Das Theater mit der Abdankung

Aber es sind ja nicht nur die Theologen. Vielmehr erklingt das Hohelied auf Ratzinger als größtem und genialstem theologischen Denker auch in fast allen elektronischen und Printmedien. Man hat den Eindruck: Einer kupfert hier vom andern ab. Denn in Wirklichkeit hat Ratzinger absolut nichts Neues in die moderne Theologie eingebracht, und Politiker und Journalisten, die man danach fragen würde, kämen auch gehörig ins Schwitzen. Sein dreibändiges Werk über das Leben Jesu ist im Grunde eine neue Mythologie, eine mit vielen Zitaten gespickte Märchenerzählung, die weit hinter den Resultaten der historisch-kritischen Leben-Jesu-Forschung zurückbleibt, was lediglich durch den eleganten Schreibstil Ratzingers etwas kaschiert wird.

Vor allem aber setzt Ratzinger damit die überlange Betrugsgeschichte der Kirche fort, die den ursprünglichen jüdischen Jesus dem Judentum entrissen und zum Christus mit allen nur denkbaren Vollkommenheiten ausgestattet, zum Gottessohn und Erlöser der Menschheit erhoben hat, um ein göttliches Fundament für das Existenzrecht der Kirche zu haben. Eine wirkliche theologische Neuerung wäre es gewesen, wenn Ratzinger diesen Betrug am jüdischen Jesus zugegeben hätte, denn dieser hat nicht im mindesten an eine christliche Religion gedacht, hat weder eine Kirche noch ein Priestertum  noch ein Papsttum noch ein christliches Abendmahl oder andere Sakramente gegründet bzw. gestiftet. Die beiden großen christlichen Kirchen haben also kein Fundament, schweben in der Luft, weil sie die Kluft zwischen dem jüdischen Jesus und dem Christus der Kirchen nicht zu überbrücken vermögen.

Erzbischof Zollitsch hat in seiner Rede anlässlich der Abdankung des Papstes als Verdienst Ratzingers betont, immer wieder die Gottesfrage in den Mittelpunkt des Interesses der Öffentlichkeit gestellt zu haben. Das mag ja sein, denn über die Gottesfrage reden viele Theologen, um von den gesellschaftlichen Problemen und der kirchlichen Problematik mit der Gesellschaft abzulenken. Denn in Wirklichkeit gibt es keine seriöse wissenschaftliche Arbeit seitens der Theologen und auch Ratzingers, die Atheisten und Agnostikern eine respektable Lösung der Gottesfrage servieren würde.

Der atheistische italienische Philosoph Flores d’Arcais führte am 21.02.2000 im Theatro Quirino in Rom für über 2000 Menschen ein zweieinhalb Stunden dauerndes Gespräch mit Ratzinger über die Gottesfrage. In diesem Gespräch wich Ratzinger so gut wie allen detaillierten und differenzierten Fragen und Einwänden des Atheisten zur Gottesthematik geschmeidig und diplomatisch aus, so dass der Atheist schließlich irritiert fragte: „Interessiert sich die katholische Kirche noch für den Wahrheitsgehalt des Glaubens, den sie doch für wahr erklärt?‘“ Und er gibt selber die Antwort, die Ratzinger eben nicht gab: „Kirche und katholische Kultur gehen … systematisch den Entgegnungen, die moderne Skeptiker und Atheisten formulieren, aus dem Wege. Man versucht nicht einmal, Gegenargumente zu finden … und vermeidet es, das Problem der Wahrheit zum Objekt einer rationalen oder kritisch-empirischen Argumentation zu machen“.

Wenn man außerdem noch bedenkt, dass der Papst im Bereich der praktischen Theologie, der Moral- und Pastoraltheologie, etwa im Bereich der Sexualmoral, der Problematik der Abtreibung, der Kondome, des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche, aber auch zum Beispiel in Bezug auf Sterbehilfe keinerlei konstruktive Lösungsvorschläge von seiner Seite aus gebracht hat, dann erweisen sich die ganzen Lobeshymnen auf den brillanten und genialen Theologen Ratzinger als absolut leere Phrasen.

