Shoppen, Beten, Kinderkriegen

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Während der Taksim-Kundgebungen, Foto: Çapulcu Zeliha

TÜRKEI. (hpd) 'Shoppen, Beten, Kinderkriegen', so lautete ein Slogan auf dem Taksim-Platz, der die Leitlinien für die konforme Bevölkerung, die sich widerspruchslos in die kapitalistische Wachstumspolitik einreiht, parodierte. Gegen diese Zurichtung zeigt der Juni-Aufstand Wege auf, wie eine gesellschaftliche Opposition organisiert und eine politische Alternative aufgebaut werden könnte.

Der landesweite Aufstand im Anschluss an die Besetzung des Gezi-Parks in Istanbul kam für viele überraschend. Das relativ stabile Wirtschaftswachstum, kontrastiert mit einer krisenbedingten Verarmung großer Bevölkerungsgruppen in südeuropäischen Ländern, passte nicht zu den weit verbreiteten Erwartungen, nach denen Wachstum mit allgemeiner Zufriedenheit verbunden sein müsste. Die brutale Polizeigewalt widersprach dem hoch gelobten ‚Demokratiemodell Türkei‘, das den aufständischen arabischen Bevölkerungen als Vorbild präsentiert wurde. Insgesamt passte dieser Aufstand nicht in das etablierte Image der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), die sich auf einem Demokratisierungspfad befinde, indem sie das Militär in seine Schranken verwies und ‚Friedensverhandlungen‘ mit der kurdischen Bewegung aufnahm.

Mit der Parkbesetzung wurde eine Dynamik ausgelöst, die auch in der Türkei für Überraschung sorgte, allerdings aus gänzlich anderen Gründen als hierzulande. Was hier als Bruch wahrgenommen wurde, durch den sich das demokratische Vorbild zu einem vollkommen enthemmten Polizeistaat angeführt von einem autoritären Aufwiegler verwandelte, charakterisierte schon seit langem die sozialen Auseinandersetzungen in der Türkei. Wo immer sich Protest und Widerstand gegen ökologische Zerstörung, Vertreibung aus Stadtvierteln und Dörfern für Gentrifizierungs- und Energieprojekte, Enteignung und Entrechtung in all ihren Facetten, extreme bis tödliche Arbeitsbedingungen, Islamisierung und Autoritarismus entwickelte, die Reaktion der staatlichen Organe fiel stets gleich aus: Aufstandsbekämpfung.

Diese repressive Strategie funktionierte, ohne besonderes Aufsehen im Ausland zu erregen, solange die Proteste fragmentiert blieben, sie voneinander isoliert keine landesweite Dynamik und Kontinuität entwickelten. Dass nun mit der Besetzung des Parks beinahe alle oppositionellen Gruppen gleichzeitig auf die Straße gingen, die Eigendynamik der Straße für eine Annäherung sonst voneinander isolierter oder gar verfeindeter Gruppen sorgte, macht die Besonderheit eines Aufstands aus, mit dem niemand gerechnet hatte. Der Juni-Aufstand vereinte die Proteste gegen eine Partei, die parlamentarisch-demokratische Entscheidungswege monopolisiert, die Gewaltenteilung de facto aufgehoben und polizeilich-richterliche Willkür systematisiert hat, die eine historisch beispiellose Plünderung öffentlichen Eigentums und die Privatisierung gemeinschaftlicher Lebensgrundlagen vorantreibt, und die der Bevölkerung ein islamisch-konservatives Korsett verpassen möchte. Der Aufstand zeigt nun Wege auf, wie eine gesellschaftliche Opposition organisiert und wie eine politische Alternative zu diesen Entwicklungen aufgebaut werden könnte.

