Das Buch mit seinen 450 Seiten ist eine wahre Fundgrube, um diese damalige Entwicklung besser zu verstehen. Es wurde mir auch klarer, dass der „Bolschewismus“ mit seiner Gottlosigkeit und Änderung der Hierarchiestrukturen als die große Bedrohung für die Kirche empfunden wurde, als eine Ideologie, die einen „Vernichtungskampf“ gegen die „Sitten, Gebräuche“ und das „Christliche Bekenntnis“ führte. Nur durch das „Eingreifen der Männer der nationalen Erhebung“ könne Gottes Werk bewahrt und die „Mächte der Finsternis“ bekämpft werden. (Dass sie diese finsteren Mächte selbst gerufen haben, war ihnen wohl damals noch nicht klar.)
Ich argwöhnte schon in der Schule, dass die üblichen erklärenden und entschuldigenden Antworten „Hitler beschäftigte die Arbeitslosen durch Autobahnbau“ oder „die Großindustrie unterstützte ihn doch“ einfach zu dürftig, zu oberflächlich und nicht stimmig waren. Es blieb mir lange Zeit ein Rätsel, warum die Nationalsozialisten samt ihrem Antisemitismus sich so plötzlich wie eingeflogene Aliens breitmachen konnten.
Es ist auch gut nachzuvollziehen, warum die „goldenen 20er Jahre“ mit so vielen Hoffnungen gespickt waren, eine Zeit des Aufbruchs, des Abwerfens alter Korsette, Befreiung aus den starren und strengen Regeln des Zusammenlebens – wenn denn der Einzelne über die Möglichkeiten dazu verfügte.
Der Pastor, der Doktor und dann der Lehrer waren im dörflichen Leben schon seit je her Respektspersonen, die nicht in Frage gestellt wurden. Es ist kein Wunder, dass Menschen, denen Demut, Gehorsam und Gottesfurcht eingebläut worden war und denen in Notsituationen geraten wurde, noch fester zu beten und zu glauben, nicht plötzlich zu aufmüpfigen Widerstandskämpfern mutierten. Auch sollte man nicht vergessen, dass es früher zwar Kaiser, Fürsten und Bischöfe gab und später eben einen Führer, aber in jedem noch so kleinen Dorf stand vor allem eine Kirche, in denen die politische Sonntagspredigt wie bereits geschildert ablaufen konnte und sicherlich oft abgelaufen ist. Und da der Kirchenbesuch quasi Pflicht war, konnten diese Pfarrer „ganze Arbeit“ leisten. Aus gutem Grund hatte Bismarck mit dem Kanzelparagrafen die Politisierung der Predigt untersagt.
Kritische Stimmen, jedenfalls öffentliche, gab es nicht. Wie überhaupt Kritik als Verhaltensweise negativ besetzt war. Kritik galt früher immer als distanzierend, sie wurde damals – übrigens bis in die 60er Jahre – als unfein angesehen, als destruktiv und geradezu als zersetzend. In einem solchen kritikunwilligen und kritikunfähigen Klima will man sich nicht ausschließen, macht also mit, wenn man nicht besser überhaupt schweigt. Liest man das Buch von Owe Gustavs wird einem bewusst, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, ungestraft kritisieren zu dürfen und konstruktive Kritik als Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung anzusehen.
Böckenfördes gern kirchlicherseits zitiertes Diktum, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, wäre im Lichte dieser Verhaltensweisen der damaligen Zeit dahingehend zu ergänzen, dass gerade jene Institution, die diese Voraussetzungen angeblich leisten kann, die Kirche nämlich, die Richtigkeit der Voraussetzungen auch nicht garantiert, schon gar nicht, wenn sie den „Markt der Werte“ als alleiniger „kompetenter Wertelieferant“ dominiert, ohne jegliche Kontrolle und offene gesellschaftliche Reflexion.
Selbst Frau Käßmann schreibt in ihrem neuesten Buch „Gott will Taten sehen – Christlicher Widerstand gegen Hitler“: „..., dass es von evangelischer wie katholischer Seite Proteste gegen die Politik des nationalsozialistischen Regimes gegeben habe... allerdings sei dies nicht kirchenoffiziell, sondern in der Verantwortung mutiger Einzelner geschehen“.
