Gehalten werden die Bio-Hühner übrigens in Kleingruppen mit der Möglichkeit zum Scharren. Neben dem HET-CAM gibt es auch den Augentest, für den man Rinderaugen aus Schlachthöfen verwendet (hier raunt es auch aus dem Saal, weil man dafür ja Schlachthäuser braucht), Tests an Hautzellkulturen, von denen es vier verschiedene anerkannte Hautmodelle gibt und Tests an der Hämolymphe des Pfeilschwanzkrebses (LAL-Test). Der Draize-Test würde also nur noch genommen, um wirklich zu zeigen, dass keine toxikologische Gefahr mehr besteht.
Warum setzen sich diese Alternativmethoden nun aber EU-weit so langsam durch (beim HET-CAM immerhin 17 Jahre)? Laut Dr. Liebsch ist das prinzipielle Problem, dass die Protokolle EU-weit erst anerkannt werden, nachdem sie in alle 27 EU-Sprachen übersetzen worden sind. Und das, obwohl die jeweiligen Institute dann vorzugsweise doch auf den englischen Text zurückgreifen.
Grundlagenforschung
Den größten Verbrauch an Tieren für Forschungszwecke (offiziell spricht man also nicht von Vivisektion) weist aber die Grundlagenforschung auf. Hier wird alles an naturwissenschaftlicher Forschung zusammengefasst, was nicht zwingend in einer klinischen Therapie münden soll.
Der Rechtsanwalt der Runde, Rolf Kemper, wird hier zur Rolle des Tierschutzes im Grundgesetz befragt. Seit 2002 steht der Tierschutz nämlich im Grundgesetz und ist damit ein Staatsziel. Dort kämpft es nun nicht mehr auf einer Ebene mit Sachbeschädigung sondern mit der wissenschaftlichen Freiheit. Diese wiederum ist aber auch ein Grundrecht, so wie die Presse-, Religions- oder Kunstfreiheit. Obwohl der Tierschutz letzten Endes zu Recht doch höher bewertet wird als die Kunstfreiheit. Schwierig ist auch die Übertragungsrate vom Tiermodell auf den Menschen zu bewerten. Auf acht Prozent wird sie von einer OECD-Studie geschätzt, aber wie sie berechnet wird, ist keinem so richtig klar.
Podiumsgäste einig, dass kein Tierversuch ethisch vertretbar sei
Sowieso hätte uns die gesamte Grundlagenforschung der letzten Jahrzehnte kein Stück voran gebracht: Es gäbe immer noch kein Mittel gegen die großen Geißeln der Menschheit: Krebs, AIDS oder psychische Krankheiten. Unerwähnt bleibt aber der große wissenschaftliche Erkenntnisgewinn aus der Forschung zur Genregulierung und damit der Ursache und dem Verlauf vieler Krankheiten. Auch, wenn wir immer noch keine „magic bullets“ haben, verfügen wir mittlerweile über die Möglichkeit, den Krebs früh zu erkennen und ihn dann auch erfolgreich zu bekämpfen. Zudem erkennen wir mehr und mehr, wie komplex die Genregulation eigentlich ist. Es ist doch phänomenal zu begreifen, wie aus einer Zelle ein kompletter Organismus wächst und sich im Laufe seines Lebens anpasst und verändert. Bei aller rechtmäßigen Kritik an der modernen Forschung: Niemand kann uns heute noch weismachen, dass es sich bei Krankheiten um einen göttlichen Fluch handelt oder eine Verschiebung des Säftehaushaltes. Wissenschaft ist auch gesellschaftliche Aufklärung.
Auflagen für Tierhaltung
Ich vermute mal, dass ein Großteil der Uraniabesucher vor der Veranstaltung noch einen Kaffee mit Milch getrunken hat oder danach in seinen Lederschuhen nach Hause gegangen ist, vielleicht noch eine Currywurst oder ein Käsebrot am Wittenbergplatz gegessen hat. Nirgends sind die Auflagen für Tierhaltung strenger als in der Forschung. Jeder kann seinen Hund zu Hause quälen, ohne dass dies ein Beamter des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin (LAGeSo) regelmäßig überprüft. Für Leder aus artgerechter Tierhaltung gibt es nicht mal ein Gütesiegel und bei den miserablen Bedingungen in der Milchviehhaltung wird von den zuständigen Veterinärämtern immer wieder gern ein Auge zugedrückt. Kein Tier darf in der Forschung ohne eine geprüfte Betäubung, wie sie auch bei Operationen am Menschen zum Einsatz kommen, getötet werden, da gibt es keine Bolzenschüsse oder Elektroschockmethoden. Selbst der Genickbruch bei Mäusen ist ethisch doch wohl eher vertretbar als das Verfüttern lebendiger Mäuse an Schlangen, was überhaupt nicht kontrolliert wird (naja, wie auch …). Um einer Nachtigall eine Blutprobe zu entnehmen, bedarf es einer langen Bewilligungsprozedur, für das Coupieren von Ferkelschwänzen nicht.