Autoritarismus trotz formaler Demokratie

So überraschend der Zeitpunkt des Aufstands war, so bedrückt war auch zuvor schon die Stimmung im Land. Denn entgegen der sich hartnäckig haltenden Meinung, die AKP habe die staatlichen Institutionen demokratisiert, passierte systematisch das Gegenteil. Nach bald elf Jahren Alleinregierung hat die AKP alle vormals von ihr kritisierten autoritären und zentralistischen Institutionen übernommen, die mit dem Militärputsch von 1980 eingeführt oder ausgebaut wurden. Die Partei kann zudem nach Belieben mit Gesetzen und Praktiken regieren, die für den Ausnahmezustand kennzeichnend sind, ohne die Gewaltenteilung formal aufzuheben.

Das Vorgehen der Behörden bei der versuchten Beseitigung des Parks ist symptomatisch für diese Entwicklung. Als Ende Mai die Bagger anrückten, gab es keinen genehmigten Bauplan. Die Behörden handelten illegal, was bei Bauprojekten, ob Wohnsiedlungen, Brücken, Straßen oder Staudämme eher die Regel als die Ausnahme ist. In der Vergangenheit konnten, häufig nach Protesten der betroffenen Bevölkerung, illegale Vorgehensweisen gerichtlich unterbunden, begonnene Projekte gestoppt werden. Inzwischen hat die AKP die politische Kontrolle über die Justiz hergestellt. Richterliche Baustopps stellen kaum noch ein Problem dar, sie werden ignoriert oder von einem höheren Gericht wieder aufgehoben. Eine Garantie, dass legale Planungswege und Gerichtsurteile eingehalten werden, gibt es nicht.

Dieser Zustand ist auch Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung, bei der die Staatsmacht in den Händen der regierenden Partei konzentriert wird, während den Oppositionsparteien systematisch der Zugang zu den staatlichen Institutionen und somit Einfluss auf die staatlichen Entscheidungsprozesse versagt wird. Den Höhepunkt dieses antidemokratischen Geschehens stellte ein Ermächtigungsgesetz im Jahr 2011 dar, mit dem die Regierung über sechs Monate unter Umgehung parlamentarischer Verfahren Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen konnte, die nur noch der Staatspräsident unterzeichnen musste, was jeweils umgehend geschah. Die Möglichkeit dieses Vorgehens war nach einer militärischen Intervention in die Verfassung eingeführt worden und die AKP machte von diesem Mittel ungeachtet ihrer schillernden Kritik am Militärputsch ungeniert Gebrauch. Das Gesetz diente der Reorganisation des öffentlichen Dienstes. Dahinter verbarg sich ein doppelter Zweck: Die beschleunigte Herstellung der Kontrolle über den öffentlichen Dienst durch die Besetzung mit loyalem Personal sowie eine Kompetenzverlagerung von kommunalen zu nationalen Behörden, also eine Zentralisierung politischer Entscheidungswege. Nachdem das Verfassungsreferendum von 2010 der Regierung die Kontrolle über die höchsten Justizorgane, wie das Verfassungs- und das Kassationsgericht, ermöglicht hatte, von dieser Seite der Regierung also keine Steine mehr in den Weg gelegt werden konnten, ging es darum, letzte Oppositionszentren in den nachrangigeren staatlichen Institutionen zu beseitigen.

Das Reorganisationsmuster des öffentlichen Dienstes steht in einer Linie mit der Verfassung von 1982, durch die demokratische Elemente der Selbstverwaltung in öffentlichen Einrichtungen stark beschnitten wurden. Der damals eingerichtete Hochschulrat etwa kontrolliert die Hochschulen und überwacht das wissenschaftliche Personal und die Lehrpläne. Der Rat (YÖK) selbst wird de facto durch den Staatspräsidenten Abdullah Gül dominiert, der auch die letzte Entscheidung bei der Ernennung von Hochschulrektoren trifft. Gül hat dafür gesorgt, dass an den Universitäten und den zentralen nationalen Forschungseinrichtungen regierungsnahes konservativ-islamisches Personal das Ruder übernommen hat. Seitdem hat eine Art sunnitischer Kreationismus Einzug in die wissenschaftlichen Leitlinien der Türkei genommen.