Ein weiteres Zitat aus Owe Gustavs‘ Dokumentation soll diese kritischen Bemerkungen zu einem Pfarrer im Nationalsozialismus abschließen: „ … daß ohne seinen Großvater aus dem Nationalsozialismus zumindest auf Hiddensee wohl nichts geworden wäre, hätte er nicht immer wieder die Hiddenseer aufgemuntert, zu den Parteiveranstaltungen der NSDAP zu gehen“.
Dass diese Dokumentation bei der Familie des Autors nicht auf Begeisterung stieß, ist verständlich. Arne Gustavs, ein Bruder von Owe Gustavs, lässt sich in einer Gegendarstellung ganz anders vernehmen und widerspricht seinem Bruder vehement.
Er wiederum zitiert seinen Großvater mit folgenden, ganz anders klingenden Worten, die dieser nach dem zweiten Weltkrieg geäußert hat: „Den Besuch von Veranstaltungen der NSDAP habe ich ostentativ vermieden. Für dieses Verhalten bin ich vom Ortsgruppenleiter Robert Mann jahrelang verfolgt worden: Er hat meine blühende Evangelische Frauenhilfe zerstört und meinen ebenso blühenden Posaunenchor vernichtet. Außerdem hat er mich, wie aus jetzt gefundenen Akten hervorgeht, bei der Gestapo angezeigt und mich im Auftrage der Gestapo dauernd beobachtet.“
Abschließend möchte ich sagen, dass ich das Buch von Owe Gustavs Buch nicht als Verurteilung eines einzelnen Mannes verstehe, sondern als Zeitdokument, um zu verstehen, welcher Geist seinerzeit herrschte und wie damals die christliche Botschaft gedeutet und umgesetzt wurde, und wie sehr sich doch das viel bemühte „christliche Menschenbild“ heute von dem damaligen unterschied. Es gab offenbar zuerst viel Zustimmung, später dann zunehmend Distanzierung, Kompetenzgerangel und Kritik, was dazu führte, dass die NSDAP und ihre Untergliederungen die Manipulation der Menschen immer mehr selbst übernahm. Dennoch bleibt festzuhalten: Ohne den Boden, den die Kirchen mit ihrer Erziehung zum unkritischen Gehorsam und Gottesfurcht bereitet haben, wäre diese ganze unheilvolle Entwicklung nicht verständlich und wohl kaum so abgelaufen.
Selbst wenn man den Kommentaren des Autors Owe Gustavs nicht zustimmen kann – die zitierten Texte sprechen für sich. Sie sollten ein Nachdenken auslösen und ein Verstehen des Denkens der damaligen Zeit bewirken, das eben stark durch Glauben und Kirche geprägt war. Bloße empörte Zurückweisung seitens der Kirchen ist zwar verständlich, wird der damaligen Situation nicht gerecht.
Ein Text von Will Vesper, einem „Blut- und Boden-Dichter“ der damaligen Zeit, ist jedenfalls immer noch am Pfarrhaus zu lesen:
"Gottes / sind Wogen und Wind, / aber Segel und Steuer, / sind euer, / daß ihr den Hafen gewinnt."
Lediglich der Name des Dichters wurde übertüncht, weil der als »Heimatpoet ja nur so‘n nationalsozialistischen Kram« verfasst hat, so Pastor Domrös1992, dort 1986 bis 2008 tätig.
Sigrun Stöllger
Owe Gustavs, Reichsgottesdienst auf Hiddensee 1933 -1945. Arnold Gustavs – Inselpastor im Dritten Reich. Nationalsozialistisches in pommerschen Kirchenblättern und dem Jahrbuch „Auslanddeutschtum und evangelische Kirche“. Eine Dokumentation. Verlag Edition Andreae Hiddensee, 2., durchges. Aufl., 2008, ISBN 978-3-939804-41-3, 459 S.; 29,80 €.