FÜRTH. (hpd) Hermann Kraus ist am 14. März 2013 gestorben. Geboren wurde er am 1. Mai 1927 in Neustadt/Aisch. Zwischen diesen beiden Daten spannt sich das Leben eines Mannes, der zwar mit sich, aber selten mit seiner Zeit im Reinen war: ein radikaler Pazifist, antiautoritärer Querdenker und freigeistiger Menschenfreund.
Hermanns Vater, Hermann Kraus sen., war konservativ, aber er war kein Anhänger Hitlers und ein Kritiker seiner Kriegspolitik. Er wurde 1936 zum Landrat in Ochsenfurt ernannt, die Familie lebte standesgemäß im Ochsenfurter Schloss. Der Großvater väterlicherseits von Hermann jun. war übrigens in Sachsen königlicher Baumeister. Hermanns Vater starb, wohl an Herzversagen, kurz nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Seine Kritik an der Politik Hitlers hatte dazu geführt, dass er kurz, bevor er starb, vor der Absetzung als Landrat stand. Als die Amerikaner nach 1945 die entsprechenden Akten über ihn fanden, hatte das zur Folge, dass die Familie und Hermann jun. mit ihr im Ochsenfurter Schloss wohnen bleiben konnten, wo Hermann im Turm auch noch als Student sein Zimmer hatte. Er war der jüngste von drei Geschwistern, der älteste Bruder, Fritz, starb noch in jugendlichem Alter an einer Kinderkrankheit. Seine Schwester Maja hat den Krieg überlebt. Die Mutter, Sophie Kraus, starb erst in den 70er Jahren.
Hermann Kraus sen. war ein Deutschnationaler und Mitglied des Stahlhelm, eines paramilitärischen Verbandes, der sich als der bewaffnete Arm der Deutschnationalen Volkspartei verstand. Der Pazifismus war also unserem Hermann Kraus nicht in die Wiege gelegt. Kein Wunder bei dem familiären Hintergrund, dass Hermann Kraus jun. mit 16 Jahren, 1943, freiwillig Flakhelfer im benachbarten Schweinfurt wird. Nach Tätigkeit im Reichsarbeitsdienst wird er dann noch im Januar 1945 als Grenadier zur Wehrmacht eingezogen, nach Kulmbach. Dort kommt es bei einer Nachtübung zu einem Unfall mit Oberschenkelbruch und Knieverletzung. Im Lazarett Kulmbach kommt er dann in US-amerikanische Gefangenschaft. Aber die Erfahrung des Krieges und die damit einhergehenden Zerstörungen haben aus dem kriegsbegeisterten Jungen einen Menschen gemacht, dem alles Militärische und Soldatische zeit seines weiteren Lebens ein Graus ist.
Nach dem Krieg macht Hermann Kraus sein Notabitur und studiert zunächst in Würzburg fünf Semester Germanistik, bricht dieses Studium aber 1948 ab. In der Würzburger Zeit unternimmt er erste Aktionen gegen aus der Nazizeit belastete Professoren. Ab 1949 nimmt er ein Studium der Volkswirtschaft an der Uni München auf, das er 1953 erfolgreich mit dem Diplom abschließt. In München kommt es zu ersten friedenspolitischen Aktivitäten gegen die Remilitarisierung und zum Engagement in der (damals noch nicht verbotenen) KPD und FDJ.
