, das sie von diesen Gruppen zeichnet, ist ebenso absurd und unglaubwürdig wie das ihres „Kirchenkritikers“ in Berlin. Diesen Randgruppen zufolge soll die Kirche angeblich nur noch „als Kryptagemeinde existieren“, sich „ausschließlich“ auf den Kultus konzentrieren und sich „aus der Gesellschaft und ihren Problemen heraushalten“. Das mag möglicherweise auf Matthias Matussek zutreffen, aber sicher nicht auf die größte Gruppe, die Frau Bahr hier als Beispiel anführt, nämlich die radikalen „Lebensschützer“ (Abtreibungsgegner).
Im großen Finale zeichnet Frau Bahr dann in der schon beschriebenen Weise ein „Bild vom Christentum“, das (dieses Mal) aus gut klingenden Behauptungen ohne Begründung besteht, etwa so:
„Der christliche Glaube ist zutiefst antifatalistisch. […] Der christliche Glaube hilft den mental und auch politisch Erschöpften […]. Und er hilft zu einer Existenz in der Art innerer Freiheit, die Andersdenkende nicht fürchten muss.“
Das Problem ist nur: Als EKD-Theologin kann Frau Bahr nicht in Anspruch nehmen, für „den christlichen Glauben“ zu sprechen: Zunächst einmal ist die Mehrheit der Christenheit katholisch, nicht evangelisch. (Und übrigens vertreten die „Lebensschützer“, die Frau Bahr als Randgruppe wahrnimmt, exakt die offizielle katholische Position zum Thema Abtreibung.) Auch der Protestantismus ist, weltweit gesehen, wesentlich konservativer als die EKD. So gibt es in den meisten protestantischen Kirchen z.B. keine Frauenordination. Und die Frage, ob homosexuelle Pfarrer mit ihrem Partner im Pfarrhaus leben dürfen, dürfte in den meisten protestantischen Kirchen gar nicht erst diskutiert werden. In Deutschland macht man sich ja gerne über die US-amerikanischen Protestanten lustig, von denen etwa die Hälfte die Evolutionstheorie nicht akzeptiert. Es ist allerdings so, dass die 150 Millionen US-Protestanten sicher repräsentativer für das Christentum sind als die knapp 24 Millionen EKD-Mitglieder. Und wie bereits angedeutet, dürfte auch der Gottesdienstbesuch bei keiner christlichen Gruppe so niedrig liegen wie in der EKD. Anders ausgedrückt: Wer einen repräsentativen Eindruck vom Christentum will, braucht bei der EKD nicht anzufragen.