Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft

BERLIN. Nirgends hat sich das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat in den letzten Jahren so verändert, wie im Bereich der inneren Sicherheit.

Wo früher ein vermeintlich allmächtiger Leviathan kollektive Abwehrreflexe freisetzte, generiert nun ein unstillbares Bedürfnis nach Sicherheit eine gesetzliche Maßnahme nach der anderen. Und es ist nicht allein die allgegenwärtige aber kaum fassbare terroristische Bedrohung, die diesen Trend zu Überwachen und Strafen befördert. Kontrolle, Zwang und Ausschluss sind mittlerweile wieder akzeptierte Formen gesellschaftlicher Selbstregulation.

Der Rechtsstaat hat sich gewandelt. Diesen Wandel jedoch lediglich als Abbau von Freiheitsrechten zu fassen, greift zu kurz. Der Protest dagegen, so berechtigt er in der Sache ist, mobilisiert kaum noch. Die aktuelle Ausgabe der vorgänge nimmt diesen Wandel "Vom Rechtsstaat zur Sicherheitsgesellschaft" in den Blick, analysiert das Erstarken des überwachenden und strafenden Staates wie auch die damit korrelierende Veränderung des gesellschaftlichen Selbst-Bewusstseins. Fritz Sack unterzieht anhand der Kontroverse um Günther Jakobs These vom Feindstrafrecht das Selbstverständnis und die Selbstverständigung der juristischen Zunft einer kritischen Bestandsaufnahme und zeigt an, welche Richtung die Rechtsstaats-Debatte angesichts der Sicherheitsgesellschaft nehmen sollte.

Peter-Alexis Albrecht rechnet mit dem vorherrschenden "nach-präventiven Strafrecht" ab. Manfred Kutscha ruft in Erinnerung, dass staatliche Eingriffe in die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht erst seit dem 11.9.2001 zu verzeichnen sind und verweist auf die bedeutende Schutzfunktion des Bundesverfassungsgerichts. Die hängt allerdings von der Identifikation der Bevölkerung mit ihm ab. Ob die Trennung von Polizei und Verfassungsschutz trotz verstärkter Kooperation noch gewahrt ist, durchleuchten Christoph Gusy und Kristine Pohlmann. Jens Puschke zweifelt an dem Sinn der Zuschreibung "Intensivtäter" im Jugendstrafrecht. Lorenz Böllinger fragt sich, welchem Ziel die neuen Regelungen zur Sicherungsverwahrung dienen. Nils Leopold kommt bei der Analyse der Videoüberwachung zu dem Schluss, dass Big Brother Privatmann ist. Stefan May sieht die innere Dynamik der Sicherheitsgesellschaft in einer ausufernden Prävention, die permanent neue Sicherheitsbedürfnisse generiert. Günter P. Stummvoll beobachtet eine Infiltration des Rechtssystems durch Praktiken des Risikomanagements, bei denen der proaktive Bürger gefordert wird. Tobias Singelnstein befürchtet, dass auch die Verfassung kaum Schutz bietet gegen die Untergrabung rechtsstaatlicher Standards durch die neuen Formen der Sozialkontrolle, denn auch sie unterliege einem inhaltlichen Wandel. In ihrer Gesamtheit zeigen die Beiträge das Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Sicherheitsgesellschaft auf. Dessen Dynamik, so das vorläufige Fazit, entfaltet sich zu Ungunsten des Rechts.

Genaueres zu den Aufsätzen im anhängenden Editorial.

Dieter Rulff

 

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