Serien neu gesehen

Eine Geschichte des Todes und des Lebens

into_the_abyss_titel.jpg

Fotos: rottentomatoes.com

BERLIN. (hpd) Jeden Freitag veröffentlicht der hpd einen Artikel zu einem Film oder einer Serie, die mit einem “humanistischen Auge” gesehen werden. Heute wird die Dokumentation “Into the Abyss” von Werner Herzog vorgestellt. 
Werner Herzog ist gegen die Todesstrafe. In seiner Dokumentation “Into the Abyss” (dt. “In den Abgrund”) konzentriert er sich auf einen Fall, auf Michael Perry und Jason Burkett, die als Jugendliche drei Menschen ermordeten. Sie wollten mit dem Auto eines der Opfer eine Spritztour machen. Ein Film, der einem – wie den Gesprächspartnern des Regisseurs – oft die Tränen in die Augen treibt.

Der Untertitel lautet “A Tale of Death, a Tale of Life” – eine Geschichte des Todes, eine Geschichte des Lebens. In diesem Fall stirbt einer der Verurteilten, der andere bleibt am Leben. Der Filmemacher ist selbst nie im Bild, er stellt im ruhigen Ton und mit trockenem Witz Fragen, hakt bisweilen bis an die Schmerzgrenze nach. Zu Wort kommen jene, die beruflich mit Todeskandidaten zu tun haben, Bekannte und Familienmitglieder der Täter und der Opfer sowie ein Mitarbeiter des Morddezernats. Die Musik von Mark Degli Antoni verleiht der Szenerie jeweils die passende Stimmung.

Religion läuft als Subtext immer mit. Nahezu jeder der Interviewten beruft sich auf Gott, verlangt von diesem Vergebung oder Trost, irgendeinen Sinn. Der hingerichtete Mörder glaubt, er käme ins Paradies und träfe dort seinen Vater, der wenige Tage vor ihm starb. Werner Herzog gab bei einer Filmvorführung an, das Thema Religion so gut als möglich umschifft und davon abgelenkt zu haben, wenn sich jemand explizit darauf bezog.

Prolog

Der Reverend Richard Lopez erzählt eine Stunde vor Michael Perrys Tod über einen lieben, fürsorglichen, vergebenden, gnädigen Gott. Er begleitet jeden Todeskandidaten, bis dessen Tod eintritt.
Warum erlaubt Gott die Todesstrafe?
Ich kenne die Antwort nicht.
Der Kaplan spielt Golf, alleine. Er nimmt die Schönheit des Grases auf, die Eichhörnchen, Rehe, manchmal eine Kuh, und er erkennt das Leben. Das Leben der Menschen wird weggenommen aufgrund ihrer schlechten Entscheidungen, eines Fehlers. Das Leben ist wertvoll. Ich wünschte, ich könnte den Tod desjenigen auf der Todesbahre aufhalten.

Michael James Perry acht Tage vor seinem Tod am 1. Juli 2010. Die Verbrechen beging er zehn Jahre zuvor. Er wirkt wie ein naiver Junge. Sagt, er sei Christ und er komme ins Paradies.

Michael Perry, acht Tage vor seiner Hinrichtung

Das Verbrechen

In Conroe, Texas, begann die Geschichte. Tatortaufnahmen und Tatortfotos, Blut überall im Haus. Nach dem Fund einer Frauenleiche untersuchte die Polizei das Haus, wie Lt. Damon Hall erzählt, der mit dem Fall beauftragt war. Mit ihm besuchen wir die Orte, an denen die Leiche gefunden wurde, das Haus. Seit Tagen brennt das Licht, der Fernseher läuft. Die 50jährige Krankenschwester Sandra Stotler wurde von Michael Perry und Jason Aaron Burkett ermordet. Sie war gerade dabei, Kekse zu backen. Die beiden 19jährigen wollten den roten Camaro, der in der Garage stand.

Das Auto fuhren sie 72 Stunden, bis sie geschnappt wurden.

Danach stellte sich heraus, dass Sandra Statler nicht das einzige Opfer war. Der 16jährige Adam Stotler, Sandras Sohn, und Jeremy Richardson, dessen Kumpel, mussten sterben, weil Michael Perry und Jason Burkett nicht mehr auf das Gelände gelangen konnten, um das Auto zu holen – es ist umzäunt und man muss einen Code eingeben. Sie lockten ihre Bekannten mit einer falschen Geschichte in den Wald und töteten sie dort.

Lisa Stotler-Balloun ist die Tochter und Schwester der Opfer. Sie bricht zusammen, als sie nach Tagen der Hoffnung erfährt, dass auch ihr Bruder Adam ermordet wurde.

