BERLIN. (hpd) Anlässlich des „Welttierschutztages“ veranstaltete das Bündnis Tierschutzpolitik einen Abend für seine Forderung nach einer Forschung ohne Tierversuche. Eine Neurobiologin wagte sich in die Höhle des Löwen, formuliert eine detaillierte Selbstbesinnung und fordert eine begriffliche Neuordnung. Es ist mehr Nachdenklichkeit angesagt. Auf beiden Seiten.
Zum „Welttierschutztag", der erstmals am 24. April 1979 in Großbritannien begangen wurde und auf den Geburtstag von Lord Hugh Dowding zurückgeht, der sich im Britischen Oberhaus für den Tierschutz einsetzte, veranstaltete das Bündnis Tierschutzpolitik Berlin in Kooperation mit der Urania Berlin am vergangenen Mittwoch eine unterhaltsame Mischung aus Kochshow und Podiumsdiskussion zum Thema: „Forschung Ja - Tierversuche Nein! Einblicke und Ausblicke in eine Forschung ohne Tierversuche.“
Gleich zu Anfang möchte ich bekennen, dass ich Tiere töte, um ihr Nervensystem zu erforschen. In meinem Fall sind das meine Modellorganismen Fruchtfliege und Honigbiene. Ich tue dies nicht, weil ich mich für die Krone der Schöpfung halte (Gen 1, 27-28) oder schon als kleines Mädchen gerne Frösche aufgeblasen habe. Ich mache das, weil es für meine wissenschaftliche Fragestellung notwendig ist und mir wissenschaftliche Fakten über Schmerzbewusstsein und psychische Leidensfähigkeit bei Insekten nicht bekannt sind (1). Sollte eines Tages erkannt werden, dass auch Fruchtfliegen meine Behandlungen ganz bewusst als quälend empfinden können, werde ich nicht nur den Modellorganismus wechseln, sondern mich persönlich gegen die bekanntesten Fruchtfliegentötungsgeräte einsetzen: klebrige Fliegenfänger und Windschutzscheiben.
Vivisektion?
Vor dem Einsteinsaal der Urania Berlin wurde ich gleich um eine Unterschrift gegen Vivisektion gebeten. Vivisektion? Das kenne ich aus dem Bereich „Wissenschaftsgeschichte“ und assoziiere damit längst verbotene Operationen an unbetäubten Fröschen, um deren lebenden Organen bei der Arbeit zuzusehen. Das unterschreibe ich sofort, aber in welchen wissenschaftlichen Instituten wird so etwas denn noch praktiziert, mal ganz abgesehen von der religiösen Schächtung? „Überall in Europa und in Deutschland!“ erfahre ich von der engagierten Unterschriftensammlerin. „Ach was, echt? Aber was und vor allem wo denn genau?“, will ich wissen. „Da werden Kaninchen ätzende Säuren in die Augen geträufelt, z. B.“ Aber dieser Zulassungstest für Chemikalien ist doch schon längst ein Auslaufmodell und außerdem keine Vivisektion. Oder doch?
Ich will wissen, ob ALLE Tierversuche, also auch verhaltensbiologische, in denen den Tieren vielleicht eine Blutprobe abgenommen wird, unter „Vivisektion“ zusammengefasst werden und erhalte als Antwort ein ganz klares „Ja!“, dazu verblüffte, weit geöffnete Augen. Ich entschuldige mich, aber so eine polemisierende Begrifflichkeit kann ich beim besten Willen nicht unterschreiben, obwohl ich gegen das Aufschneiden von unbetäubten Wirbeltieren bin, wie es in der modernen Schlachtung z. B. passiert, ob gewünscht (Schächtung) oder versehentlich (verrutschter Bolzenschuss). Aus diesem Grund habe ich mich auch vor zwei Jahren für eine (bis auf wenige Ausnahmen) vegane Lebensweise entschieden, deswegen muss ich aber noch lange keine Begriffe überstrapazieren.
Im Publikum sind auffällig viele junge Leute (was in der Urania als Bildungseinrichtung schon irgendwie auffällt). Hinter mir tauscht man sich über empfehlenswerte vegane Restaurants aus und manche T-Shirts sind mit Aufschriften gegen Milchkuhhaltung bedruckt. In der Einkaufstüte meiner Sitznachbarin erspähe ich aber auch den Heringssalat von „Gut und Günstig“. Auf der Bühne ist eine Art Mini-Labor mit Pipetten und Spritzflaschen aufgebaut. Das verspricht spannend zu werden und erinnert an diese neuen Wissenschaftsshows im Fernsehen mit Ranga Yogeschwar oder Jean Pütz.