Ein Denkmal als wirklicher Neuerer in der Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts hätte sich Ratzinger errichten können, wenn er in seine erste Enzyklika „Deus caritas est“ („Gott ist die Liebe“) die von der Theologie seit zwei Jahrtausenden völlig vernachlässigte, ja brutal unterdrückte Tier-Ethik eingebaut hätte. Bis zum heutigen Tag sind die meisten Theologen mit Papst Benedikt an der Spitze völlig gefühllos gegenüber dem Leid der Tiere. Viele sprechen dem Tier bis heute eine Seele ab. Immer noch herrscht weitenteils die anthropozentrische Theologie des Menschen als »Krone der Schöpfung« vor, die sich den Tieren gegenüber alles, aber auch alles erlauben dürfe. In den Vorlesungen des Theologieprofessors Ratzinger konnte man von ihm hören, dass dem Hasen, Reh oder Hirsch, dem Schwein oder Rind gar nichts Besseres passieren könne, als von Menschen abgeschossen bzw. geschlachtet zu werden, weil die Tiere auf diese Weise den Zweck der Schöpfung erfüllten, indem sie den Menschen als auserwählten Kindern Gottes zur Speise dienen. Diese Enzyklika serviert uns also eine „wunderbare“ Theologie der kastrierten, nur auf den Menschen reduzierten Liebe. Gott, vermeintlich der Schöpfer allen Lebens, liefert fast die gesamte Schöpfung eiskalt an die grausame Jagd-, Mord- und Experimentierlust des Menschen aus.

Auch an seine Genusssucht! Denn Ratzinger lässt es sich nicht nehmen, sich immer wieder, besonders vor Weihnachten, einen jungen Kapaun servieren zu lassen, dem kurz zuvor bei lebendigem Leibe mit zwanzig bis dreißig Drehungen die Eingeweide herausgerissen worden sind. Und da erklärt Kardinal Lehmann, Benedikts Enzyklika über die Liebe sei „theologisch, spirituell, pastoral und sozial tief angelegt“. Und die FAZ sekundiert: „Niemals zuvor hat ein Papst so einfühlsam und poetisch … über die … Liebe … geschrieben wie Benedikt“.

Nun tritt also der „brillante“ Theologe notgedrungen von der Bühne ab, und schon wieder machen einige Kirchenleute, Politiker, Medienvertreter, mit einem Wort: alle Schleicher und Schleimer unserer Gesellschaft, daraus schon wieder ein Event erster Klasse, indem sie diesen Akt der durch Krankheit und totale Erschöpfung erzwungenen Abdankung zu einer heroischen Tat, einer „großen menschlichen und religiösen Geste“, zu einem „leuchtenden Beispiel wirklichen Verantwortungsbewusstseins und lebendiger Liebe zur Kirche“ hochjubeln. In den Herdenmenschen aller Couleur und Provenienz steckt eben eine blinde Bereitschaft zur Divination, zur Vergöttlichung auch mediokrer Menschen, zur Konstruktion von Kultfiguren, wie man das schon am Anfang des Christentums unberechtigterweise mit dem Juden Jesus, dann mit allen sog. Heiligen, später mit Luther bis hin zum berüchtigten „Opus Dei"-Gründer Escriva de Balaguer gemacht hat, den man, obwohl ein berüchtigter geistlicher Tyrann, im Schnelldurchlauf zum Heiligen der katholischen Kirche kürte.

Aber zum Schluss wünschen wir dem Ex-Papst Benedikt noch viele Jahre im Kloster, wo er dann durch Reflexion, Meditation und besonders sorgfältige Gewissenserforschung seine theologische Phraseologie endgültig durchschauen, bereuen und in einem letzten Öffentlichkeitsakt widerrufen sollte.