Vortrag auf dem Weltkongress für Philosophie in Rom

Neue Theorie über Leben, Denken, Kultur und Technik

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Mit Schnecke und Seife: Steffen Münzberg während seines Vortrags auf dem Weltkongress für Philosophie in Rom
Steffen Münzberg

Wie kommt es, dass sich eine Schnecke so anders verhält als ein Stück Seife, obwohl sie doch aus ähnlichen Atomen bestehen? Und warum kann eine Affenart Gedichte schreiben und Raumstationen bauen, andere Affenarten jedoch nicht? Wieso überhaupt kann ein Zellklumpen im Schädel denken? Um zu erklären, wie diese erstaunlichen Eigenschaften in die Materie hineingeraten sind, hat Steffen Münzberg eine neue Theorie zur gemeinsamen grundlegenden Struktur von Leben, Denken, Kultur und Technik entwickelt, die er am 3. August auf dem XXV. Weltkongress für Philosophie in Rom 2024 vorgestellt hat.

Ausgearbeitet hat Münzberg seine neue Theorie bei dem Versuch, die Mem-Theorie von Richard Dawkins weiterzuentwickeln und in ein übergeordnetes Evolutionsmodell einzuordnen. Er hat festgestellt, dass sich die Grundfunktionsweisen von Leben, Denken, Kultur und Technik auf zwei grundlegende Mechanismen reduzieren lassen. Seiner Ansicht nach entstehen Leben, Denken, Kultur und Technik durch die Interaktionen von kopierfähigen Formen und selektiven Aktuatoren (handlungsfähigen Dingen). Die kopierfähigen Formen kennen wir als Gene und Meme, also Worte, Ideen und Baupläne. Selektive Aktuatoren sind seiner Ansicht nach die Enzyme, Neuronen, Neuronengruppen, Schalter, Relais, Transistoren und Microchips.

Der Mitschnitt des Vortrages, Englisch mit deutschen Untertiteln.

Kopierfähige Formen

Richard Dawkins hatte die These aufgestellt, dass sich kulturelle Informationen – ähnlich wie die Gene – bei ihrer Vervielfältigung im darwinistischen Wettbewerb gegeneinander im Kampf um Plätze im Gehirn befinden. Er hatte die kulturellen Informationen als Meme bezeichnet. Dawkins hatte aber keine Aussage dazu gemacht, welche Eigenschaften die Gene und die Meme gemeinsam haben, welche gemeinsamen Eigenschaften der Gene und Meme diese ähnlichen evolutionären Verhaltensweisen ermöglichen. Nach Münzbergs Meinung lassen sich das Kopieren von Genen, von Worten, von Bauplänen und von Software immer auf die Replikation von Feldformen zurückführen. Wenn sich bei der Replikation eines DNA-Stranges einzelne Nukleinsäuren an passende Stellen des bestehenden DNA-Stranges anschmiegen, dann ist dies möglich wegen der zueinander passenden Formen der elektrischen Felder der beiden sich berührenden Moleküle. Wenn mehrere Nukleinsäuren zu einem neuen DNA-Strang verbunden werden, dann wird die Form des neuen DNA-Moleküls durch die Form des schon bestehenden DNA-Moleküls bestimmt.

Kann dieses Konzept der Feldform-Replikation auch auf Worte und Ideen angewendet werden? Münzberg ist der Ansicht, dass dies möglich ist. Ein gedrucktes Wort ist zum Beispiel ein Tinten-Dichte-Feld. Die Folge von konvexen und konkaven Feldgrenzen lässt uns solche Tinten-Dichte-Felder als Buchstaben und Worte erkennen. Ein gesprochenes Wort wiederum besteht aus einem zeitlich und räumlich definierten Luftdruck-Feld. Komplexer sind die Formen, die die Worte und Ideen im Gehirn annehmen. Hier sind Worte und Ideen durch den Verlauf der Neuronenverbindungen – der Dendriten, Axone und Synapsen – manifestiert. Der Verlauf der Dendriten, Axone und Synapsen kann auch als die räumliche Verteilung der elektrischen Felder der Moleküle der Neuronen beschrieben werden. Die Form eines bestimmten Wortes ist in jedem Gehirn etwas anders, aber aus den Wort-Feldformen im Gehirn lässt sich immer die Feldform des jeweiligen gesprochenen oder geschriebenen Wortes erzeugen.
Das Konzept, dass Gene, Worte, Ideen, Software und Baupläne alle kopierbare Feldformen sind, macht es einfacher, die Ähnlichkeiten der biologischen, kulturellen und technischen Evolution zu verstehen. Denn diese Feldformen können mutieren, sie können sich mit anderen Feldformen verbinden (Sexualität, Kreativität) und sie unterliegen bei ihrer immer wiederkehrenden Replikation einer Auslese durch die Umwelt.

Selektive Aktuatoren

Zum Referenten:
Steffen Münzberg, geboren 1968, ist seit seiner Kindheit von Naturwissenschaften und Geschichte fasziniert. Der Diplom-Ingenieur und Autor beschäftigt sich mit der Frage, wie die Biologie des Menschen die Gesellschaft beeinflusst und wie sich in der menschlichen Kultur auch unsere evolutionäre Geschichte widerspiegelt. Münzberg gehört neben Vladimir Kochergin und Susanne Thiele zu den Autoren des humorvollen Aufklärungsbuchs "Sex macht Spaß, aber viel Mühe", das 2017 unter dem Titel "Warum wir es tun, wie wir es tun" als Taschenbuch erschienen ist. Er engagiert sich bei der Regionalgruppe Braunschweig der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) und beim Kreisverband Lehrte-Braunschweiger-Land des Humanistischen Verbands Deutschlands (HVD).

