Die Kunst und die Evolution

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Hilma af Klint, Der Schwan, Nr.-19, (1915) – Fotos: Simone Guski

BERLIN. (hpd) Schon 1906, vier Jahre vor Kandinsky malte sie ihre ersten abstrakten Bilder. „Urchaos“ betitelte sie die Serie. Es folgten über 1.000 weitere, die sie zeitlebens unter Verschluss hielt und die erst 20 Jahre nach ihrem Tod der Öffentlichkeit gezeigt werden sollten.

Die Schwedin Hilma af Klint nannte eine ihrer großen abstrakten Bildserien „Evolution“. Eine in Stockholm vom Moderna Museet kuratierte Ausstellung ist jetzt im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen.

Hilma van Klints kleine Gouachen leuchten in Blau und Gelb. Diese Farben repräsentieren das weibliche und das männliche Prinzip. Die Wechselwirkung der beiden bringe die Evolution in Gang und sei der Motor jeglicher Entwicklung, davon war die Künstlerin überzeugt. Die Mischfarbe aus beiden ergibt Grün, die dritte Farbe auf diesen frühen Arbeiten, auf denen Schneckenformen, ein Sinnbild der Evolution, und blütenartig symmetrische Lineaturen, die das Wachstum von Ranken in reine Linie zu übersetzen scheinen, vor einem monochromen Bildhintergrund schweben. Dazu schlaufenartige Gebilde wie primitive Mehrzeller, mit Einschlüssen wie Zellkernen.

Die schwedische Malerin, die als erste Frau überhaupt in ihrem Land ein Studium an der Kunstakademie absolvierte, begann ihre berufliche Laufbahn als Zeichnerin für das veterinärwissenschaftliche Institut in Stockholm. Dann übernahm sie Auftragsarbeiten als Portraitmalerin und Landschaftsmalerin. Detailgenaue Studien zu Pflanzen, seien es Kornblumen, Kornähren, blühende Apfelbäume oder Pilze zeigen ihr Interesse an Strukturen des Wachstums.

Beispielbild
Hilma af Klint: Kornähre - Beim Betrachten von Blumen und Bäumen (1922)

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Sie nahm an spiritistischen Seancen teil und wähnte ihr Schaffen von Geistes- oder Geisterhand diktiert. Nur ein Trick, um sich mit ihrer  gegenstandslosen Malerei auf absolut neues Terrain zu wagen? Oder eine Möglichkeit, es so tun zu können?

Der Spiritismus war zu ihrer Zeit weit verbreitet. Eben hatte man die elektromagnetischen Wellen entdeckt und die Röntgenstrahlen, und nun waren viele überzeugt, dass es noch weit mehr den Menschen unbekannte Kräfte geben müsse, denen man bei spiritistischen Sitzungen auf die Spur zu kommen versuchte. Dabei hatte diese Sitzungen selbst etwas eigentümlich Pseudowissenschaftliches. Man fertigte Protokolle an, versuchte die Erscheinungen phonografisch oder fotografisch festzuhalten. So mancher später entlarvte Trickbetrüger hatte mit dem Glauben der Damen aus gehobener Gesellschaft ein lukratives und leichtes Spiel.

Die Zeichnungen der Hilma af Klint, bei denen Geister angeblich die Hand führten, kann man ebenfalls als den Versuch einer Methode der protokollarischen Objektivierung an sich unsichtbarer Kräfte sehen. Auf seltsame Weise vermischen sich hier naturwissenschaftliche Methodik und abergläubische Zielsetzung. Je stärker die Naturwissenschaft das Wissen der Menschen bestimmte, umso dringender Anfang des letzten Jahrhunderts die Sehnsucht gerade in bürgerlichen Kreisen, etwas von der immer mehr im Schwinden begriffenen Welt des Glaubens zu retten. Und sei es mit den Methoden der Naturwissenschaft. Da machte Hilma af Klint keine Ausnahme.

Doch auch darin, seltsam verschroben rückwärtsgewandt und gleichzeitig unglaublich modern und richtungsweisend auf künstlerischem Feld für die Zukunft zu sein, stand Hilma af Klint nicht allein. Von Wassily Kandinsky über Kurt Schwitters, ja selbst der so nüchterne Piet Mondrian mit seinen Quadraten mit dem Charme eines Kühlschranks interessierten sich für Okkultes. Sie alle wollten nicht Gegenstände, sondern die Kräfte hinter den Dingen malen. Strukturen nicht Gestalt, Allgemeingültiges schaffen nicht Individuelles. Kräfte kann man nicht sehen. Vom Unsichtbaren zum  Geistigen war es damals nur ein kleiner Schritt. - Und letzten Endes waren die Maler ja keine Metaphysiker, sie wollten Kunst machen und bedienten sich den weltanschaulichen Vorlagen ihrer Zeit wie einer Folie, auf der sie ihr Werk entwickelten.

Hilma af Klint begann erst mit 42 Jahren, ihre ersten abstrakten Bilder zu malen. Im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte wurden ihre Arbeiten immer großformatiger. Sie schuf riesige Wandpanele, wie geschaffen für die modernen Museen unserer Zeit. Gedacht waren sie allerdings für einen Tempel. Die Serie „Evolution“ sollte die Wände eines schneckenartig angelegten Sakralbaus schmücken. Sicher verstand sie unter Evolution etwas anderes als Charles Darwin. Das Wissen um die Evolution wurde zum Paradigma, das nur etwas umgestaltet werden musste, um als Denkschema auch auf solche Anschauungen übertragen zu werden, die Religiöses in neue Zeiten hinüberretten wollten. Eine unklare Gemengelage entstand. Doch nur auf der Basis der Rationalität allein entsteht Kunst niemals.

Es bleibt eine verstörende und produktive Melange aus Rationalität und Irrationalität. - Ihr Pendant findet sie in der Mischung aus unglaublicher Kühnheit, mit der die Künstlerin ihr Werk schuf, mit reinen Farben und  Linien, die an von Leibniz erdachten Linien der Infinitesimalrechnung erinnern und an seine Theorie, nach der es für jede Form in der Natur eine mathematische Formel geben müsse. Andererseits haftet den Leinwänden der Kint aber auch etwa Dekoratives an. Bisweilen fühlt man sich an Entwürfe für Tischdeckenmuster erinnert. Ihre Bilder sind meist blütenhell – und sehr weit entfernt von der Ton-in-Ton-Tempera- oder Ölmalerei ihrer Zeit. Gleichzeitig erinnern sie freilich Ein Schelm, wer dabei Böses denkt - auch an Malerei auf Bauernmöbeln. Nein, Hilma af Klint ist so einfach in keine Schublade zu stecken. Vielleicht weil sie ihr Werk, anders als die avantgardistischen Maleramazonen Russlands, fast völlig im Alleingang entwickelte.

Simone Guski

Hilma af Klint. Eine Pionierin der Abstraktion. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart - Berlin. Invalidenstraße 50-51. Bis 6 Oktober. Katalog 39,95 Euro.

Beispielbild
Installationsansicht Hamburger Bahnhof, Berlin. © Staaatliche Museen zu Berlin, Foto: David von Becker