Tierschützer reden immer von den „Tieren“. Biologen rechnen zum Tierreich eigentlich alles, was einen Zellkern hat, sich aber nicht durch Photosynthese ernährt und kein Pilz ist. Welche dieser Lebewesen sind nun aber in einer Art leidensfähig, die für einen Schutz hinreichend wäre, ja, ihn einfordert?
Vergleichender Ansatz der Verhaltensbiologie
Gerade als Verhaltens- und Neurobiologin interessiere ich mich doch für die evolutionäre Herkunft und die Funktion von Verhalten im Tierreich. Mit dem vergleichenden Ansatz der Verhaltensbiologie sucht man aber nicht nur nach Gemeinsamkeiten, sondern auch nach Unterschieden, mit denen die Lebewesen den jeweiligen ökologischen Nischen angepasst wurden.
Im (mehrzelligen) Tierreich sind die einzigen mehr oder weniger distinkten Einheiten die verschiedenen Arten, die untereinander kein Erbgut austauschen und somit keine fruchtbaren Nachfahren zeugen. Abgesehen davon haben wir es immer mit einem Kontinuum zu tun und verdanken die Kategorien „Mensch“ und „nichtmenschliches Tier“ nur der Tatsache, dass unsere Vorfahren bis hin zu dem gemeinsamen Ahnen aller Menschenaffen (meines Wissens) ausgestorben sind. Aus erkenntnistheoretischer Sicht weiß (oder fühle) ich nur, dass ich selbst subjektiv Schmerzbewusstsein habe. Aus dem Verhalten meiner Mitmenschen folgere ich per Analogieschluss, dass sie ebenso wie ich empfinden (obwohl sie auch perfekte Automaten sein könnten, die sich nur so verhalten als ob sie ein Schmerzbewusstsein hätten). Unsere nächsten Verwandten, die großen Menschenaffen, sind uns in ihrem sozialen Verhalten so sehr ähnlich, dass wir schlussfolgern sollten, dass auch sie über ein ethisch relevantes Schmerzbewusstsein verfügen. Vielleicht nicht das gleiche, wie die Menschen, aber eines, das ihnen bestimmte Grundrechte garantieren sollte. Daher unterstütze ich auch das von Peter Singer und Paola Cavalieri ins Leben gerufene und von der Giordano-Bruno-Stiftung wiederbelebte „Great Ape Project“.
Leidensfähigkeit
Leidensfähig sind Lebewesen, wenn sie über ein bestimmten (ontologischen und evolutionären) Entwicklungsstand des Nervensystems und eine biologische Lebenserwartung verfügen, für die ein Schmerzgedächtnis relevant ist. Polypen haben ein einfaches Nervennetz, bei Insekten hingegen gibt es Konzentrationen von Nervenzellen, die Ganglien, und Wirbeltiere haben ein zentrales Nervensystem, das Gehirn. Menschliche Embryos in der achten Schwangerschaftswoche stehen damit übrigens ethisch noch unter einem Polypen.
Es gibt sehr gute Evidenzen, dass Säugetiere eine Form von Schmerzbewusstsein haben, die einen speziellen Umgang mit ihnen nötig macht. (4) Von Fruchtfliegen wissen wir, dass sie lernen, unangenehme Reize zu vermeiden (5), aber haben sie ein Bewusstsein dafür oder reagieren sie einfach nur, wie bei einem Reflex? Und, wenn man die dafür nötige Reizweiterleitung mit Analgetika ausschaltet, also betäubt und einen schmerzfreien Tod herbeiführen kann? Hat das Tier dennoch ein Recht zu leben?
Schmerzfreie Tiertötung
Der Inhaber des deutschlandweit einzigen Lehrstuhls für Tierethik, Prof. Jörg Luy von der Freien Universität Berlin hat dem Thema der schmerzfreien Tiertötung seine Dissertation gewidmet, in der er alle relevanten moralphilosophischen Texte in einem Streifzug durch die Philosophiegeschichte zur Tiertötung beleuchtet. Am Ende kommt er zu dem Schluss, „dass das dem Menschen zur Verfügung stehende moralische Bewertungsverfahren nicht auf die Tötungsfrage anwendbar ist. Die angst− und schmerzlose Tiertötung (ohne Einbeziehung Dritter), als konkretes Beispiel für das abstrakte Problem der Tötungsfrage, ist aus diesem Grund weder wünschenswert noch unmoralisch sondern unerwarteterweise ohne moralischen Status.“
Mit der „Einbeziehung Dritter“ sind hier die Interesses eines tierischen oder menschlichen Angehörigen, den das Töten einen Tieres quälen könnte, gemeint. Ist das der Fall bei Mäusen? Trauern sie so sehr um einen gequälten oder verstorbenen Artgenossen, dass es sich um einen psychischen Schmerz handelt? Einigen Mausfans zufolge schon. Wenn Mäuse aber so einfühlsam sind, so leidensfähig, so intelligent und aufopfernd, warum habe ich dann (außerhalb der bekannten Trickfilmfiguren) noch nie etwas von einem Mäuseaufstand in einem Labor gehört? Wie fühlt es sich an, ein trauerndes Nagetier zu sein? (6) Wir werden, ja, können es nicht wissen. Wer ist nun aber in der Beweisschuld – der Mensch oder die Maus?