Leben, Denken, Kultur und Technik wird aber nicht nur durch Gene und Meme erzeugt. Gene und Meme sind zwar wichtig, aber sie sind immer passiv. Kein Gen und kein Mem kann sich selbst kopieren. Dazu brauchen sie Helfer. Und wer sind diese Helfer? Es sind die Enzyme in den Zellen, die Neuronen in Gehirnen und die Schalter, Relais und Transistoren in Maschinen.

Was haben diese aktiven Dinge gemeinsam? Alle diese Dinge arbeiten nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Ein Schloss führt nur dann eine Aktion aus – den Riegel verschieben – wenn es in Kontakt mit einem Schlüssel der richtigen Form kommt. Schlösser sind wählerisch. Und Schlösser sind Macher, sie verändern die Position eines Riegels. Schlösser sind also wählerische Macher. Schlösser sind selektive Aktuatoren. Schlösser sind dadurch Komplexitätswandler. Schlösser reduzieren den hochkomplexen Umstand, dass es Milliarden verschiede Schlüsselformen gibt, auf eine einfache Ja-Nein-Entscheidung herunter: Riegel bewegen oder Riegel nicht bewegen. Dieses Wählerisch-Sein zusammen mit der Fähigkeit, eine einzelne anspruchsvolle Aktion auszuführen, macht ein Schloss zu einem mächtigen Werkzeug. Münzberg ist der Meinung, dass dieses Schlüssel-Schloss-Prinzip – diese Fähigkeit zur Komplexitäts-Wandlung – die Grundfunktionsweise von Enzymen, Neuronen, Neuronengruppen, Relais, Schaltern, Transistoren und Microchips ist. Enzyme lösen nur dann katalytisch eine Reaktion aus, wenn sie in Kontakt mit Molekülen der exakt passenden räumlichen Form sind. Neuronen senden nur dann einen elektrischen Impuls aus, wenn sie als Input elektrische Impulse aus Gehirnbereichen einer spezifischen räumlichen Verteilung erhalten haben. Nur wenn elektrische Impulse aus genau denjenigen Gehirnteilen kommen, mit denen das Neuron verbunden ist, wird das Neuron aktiv und sendet selbst einen elektrischen Impuls aus. Gehirnaktivitäten in anderen Gehirnbereichen ignoriert das Neuron, so wie ein Schloss einen falschen Schlüssel oder ein Enzym ein falsches Molekül ignoriert.

Selektive Aktuatoren können miteinander interagieren. Durch ihre geballte Fähigkeit zur Komplexitätsreduzierung sind sie in der Lage, zum Beispiel in einer riesigen Pixelmenge die Form einer Schnecke zu erkennen. Durch die Fähigkeit, unter bestimmten Bedingungen anspruchsvolle Dinge zu tun – Riegel verschieben, Reaktionen auslösen, Impulse aussenden, Stromflüsse freigeben – können große Gruppen von selektiven Aktuatoren hochkomplexe Dinge tun wie zum Beispiel Photosynthese, Philosophieren und Video-Vorschläge erstellen.

Nutzen des neuen Modells

Mit dem Modell der kopierfähigen Formen und selektiven Aktuatoren gibt es zum ersten Mal ein Modell, dass biologische, kulturelle und technologische Phänomene gemeinsam beschreiben kann, ohne dabei eine nichtmaterielle Entität zu bemühen.

Leben, Denken, Kultur und Technik können alle als Interaktionen von kopierfähigen Formen und selektiven Aktuatoren beschrieben werden. Sie brauchen Energie und Rohstoffe. Wenn diese vorhanden sind, dann können kopierfähige Formen und selektive Aktoren gemeinsam Katzen, Gedichte und Waschmaschinen erzeugen.

Seit der Entstehung des Lebens gibt es eine innige Kooperation zwischen den kopierfähigen Formen und den selektiven Aktuatoren. Für das Leben braucht es DNA und Enzyme, für die Literatur braucht es Bücher und biologische Neuronengruppen und für Videospiele braucht es Software, Wissen der Spieler, Microchips und Neuronengruppen (biologische und neuerdings auch technische).
Es ist die Hoffnung von Münzberg, dass sein Modell hilfreich dabei sein kann, die noch große Lücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu schließen. Bisher gab es diese große Lücke auch deshalb, weil die Modelle der verschiedenen Wissenschaftsbereiche unterschiedliche Begriffe benutzen, was die Kommunikation über Fachbereichsgrenzen sehr erschwerte. Dadurch, dass das neue Model der kopierfähigen Formen und selektiven Aktuatoren keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen Leben, Denken, Kultur und Technik macht und für die verschiedenen Bereiche einheitliche Begriffe zur Verfügung stellt, kann dieses Modell ein gutes Werkzeug sein, sich komplexen interdisziplinären Themen wie zum Beispiel künstliche Intelligenz, Sex, Gender oder Patriarchat zu nähern. Das Modell von Münzberg soll es einfacher machen, die komplexen technisch-kulturellen, technisch-biologischen und kulturell-biologischen Wechselwirkungen in der Welt zu verstehen.

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