Gespensterjagd auf Humanismus

BERLIN. (hpd) Wer gestern (28.12.2008) die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ aufschlug, dem fiel auf Seite 4 ein Wahlplakat der CDU aus den frühen 1950ern ins Auge, dessen Historie eine eigene Geschichte hat, und man dachte prompt, nicht nur der Kalte Krieg kehrt zurück, sondern von Moskau aus werden nun schon wieder Marionetten – „Pankower Freidenker“ – gesteuert, die mittels des (angeblich atheistischen) Humanistischen Verbandes (HVD) und seinem Schulfach „Lebenskunde“ den Kommunismus und die DDR wach halten.

Pankow – für Auswärtige – ist ein Berliner Ortsteil, bekannt durch Konrad Adenauers Äußerungen über die angeblich dort residierende Regierung der „Soffjettzone“ und durch Udo Lindenbergs Sonderzug-Rock-Song.
In dem Artikel von Antje Schmelcher riecht es nach alten „Roten Socken“ und das soll wohl auch so sein. Schon die Überschrift „Das Gespenst des Humanismus“ soll das „Kommunistische Manifest“ (von 1848) assoziieren und die Unterüberschrift gibt die Richtung vor: „Wie ein atheistischer Freidenker-Verband an staatlichen Schulen die Feindbilder des Kommunismus wiederbelebt – und seine eigene DDR-Vergangenheit leugnet“. „Pro Reli“ – deren Intentionen der hahnebüchene Text folgt, um mal gleich den ganzen Humanismus abzubürsten – muss schon arg in Bedrängnis sein, wenn seine Verfechter zu solchen Mitteln greifen. Die Presserklärung des HVD Berlin von heute sagt dazu das Nötige.

 

Konzept der Verwechslung

Die „Frankfurter Allgemeine“ ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Konservativ ist sie zwar noch immer, aber nun auch schlecht journalistisch im Stil (das ist Geschmackssache), aber vor allem miserabel in der Recherche (das geht ans Eingemachte).

Am Anfang und am Ende der Gespensterjagd steht ein einfacher Irrtum, genauer: eine dumme Verwechslung. Geschrieben wird ständig über die „Pankower Freidenker“ (gemeint ist mal der 1989 gegründete „Verband der Freidenker der DDR“, mal der „Deutsche Freidenkerverband, Sitz Dortmund“, den es in der Bundesrepublik schon fast immer gab, mal des letzteren Berliner Ortsverband, mal des ersteren Landesverband, der sich übrigens mit der DDR auflöste, dazu unten noch etwas), aber getroffen werden soll ständig der „Humanistische Verband Deutschlands“ (HVD), mal als Bundesverband, mal als Berliner Landesverband.
Es handelt sich bei den Freidenkern und Humanisten jedoch um verschiedene Organisationen, zwei unterschiedliche, in großen Teilen sogar gegensätzliche „Bewegungen“, eingeschlossen differente politische Konzepte. Es ist nämlich bei den Konfessionsfreien wie bei den Christen, es gibt (mal „christlich gesprochen“) Katholiken, Protestanten, Kirche von unten, Theologen der Befreiung usw. usf. Hier empfehle ich gern die Lektüre der letzten sechs Hefte von „humanismus aktuell“ zum Studium; dort auch Ausführungen zum Atheismus in der DDR und zur Gründung des VdF, falls gewünscht.
Diese Tatsachen muss – bezogen auf das Bevölkerungsdrittel der Konfessionsfreien in Deutschland – nicht wissen, wer sich nur allgemein interessiert, aber studieren sollte die Varianten schon, wer recherchiert und sich aufmacht, ehrenwerte Leute zu beleidigen, die sich im HVD verfassungsrechtlich – erst seit 1919 garantiert (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WRV) und 1933-1945 verboten – in Weltanschauungsgemeinschaften zusammenschließen, um ihre humanistischen Prinzipien wie Individualität, Selbstbestimmung, Weltlichkeit, Toleranz, Solidarität, Kritikfähigkeit, Barmherzigkeit und Bildung zu leben und mit dem Grundsatz zu verbinden: „Alle Menschen sind als Menschen gleich“.
Der HVD zog mit seiner Gründung 1993 (ihm gehören immerhin auch drei „Körperschaften des Öffentlichen Rechts“ an) auch öffentlich nachvollziehbare, theoretische, praktische wie politische Trennstriche zur alten Freidenkerei und Anti-Religion zwischen 1881 und 1933, 1945-1990. Diese betreffen sowohl die Distanz zu einer Freidenkerei, die die freie Weltanschauung dogmatisch und sektiererisch an den Marxismus-Leninismus zu binden versucht, als auch die klare Distanz nach rechts, etwa zu völkischen Atheisten, die es ja auch gibt.
Die Annahme von Humanismus als Weltanschauung durch den HVD 1993 wurde in der Folgezeit nicht nur verbunden mit einer vorrangig positiven Arbeit an einem humanistischen Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbild. Der HVD hat sich generell von der bloßen Verneinung kirchlicher Institutionen bzw. religiöser Lebensanschauungen verabschiedet, auch vom sektiererischen „Kirchenkampf“ und radikaler Religionskritik. Wer behauptet, der organisierte Humanismus des HVD sei eine „antireligiöse Bewegung“, der hat einfach keine Ahnung von der säkularen Szene und sollte sich einfacheren Themen widmen – z.B. Hundehaufen auf dem Berliner Kollwitzplatz.

Irrtümer über Irrtümer

Einige der groben Fehlgriffe seien herausgegriffen.