Wichtigstes und prägendes Erlebnis in der Münchener Zeit: Gegen die Wiederbewaffnungspolitik Adenauers versuchte die westdeutsche FDJ eine Volksbefragung durchzuführen, worauf diese Organisation 1951 zunächst in NRW, wenig später in ganz Westdeutschland verboten wurde. Daraufhin wurde von dem evangelischen Pfarrer Herbert Mochalski, einem Vertrauten von Martin Niemöller, im März 1952 für den 11. Mai 1952 zu einer „Jugendkarawane gegen Remilitarisierung und Generalvertrag" in Essen aufgerufen. Diese Demonstration wurde am 10. Mai durch den CDU-Ministerpräsidenten und Innenminister Karl Arnold verboten, dennoch nahmen am folgenden Tag etwa 30.000 Menschen, auch Hermann Kraus, an ihr teil. Als sich vor der Grugahalle Demonstranten der Aufforderung der Polizei zur Auflösung widersetzten und die Polizei bewarfen, erteilte der Einsatzleiter den Schießbefehl. Hermanns Münchener Arbeitergenosse Philipp Müller wurde von zwei Polizeikugeln getroffen, eine davon traf sein Herz. Zwei weitere Demonstranten wurden durch Schüsse schwer verletzt. Dutzende von ihnen wurden festgenommen, mehrere zu Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren verurteilt. Der Schüsse der Polizei wurden später vom Landgericht Dortmund als Notwehr eingestuft. Ministerpräsident Arnold rechtfertigte das Vorgehen der Polizei: „Da der Widerstand durch den Gebrauch des Polizeischlagstocks nicht gebrochen werden konnte [...] musste von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden." Philipp Müller war der erste Demonstrant, der in Westdeutschland von der Polizei erschossen wurde. Der Staat und seine Repressionsorgane standen auf Seiten der Herrschenden und waren bereit, auch Menschenleben zu opfern, das hat sich Hermann Kraus nachdrücklich eingeprägt.
1954 wird Hermann als diplomierter Hilfsarbeiter bei Grundig in Fürth eingestellt. Nach dem großen Metallarbeiterstreik 1954 wird ihm aber als Rädelsführer gekündigt. Er arbeitet dann in der Münchener kommunistischen Zeitung Bayerisches Volksecho mit. Die Zeitung wird nach dem KPD-Verbot 1956 geschlossen. 1957 heiratet Hermann Kraus die Arbeitskollegin und Genossin Lotte Wittmann. Sie stirbt 1963 an Krebs. Im Jahre 1964 gründet Hermann Kraus mit einer geschiedenen Gesinnungsfreundin eine Wohngemeinschaft, die sich aber nach drei Jahren auflöst.
Ab 1962 findet er eine Anstellung beim Bund für Geistesfreiheit Bayern Körperschaft des öffentlichen Rechts in Nürnberg, zunächst als Büroangestellter, schließlich als Geschäftsführer. Seine Aktivitäten in der folgenden Zeit sind eng mit seiner Tätigkeit für den Bund für Geistesfreiheit verknüpft. Nach dem Tod von Lotte Wittman lebt Hermann Kraus mit Inge Füssel zusammen, die lange Jahre stellvertretende Vorsitzende des BfG Nürnberg und dann auch stellvertretende Landesvorsitzende war. Hermann Kraus hat mit ihr zusammen die beiden Kinder, die Inge mit in diese Beziehung brachte, Klaus (der durch einen Fahrradunfall ums Leben kam) und Monika großgezogen.
1969 initiiert Hermann Kraus in Nürnberg eine öffentliche Aktion des Bundes für Geistesfreiheit zum Kirchenaustritt mit Ständen auf dem Hauptmarkt, an der Lorenzkirche und am Weißen Turm. Im klerikal dominierten Westdeutschland ist der öffentliche Aufruf zum Kirchenaustritt absolut ungewöhnlich. Über diese Aktion berichtet sogar DER SPIEGEL in seiner Ausgabe vom 10. 11. 1969.
Neben seinen kirchenkritischen Aktivitäten war ihm der Kampf gegen die Militarisierung der Bundesrepublik immer ein besonderes Anliegen. Insbesondere organisierte er Protestaktionen gegen die Gestaltung des Volkstrauertages, der jeweils zwei Sonntage vor dem ersten Adventssonntag begangen wird, mit militärischem Zeremoniell, in Nürnberg wie in Erlangen. Er will diesen Tag von seiner militaristischen Einkleidung befreien und zu einem Tag machen, an dem an die Sinnlosigkeit des Sterbens im Krieg und an Verbrechen des Krieges erinnert wird. In Fürth führt Hermann Kraus in den Jahren 1990, 2004 und 2007 eine Aktion mit der Niederlegung eines Kranzes beim Volkstrauertag durch.