Dr. Ingolf Ebel, Urania-Fachbereichsleiter für Grenzfragen aus Wissenschaft und Forschung leitet die Veranstaltung ein. Er betont dabei das gemeinsame grundlegende Interesse der Urania und des Bündnis Tierschutzpolitik Berlin, weist aber auch darauf hin, dass die Urania eine breite Palette an wissenschaftlichen Erkenntnissen anbietet (also auch aus medizinischen Feldern, in denen Tierversuche durchgeführt werden … muss man sich die Aussage zu Ende denken). Auf dem Podium finden sich die drei Gesprächsgäste ein und die Moderatorin Ines Krüger, deren Gesicht ich aus dem Fernsehen kannte. Sie ist Vorstandsmitglied im Tierschutzverein für Berlin und Umgebung und Berlins erste Tierschutzbotschafterin. Unter den Gästen sind Dr. Manfred Liebsch, der an alternativen Testmethoden für Chemikalien arbeitet, Dipl. Biol. Kristina Wagner, Fachreferentin für Alternativmethoden zu Tierversuchen von der Tierschutzakademie und Rolf Kemper, Rechtsanwalt für Fragen des Tierschutzes. In der ersten Reihe sind ebenfalls bekannte Gesichter der Tierschutzszene vertreten, wie z. B. die Tierschutzpolitische Sprecherin der Berliner Grünen Claudia Hämmerling.
Arten der Tierversuche
Im Laufe des Abends werden fünf Arten von Tierversuchen besprochen oder erwähnt (in Klammern der jeweilige Anteil an der Gesamtmenge an Versuchstieren (2)): Diagnose von Krankheiten (0,6 %), toxikologische Untersuchung bei Zulassungsbehörden (1,8 %), Lehre (1,9 %), und das mit Abstand größte Feld: Grundlagenforschung (67,6 %). In der Kosmetik sind Tierversuche seit 2004 EU-weit verboten.
Zuerst also die Frage nach den transgenen Mäusen, die mit gezielt verändertem Erbgut gezüchtet werden um den Einfluss bestimmter Gene auf Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer zu untersuchen. Die Diplom-Biologin Kristina Wagner erklärt, dass für die Zucht einer solchen Maus viele Elterntiere und Geschwister benötigt werden, wobei diese aber selber für die Forschung irrelevant sind und daher als „Kollateralschaden“, wie Claudia Hämmerling zitiert wird, getötet werden. In der Statistik tauchen diese züchtungsbedingten Mäuse aber nicht auf, da sie gar nicht im Zielversuch landen. Frau Hämmerling schätzt, dass es sich also nicht um die offiziell bezifferten 375.000 sondern 1,2 Mio. Versuchstiere (also vor allem Mäuse) im Jahr 2011 handelte. Die genmanipulierten Tiere entwickeln z. B. schwerwiegende Missbildungen der Augenhornhaut und dienen damit als Tiermodell, um Ursache und Verlauf der jeweiligen Krankheit zu untersuchen. (3)
In der Lehre würde man mehr und mehr auf z. B. digitale Alternativen setzen und auf Wirbeltiere größtenteils verzichten. In der Toxikologie hätten sich Alternativen zu den klassischen Tierversuchen größtenteils durchgesetzt, so dass der sogenannte LD50- sowie der Draize-Test mehr und mehr verzichtbar werden.
„Bühne frei!“ für Dr. Liebsch und sein mobiles Labor
Dr. Manfred Liebsch arbeitete selber einige Jahre am Laboratorium für Pharmakologie und Toxikologie, Hamburg, wo er den Draize-Test durchführte, für den Kaninchen Chemikalien in die Augen getröpfelt werden und die Reaktion des Gewebes auf ihre Toxikologie bewertet wird. Dann wechselte er aber die Seiten und forscht seit 1990 am ZEBET („Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch“). Seit 2002 ist der in den 80er Jahren entwickelte „HET-CAM“ Test (Hühner-Ei-Test-(an der) Chorion Allantois Membran) in Europa zur Vorhersage starker Augenschäden anerkannt.
In einer sehr unterhaltsamen und dabei kompetenten Art führte der sympathische Wissenschaftler nun mit Kamera und Laptop vor, wie einfach es ist, am Hühnereiembryo einen Toxikologietest durchzuführen. Mit an den Zahnarzt erinnernden Bohrergeräuschen öffnete er ein bebrütetes Hühnerei, legte die feine Aderhaut frei und beträufelte sie mit einer 10prozentigen Salmiaklösung. Jeder im Saal konnte dank der Mikroskopiekamera auf der Leinwand verfolgen, wie die feinen Äderchen langsam platzen und das Blut heraus quoll. Für einige im Saal allerdings schon eine Zumutung, wie sich bei dem aufkommenden Raunen im Auditorium und den Publikumsfragen am Ende der Veranstaltung herausstellte. Immerhin würde da ganz grundlos ein Embryo geopfert. Dr. Liebsch nahm diese Kritik sehr bereitwillig an (er hörte sie bestimmt nicht zum ersten Mal), wies aber auf das frühe Embryonalstadium und damit auf das noch unentwickelte Schmerzempfinden hin und betonte, wie eindrucksvoll seine Vorführungen auf die Menschen bisher immer waren.