  • Die Autorin verweist auf einen Aufruf des „Deutschen Freidenkerverbandes, Sitz Berlin“, einem der Gründungsmitglieder des HVD und Träger des Faches „Lebenskunde“ in Berlin seit 1984. Dieser Aufruf wendet sich an freidenkerische Menschen in der DDR. In diesem Aufruf wird ausdrücklich auf die Staatssicherheits-Gründungsverwicklungen des VdF als Ziehkind der SED verwiesen und eine Vereinigung ausgeschlossen. Gerade deshalb setzte der HVD auf Einzelaufnahmen (diesseits 11/1990); Originalbrief als PDF im Anhang.
  • Der DDR-Freidenker-Landesverband Berlin löste sich zum 30. November 1990 selbst auf (diesseits 13/1990). Wer die „Pankower Freidenker“ sind, von denen der Artikel in der FAS erzählt, wäre von der Verfasserin genauer zu erklären. Meint sie den heutigen Berliner Landesverband des DFV, Sitz Dortmund, den DDR-Restverband nach 1990 oder wen?
  • Mit diesem Fehlschluss lösen sich auch einige der von Antje Schmelcher aufgeworfenen „Personalfragen“ von selbst: Edgar Drefenstedt war nie beim HVD, schon gar nicht Lebenskundelehrer (hier fällt die Autorin vielleicht auf FOCUS 12/1996 herein); Heiko Schallmach nie Geschäftsführer des Berliner HVD.
  • Es gab keinerlei Umschulung von Staatsbürgerkunde(Stabü)- zu Lebenskundelehrern, im Gegenteil: Es herrschte beim DFV Berlin, dem späteren HVD Berlin, ein Verbot, ehemalige Stabü-Lehrer oder Ex-Schulleiter einzustellen.
  • Lebenskunde gibt es nicht, weil die Bremer Klausel im Grundgesetz dies gestatten würde, sondern weil Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften prinzipiell gleichgestellt sind. Es gibt eine spezifische Berliner Form der Freiwilligkeit des Faches, die auch für Religionsunterricht (RU) gilt. Aber dort, wo RU ordentliches Lehrfach ist, wird es sicher künftig auch andere Formen von Lebenskunde geben.
  • Die Bildungsvoraussetzungen für Lehrer, Lebenskunde zu unterrichten, ist ein Universitätsabschluss nach einem geistes- bzw. sozialwissenschaftlichen Studium, verbunden mit pädagogischer Praxiserfahrung. Nur Lehrer können zwei Staatsexamen haben. Warum sollte der HVD, z.B., auf hoch gebildete Philosophen verzichten, die befähigt sind und das nachgewiesen haben, Kinder ordentlich zu unterrichten?
  • Die Lehrerausbildung gehorcht generell dem Schulgesetz und jede eingestellte Lehrkraft bedarf der Zustimmung der Senatsverwaltung. Niemand wird also ungeprüft übernommen.
  • Die Autorin kann beruhigt werden, der „Schockeffekt auf Kinder“ im Zusammenhang mit der erwähnten Broschüre über Märchen und Mythen wird sich nicht einstellen, denn der Lesestoff ist ein Handbuch für Erwachsene.
  • Selbstverständlich kann im Religionsunterricht für Konfirmation oder Kommunion geworben werden. Warum soll dies – betreffend die Jugendfeiern des HVD – im Lebenskunde-Unterricht untersagt sein?
  • Wer beim Berliner HVD eine Jugendfeier absolviert, wird nicht automatisch Mitglied, erst auf eigenen Antrag hin. Im HVD Bundesverband gibt es keine einheitlichen Regelungen hierzu, da z.B. bei KdÖR in Nürnberg, Dortmund und Hannover andere Voraussetzungen und Traditionen gegeben sind als in Berlin oder Schwerin.
  • Autorin verwechselt ständig das neutrale Fach „Ethik“ für alle (und die Anforderungen an hier tätige staatliche Lehrer) und das Bekenntnisfach „Lebenskunde“ für Freiwillige. Genau dies ist aber der Unterschied, den „Pro Reli“ ständig in der Öffentlichkeit verwischt, um auf 170.000 Stimmen zu kommen. Die Bürgerinnen und Bürger, so scheint es, sind hier besser informiert und vor allem offener eingestellt.

Historische Anmerkung

Als die Nationalsozialisten in Deutschland 1933 an die Macht kamen, gehörte zu den ersten Maßnahmen die Abschaffung der „weltlichen Schulen“ und das Verbot des Lebenskundeunterrichts überall im Land und zuförderst in Berlin. In einem Brief der preußischen Abteilung des „Bundes Deutscher Evangelischer Lehrer- und Lehrerinnen-Vereine“ vom 13. März 1933 an den Reichskommissar für das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (BA, R 4901/3269/1, Bl. 1) frohlockten die Absender „Das Ende des Humanismus ist da!“ Nein, das war damals falsch prognostiziert und ist es auch heute.

Fazit

Holloween ist dieses Jahr vorbei. Da war kurz vor Mitternacht die einzige Gelegenheit, das Gespensterjägerdiplom in zwei Graden auf einem Friedhof der eigenen Wahl zu erlangen. Voraussetzung dafür wäre es gewesen, nachweislich 15 Gespenster zu fangen. Vielleicht erfüllt der FAS-Artikel diese Zahl oder auch nicht – jedenfalls kommt der angebliche Nachweis zu spät. Nächstes Jahr ist wieder Holloween. Da schauen wir mal, wer kommendes Jahr olle Kamellen für neue Gespenster hält. Denn seit es den HVD gibt, werden immer wieder und ziemlich regelmäßig alte, rote und verweste Socken ausgegraben, die denen nicht passen, denen sie gehören sollen.

Horst Groschopp