Ein Anliegen ist ihm auch die Errichtung eines Denkmals für die Deserteure der Wehrmacht, auch wenn es hier in Franken nicht zu einem solchen Denkmal kommt. Immerhin wird seine Anregung, ein Denkmal für den unbekannten Deserteur zu errichten, im Ältestenrat des Stadtrats Fürth beraten. Vom Oberbürgermeister erhält er die Mitteilung, „dass mit dem Denkmal für die Opfer des Faschismus auch den unbekannten Deserteuren, als eine der Opfergruppen des Faschismus, bereits Rechnung getragen wird." (Brief vom 02. 04. 2009).
Ab Mitte der siebziger Jahre lebt Hermann Kraus mit seiner Lebensgefährtin Ria Heinrich zusammen, die bis zu ihrem Tod am 26. 10. 2006 eine große Stütze für ihn ist.
Der Tod, oder genauer gesagt, das qualvolle Sterben seiner Mutter Sophie Kraus, der er nicht zu dem von ihr gewünschten selbstbestimmten Tod verhelfen kann, ist für ihn Anlass zur Gründung der „Initiative für humanes Sterben nach Wunsch des Sterbenden", zu der er mit einer Zeitungsanzeige vom 1. 12. 1976 den Anstoß gibt. Für diese Initiative verbreitet er 1978 in großer Auflage eine Broschüre „Euthanasie heute". Aus dieser Initiative entwickelt sich schließlich die „Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben" (DGHS), die offiziell am 7. 11. 1980 gegründet wird.
Seit seiner Zeit als Germanistikstudent und als journalistischer Mitarbeiter des Volksecho ist Hermann Kraus schriftstellerisch tätig. Noch in den ersten Nachkriegsjahren erscheint Der Geist als Materie, wieder aufgelegt 1989. Ein Manifest der materialistischen Weltanschauung seines Verfassers. Ein Thema, das ihn mehrfach beschäftigt hat, war der Kommunismus der Wiedertäufer im 16. Jahrhundert in der Stadt Münster: 1976 publiziert er im Selbstverlag Gütergemeinschaft und Polygamie: die unmoralischen Wesensmerkmale des Kommunismus und jeder anderen Revolution dargestellt am Täuferkommunismus - an einer 1534/35 im belagerten Münster "endzeitlich" gelebten Menschheitsutopie. 1993 erscheint eine zweite verbesserte und ergänzte Auflage. Der Begriff 'unmoralisch' im Untertitel ist dabei durchaus ironisch zu verstehen. Eine knappe Zusammenfassung dieser Schrift erschien 1994 auch als Aufsatz „Zwischen Pan- und A-Theismus. Egalitär-polygame Sekten gegen die reiche Kirche." Hier fand er die Verbindung von Güterkommunismus und - mit der „Vielweiberei" der Täufer -Sprengung der christlichen Sexualmoral. Seine Verbindung marxistischer Vorstellungen und einer freien Sexualmoral war für manche der fortschrittlichen oder sich für fortschrittlich haltenden Mitglieder linker Gruppen allerdings nicht immer leicht verdaulich. Schließlich herrschte auch bei den westdeutschen Kommunisten auf diesem Gebiet eine eher (klein-)bürgerliche Moral. Als Hermann Kraus 1974 eine Bürgerinitiative für die Einrichtung eines Eroscenters unter staatlicher (kommunaler) Aufsicht in Nürnberg gründet, gibt das einen ziemlichen Skandal, auch innerhalb des Bundes für Geistesfreiheit. Eine große Mehrheit der Mitglieder setzt aber durch, dass er seine Stelle als Geschäftsführer behalten kann.