Die Systematik, mit der die Konzentration politischer Macht in den Händen der AKP durchgesetzt wurde, schlägt sich umgekehrt in der Ohnmacht der parlamentarischen Opposition nieder. Symptomatisch für diesen Zustand war der Boykott des Parlaments nach den Wahlen 2011. Sowohl die größte Oppositionspartei CHP als auch die kleinere kurdisch/sozialistische Oppositionspartei BDP boykottierten das Parlament, da gewählte Abgeordnete aus ihren Reihen nicht aus der (fragwürdigen) Untersuchungshaft entlassen wurden, obwohl dies bis dahin üblich war. Beide Parteien gaben nach anfänglich lautem Getöse den Boykott wieder auf, ohne die geringste Wirkung erzielt zu haben. Tragikomisch an dieser Situation war, dass der Boykott exakt in dem Zeitraum stattfand, in dem das Parlament sich in der Sommerpause befand.

Zahllose weitere Beispiele könnten angeführt werden, um die Ohnmacht der parlamentarischen Opposition zu demonstrieren, die permanent mit der Androhung konfrontiert ist, kriminalisiert zu werden. Mit dem Lob für die Demokratisierung im Rücken hat die AKP sich sehr früh für eine repressive Gangart entschieden. 2004 richtete sie mit Sondervollmachten ausgestattete Gerichte ein und 2006 verschärfte sie die Terrorbekämpfungsgesetze. Seitdem reicht schon die Teilnahme an einer Demonstration, auf der ‚illegale‘ Symbole gezeigt wurden aus, um wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt zu werden. In keinem anderen Land sind so viele GewerkschafterInnen, AnwältInnen, JournalistInnen, AkademikerInnen, Studierende, BürgermeisterInnen, Abgeordnete und Mitglieder der politischen Opposition auf der Grundlage von Terrorbekämpfungsgesetzen angeklagt oder inhaftiert worden (2005: 3.400 Personen; 2007: 7.700; 2010: 11.900).

Bezeichnend für den erreichten Stand der Konzentration politischer Macht ist die Aussage des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç, der mit dem Verfassungsreferendum im Jahr 2010 und der nachfolgenden Besetzung der höchsten Richterposten mit parteinahen Gewährsmännern hocherfreut einen Dankesgruß an Gott sendete: ‚Gott sei Dank‘ könne Opposition jetzt nur noch von der Straße kommen, die man als nächstes in den Griff bekommen werde. Während des Juni-Aufstands wurde diese Aussage durch die Hilflosigkeit der Opposition, die trotz der offensichtlichen Wirkungslosigkeit ihrer Anwesenheit im Parlament keine konsequente Kritik an diesem System formuliert, erneut bestätigt. Als die Regierung den Vorschlag unterbreitete, eine Volksbefragung über das Schicksal des Gezi-Parks abzuhalten, waren viele Oppositionelle spontan für ein Kräftemessen an der Wahlurne bereit, obwohl das Wahlergebnis keinerlei Verbindlichkeit gehabt hätte, während die Regierung sich generell nicht an Gesetze und Gerichtsurteile gebunden fühlt. Von einer Waffengleichheit im demokratischen Wettbewerb kann ohnehin keine Rede sein. Tausende Oppositionelle befinden sich in Haft, alle anderen sind permanent davon bedroht, eines Morgens verhaftet zu werden. Die Massenmedien gehorchen der Regierung, während alternative oder oppositionelle Medien zensiert und kritische JournalistInnen auf Geheiß der Regierung entlassen werden. Mit der Volksbefragung wäre dieser antidemokratische Zustand, der dazu führte, dass ‚die Straße‘ die Verteidigung des Parks gegen dessen illegale Beseitigung selbst in die Hand nehmen musste, mit scheinbar demokratischen Mitteln wiederhergestellt und die Bewegung passiviert worden. Wider besseres Wissen fiel den Oppositionsparteien nichts Besseres ein, als hierfür ihre Zustimmung zu geben.