Charles Richardson ist Jeremys älterer Bruder. Er wurde auf der Beerdigung wegen Drogenbesitzes verhaftet. Sein Vater saß bereits wegen Mordes im Gefängnis. Seine Schwester wurde auf der Bundesstraße überfahren, als sie ihn besuchen wollte. Jeremy war ein netter Junge. Charles hat ihn den Leuten vorgestellt, die ihn umbrachten.

Die beiden Mörder widersetzten sich der Festnahme und trugen Schusswunden sowie Verletzungen von splitterndem Glas davon.

Jason Burkett erzählt von der Verhaftung. Seine Strafe beträgt 40 Jahre, keine Todesstrafe. Das verdankt er seinem Vater, der während der Verhandlung die Verantwortung für eine missratene Erziehung auf sich nahm, da er nahezu die gesamte Kindheit und Jugend seines Sohnes im Gefängnis verbrachte, nicht für ihn da war. Dies rührte anscheinend zwei Jurymitglieder so sehr, dass sie sich gegen die Todesstrafe für Jason Burkett aussprachen.

Beide Täter behaupten, sie seien unschuldig. Doch Zeugen und Indizien sprechen eine deutliche Sprache.

Conroes Dunkle Seite

Ein Bürger Conroes erzählt, wie ihn jemand auf einem Parkplatz mit einem langen Schraubenzieher niederstach. Außerdem kannte er Jason Burkett. Der hatte einmal versucht, ihn mit einer Pistole umzubringen, wegen eines Mädchens. Der Schuss ging daneben. Er ist Handwerker, hat im Gefängnis lesen gelernt.

Michael Perry und Jason Burkett gehen nach der Tat in eine Bar und behaupten, sie hätten im Lotto gewonnen und von dem Geld zwei Autos gekauft. Sie nehmen Leute mit auf Spritztouren, erzählt eine Kellnerin. Die beiden Mörder hatten auch Gefallen am Auto ihrer Mitbewohnerin gefunden, erzählt sie weiter. Sie blendet bewusst aus, dass sie das Opfer hätte werden können, anstelle von Sandra Stotler.

Jason Burkett erzählt, wie er Michael Perry kennenlernte und ihn bei sich im Trailer aufnahm, sich um ihm kümmerte. Perry wollte nicht arbeiten, deshalb schmissen seine Eltern ihn zu Hause raus. Michael Perry erzählt eine Begebenheit aus seiner Jugend, als seine Eltern ihn in ein Camp in Florida steckten, von Krokodilen und Affen.

Jason Burkett

Zeit und Leere

Jason Burkett wird 59 oder 60 Jahre alt sein, wenn er das Gefängnis verlässt. Als er die Tat beging, war er 19. Als Kind hatte er ein Neuroblastom, eine sehr schmerzhafte Krebserkrankung.

Sein Vater ist seit Jahrzehnten im Gefängnis und wird noch Jahrzehnte darin verbringen, wegen Drogen und Alkohol. Er weinte, während er Jason im Gerichtssaal verteidigte: Bitte bringen Sie meinen Sohn nicht um! Wenn Sie ihn töten, bringt das die Getöteten nicht zurück! Er hatte keine Chance. Ich war nicht für ihn da, seine Mutter war allein erziehend mit vier Kindern. So rettete er das Leben seines Sohnes.

Werner Herzog bleibt beharrlich, fragt nach. Bitte beschreiben Sie, wie es sich anfühlte, mit Ihrem Sohn im Bus vom Gerichtssaal zum Gefängnis zu sitzen, beide in Handschellen.

Sandra Stotlers Auto steht noch immer auf einem Parkplatz der Polizei, neben anderen Fahrzeugen, die offensichtlich an Verbrechen beteiligt waren, mit Schusslöchern, kaputten Fensterscheiben. Im roten Camaro war ein Baum gewachsen, ins Auto hinein, durch den Fußboden.

Warum sind sie gestorben?
Für ein Auto? Fragt die Schwester und Tochter, Lisa Stolter-Balloun. Sie hat darauf keine Antwort.
Wie leben Sie damit?
Gar nicht. Ich habe komplett dichtgemacht. Warum soll man leben? Ich muss für meine Kinder leben. Vier Jahre lang ging ich nirgendwo hin, bin nicht ans Telefon gegangen. Wenn ich niemanden an mich heranlasse, kann mir nichts mehr wehtun. Mein Leben ist leer. Wirklich leer.
Ihr Stiefvater, Bruder und der Familienhund waren kurz zuvor von einem Zug überfahren worden. Andere Familienmitglieder waren im Laufe von sechs Jahren gestorben, Onkel, Stiefbruder, Großvater. Sie verlor alle Familienmitglieder bis auf ihre Großmutter, die ebenfalls dichtgemacht hat.