Als Geschäftsführer des BfG Nürnberg gibt Hermann Kraus die Schrift heraus: Geistesfreiheit. Verfemt, verfolgt - erfolgreich oder Warum der Bund für Geistesfreiheit (bfg) ganz besonders gegen Zensur und Berufsverbot, Dogmatismus und Intoleranz ist. Nürnberg 1980. Ein anderes Anliegen, das er ebenfalls schriftstellerisch verfolgte, war die Bekanntmachung und Verbreitung der Schriften des Philosophen Ludwig Feuerbach. 1972 erscheint zum ersten Mal seine „Kurzgefasste Zitatenauslese" aus dessen Schriften. Seine Kontaktaufnahme mit dem Herausgeber der Feuerbach-Ausgabe, Professor Schuffenhauer, führt schließlich auch dazu, dass diesem Philosophen am 13. September 2002 in Erlangen ein Denkmal errichtet wird.
1986 tritt er zum 1. April aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt als Geschäftsführer des BfG Nürnberg zurück. Seine Aktivitäten verlagert er von nun an nach Erlangen, wo er im Vorstand des Bundes für Geistesfreiheit Erlangen tätig ist. Seine Lebensgefährtin Ria Heinrich und er kümmern sich um den Freundeskreis des Bundes für Geistesfreiheit Erlangen, der zahlreiche Veranstaltungen durchführt.
Im Auftrag des Bundes für Geistesfreiheit Erlangen gibt Hermann Kraus, als die evangelische Kirche im Jahr 1996 den 450. Todestag Luthers feiert, ein Flugblatt heraus „Luther der 'große Reformator' antisemitisch - frauenfeindlich - antihumanistisch". Die Kritik, die in diesem Flugblatt auch an der Asylpolitik der BRD und an den deutschen Kriegseinsätzen mit „militärseelsorgerischer Unterstützung durch die Kriegskirche" geübt wird, führen am 29. 08. 1996 zu einem Beschluss der Ermittlungsrichterin beim Amtsgericht Nürnberg, mit dem eine Hausdurchsuchung bei Hermann Kraus, der als presserechtlich Verantwortlicher zeichnet, und die Beschlagnahme von 31 Exemplaren dieses Flugblattes angeordnet wird: Begründung „Verdacht eines Vergehens der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungen gem. § 166 Abs. 2 StGB". Dabei hatte sich von der Kirche niemand an die Staatsanwaltschaft gewandt, ein übereifriger Staatsanwalt war hier tätig geworden. Über die Sache wird in der Presse breit berichtet, mehrere Ortsgruppen des BfG Bayern und dessen Vorsitzender solidarisieren sich öffentlich mit Hermann Kraus, und die zitierten Äußerungen Luthers werden auf diese Weise einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Am 9. Dezember 1996 hebt das Gericht den Beschlagnahmebeschluss auf. Ein schönes Beispiel dafür, dass es gelingen kann, auch Staatsorgane ganz gegen ihre Absicht zur Unterstützung antiklerikaler Aufklärung zu gewinnen.
Nach dem Tod seiner Lebensgefährtin Ria Heinrich am 26. Oktober 2006 wird es schwieriger für Hermann Kraus, in der bisherigen Wohnung in der Zähstraße 3 in Fürth sein Leben zu organisieren. Seine zunehmende Gebrechlichkeit nötigt ihn schließlich, im Oktober 2009 in die Seniorenresidenz Curanum in Fürth umzuziehen. Michael Stelter aus dem Vorstand des Bundes für Geistesfreiheit Erlangen ist nun sein zuverlässiger und besorgter Freund, der ihn auch in seinen letzten Tagen begleitet. Eine Bestattung mit feierlichen Reden am Grabe ist Hermann Kraus zuwider und er hat ein passendes Mittel gefunden, sie zu vermeiden: Er hatte schon im Jahr 1968 seine Leiche der Erlanger Anatomie vermacht.
Er lebt dafür umso deutlicher in der Erinnerung seiner Freunde und politischen Gefährten weiter. Sobald er den Vorstellungen seiner Jugend entwachsen war, hat er sich nie mehr gebeugt, als materialistischer Atheist nicht sein Knie vor dem Altar eines nicht-existierenden Gottes, als anarchistischer Kommunist nicht seinen Rücken vor den Inhabern staatlicher Macht. Seine Unbeugsamkeit, seine Unerschrockenheit und Zähigkeit sind allen, die ihn kannten, ein bleibendes Beispiel.
Theodor Ebert