Ein Hoffnungsschimmer

Melyssa Burkett ist die Ehefrau von Jason. Sie ist überzeugt davon, dass er nichts mit den Morden zu tun hat. Sie verliebte sich in ihn, bevor sie ihn das erste Mal sah. Sie hatte an seinem Fall gearbeitet. Er hatte sich auch in sie verliebt. Wegen eines Regenbogens, der das Gefängnis umspannte, als sie es nach ihrem ersten Besuch verließ, glaubt sie, er sei der Richtige, ein Zeichen.

Michael Perry vergisst manchmal, dass er nur noch ein paar Tage zu leben hat. In acht Tagen will der Staat Texas mich ermorden, sagt er. Wenn es so weit ist, wenn ich auf der Bahre liege, muss ich damit klarkommen. Er wird mit einer Giftspritze getötet.

Werner Herzog

Protokolle des Todes

Death House, Todeshaus.

Fred Allen war früher Captain des Death House Teams. Er hat mehr als 125 Menschen auf der Todesbahre befestigt, ihre letzten Stunden, Minuten, Sekunden begleitet, letzte Wünsche erfüllt, wenn er konnte. Nachdem der Arzt denjenigen für tot erklärt hat, musste er wieder hinein, die Gurte losmachen. Mitunter zweimal die Woche. Nachdem er die erste Frau, Karla Fay Tucker, begleitet hatte, sie bedankte sich bei ihm für alles, was er für sie getan hatte, konnte er nicht mehr. Als die Nachricht ihrer Hinrichtung im Fernsehen kam, begann er zu zittern, zu schwitzen, zu weinen, es tat weh. Er erinnerte sich an sie. Dann begann er, sich an die anderen Gefangenen zu erinnern, ihre Augen, an einen nach dem anderen. Sein Leben veränderte sich. Niemand hat das Recht, das Leben eines anderen zu nehmen, sagt er. Auch nicht, wenn es Gesetz ist. Und es ist so einfach, das Gesetz zu ändern.

Lisa Stolter-Balloun, die Schwester und Tochter ist froh, dass sie bei der Hinrichtung war. Ein großes Gewicht wurde von ihr genommen, ihr Herz tat weniger weh. Er sieht aus wie ein Junge, dachte sie. In ihrem Kopf hatte sie aus ihm ein Monster gemacht. Er sieht aus wie ein Junge auf der Todesbahre.
Er sagte, er vergebe ihnen, seine letzten Worte.
Sie wollte niemanden sterben sehen, sie weinte.
Sie hörte seine Mutter weinen.
Nach der Injektion schnappte er viermal nach Luft. Dann war er tot. Es war vorbei.
Ihr würde vielleicht eine jahrzehntelange Strafe reichen. Aber einige Leute verdienen es nicht zu leben.

Epilog

Melyssa Burkett streitet ab, Groupie eines Mörders zu sein (das kommt häufig vor). Obwohl sie einander nicht anfassen oder umarmen konnten, ist sie schwanger, das Kind ist – juristisch – von ihm, ob biologisch, will sie nicht sagen.
Leider fragt Herzog hier nicht, weshalb sie ein Kind von einem verurteilten Mörder bekommen will, der noch jahrzehntelang im Gefängnis sein wird, dessen Großvater und Onkel ebenfalls im Gefängnis sind.

Fred Allen, der ehemals Captain im Death House war, will sein Leben richtig leben. Vögel beobachten, Kolibris. Sich gut fühlen.

Fazit

Drei Menschen wurden wegen einer Lappalie getötet, weil zwei Jugendliche eine Spritztour in einem roten Camaro machen wollten. Dieser Kontext dürfte selbst hartgesottene Gegner der Todesstrafe einige Nerven kosten. Werner Herzog sagt an einigen Stellen im Film, dass er gegen die Todesstrafe sei. Aber er lässt seinen Gesprächspartnern ihre Meinung, versucht nicht, sie von seiner zu überzeugen.

Auch wenn er hart nachfragt, hat man den Eindruck, die Gesprächspartner sind erleichtert, dass sie endlich erzählen dürfen, sich zeigen können. Dadurch, dass die Nächsten der Opfer wie der Täter zu Wort kommen, entsteht ein tiefes Verständnis für jede Seite. Ob man anschließend für oder gegen die Todesstrafe ist, hängt vermutlich auch von der Voreinstellung ab.

Maxie Weber

Trailer (englisch):

 

 

Herzog hatte fünf Todeskandidaten interviewt, die anderen Fälle wurden in einer Kurzserie im Fernsehen ausgestrahlt. “Into the Abyss” wurde in einer Voice-over-Version im ZDF gezeigt, in der Originalfassung kann man ihn auch finden.


Into the Abyss (Tod in Texas) USA 2011. Regie: Werner Herzog, Mitwirkende u.a.: Michael Perry, Damon Hall, Lisa Stolter-Balloun, Charles Richardson, Jason Burkett, Jared Talbert, Amanda West. 107 Minuten.