WIEN. (hpd) In Österreich dürften heuer bis zu 80.000 Menschen aus der katholischen Kirche austreten. Deren Chef in Österreich, Kardinal Christoph Schönborn, spricht von der „größten Austrittswelle seit der Nazizeit“. Eine Aussage, die in mehrerlei Hinsicht bedenklich ist.
Man darf keine Gelegenheit verstreichen lassen, die Kirche zum Opfer zu stilisieren. Auch wenn es in dem Interview mit der Tiroler Tageszeitung eher um den Missbrauchsskandal der vergangenen Jahrzehnte geht – ein bisschen auf die Tränendrüsen drücken muss drin sein. Gerade, wenn man Kardinal ist. „Die größte Austrittswelle“ seit der NS-Zeit soll der katholischen Kirche in Österreich bevorstehen, sagt Schönborn in dem Interview ganz locker vor sich hin.
Das soll den Mythos des NS-Opfers katholische Kirche revitalisieren. Die Kirche als Ort des moralischen Widerstands und irgendwie auch der österreichischen Identität. So sieht man sich in der Kirche gerne. Schönborn impliziert mit dem Sager auch, dass die heuer Austretenden der Kirche genau so großen Schaden zufügen wie einst die Nazis. Das verhöhnt die Menschen, die, angeekelt vor dem Schaden, den kirchliche Einrichtungen über Jahrzehnte an tausenden Kindern angerichtet haben, mit dieser Institution nichts mehr zu tun haben wollen. Auch liegt hinter dieser Austrittswelle keine lenkende Macht, wie es angeblich die Nazis gewesen sind – dafür muss die Kirche selbst gerade stehen. Hätte man nicht Kinder vergewaltigt, verprügelt und gedemütigt und hätte man die Täter nicht jahrzehntelang gedeckt.
Ein weiterer Mythos
Nebenbei ist die Sache mit dem NS-organisierten Austritt ein weiterer Mythos. Einer, den die Zahlen vielleicht auf den ersten Blick bestätigen. Bis zu 300.000 Menschen sind laut Literatur zwischen 1938 und 1940 aus der katholischen Kirche in Österreich ausgetreten. Ein nicht unerheblicher Teil dürfte der evangelischen Kirche beigetreten sein. Hier darf man einen hohen Prozentsatz an NS-Sympathisanten unterstellen. Eine eigene Kampagne für den Kirchenaustritt gab es übrigens nicht. Und Österreichs „bekannteste“ Nazis, Adolf Hitler und Adolf Eichmann, blieben bis zu ihrem Tod Mitglieder der katholischen Kirche. Für die, die jedes religiöse Bekenntnis ablehnten, kann man das nicht so eindeutig sagen. Sicher werden „Neuheiden“ dabei gewesen sein. Der größte Teil dürfte allerdings eher ein Rückstau aus der Zeit des Austrofaschismus gewesen sein. Damals mussten Austrittswillige nachweisen, dass sie psychisch gesund sind. Andernfalls drohte die Psychiatrierung.
Und viele damals Konfessionsfreie sahen sich gezwungen, der Kirche wieder beizutreten. Als Konfessionsfreier bekam man im christlichen Ständestaat kaum einen Arbeitsplatz. Angewandte Nächstenliebe. Prominentes Beispiel ist Hans Breirath, der Pflegevater von Sidonie Adlersburg, jenes später von den Nazis ermordete Roma-Mädchen, dem Erich Hackl mit dem Buch „Abschied von Sidonie“ ein Denkmal gesetzt hat. Das betraf vorwiegend SozialdemokratInnen, die etwa bei der in den 20er Jahren vom Freidenkerbund organisierten Austrittswelle mitgemacht hatten, und KommunistInnen. Die Nähe der katholischen Kirche zu den faschistischen Heimwehren trieb ab 1927 ebenfalls Zehntausende zum Austritt – auch das vorwiegend SozialdemokratInnen. Allein 1927 waren das 28.000 Menschen. Ein großer Teil dürfte nach 1934 dem katholischen Druck nachgegeben haben.
Die Vermutung erscheint zulässig, dass ein großer Teil, wenn nicht die Mehrheit derer, die zwischen 1938 und 1940 aus der römischen katholischen Kirche austraten, eher im Lager der NS-Gegner anzusiedeln waren, als dass sie NS-Sympathisanten gewesen wären. Auch sie profitierten davon, dass die Nazis das allzu drückende Kirchenjoch etwas lockerten. Das verhinderte nicht, dass viele von ihnen ins KZ verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. Die Nazis hatten lange Listen mit AntifaschistInnen – viele wurden ihnen übrigens von den allerchristlichsten Vertretern des Ständestaats ausgehändigt.
Der Kampf gegen den Atheismus
Selbst die, die die NS-Zeit unbehelligt überstanden, bekannten sich lieber nicht zum Atheismus. AtheistInnen hatten die Nazis nicht sonderlich gern. Womit sie sich mit den Leuten vom Ständestaat einig waren. Der Freidenkerbund wurde in beiden Ländern 1933 verboten. In Deutschland war das ein erster Vorbote der späteren systematischen Verfolgungsmaßnahmen, in der Zentrale des Freidenkerbunds wurde die „Reichsstelle zur Bekämpfung der Gottlosigkeit“ eingerichtet. In Österreich verbot der faschistische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß den Freidenkerbund wenige Wochen nach der Zerschlagung des Nationalrats – und noch vor dem Verbot der NSDAP.
Interessant wäre auch, wie viele eher gläubige KatholikInnen 1938 bis 1940 aus Protest gegen die offene kirchliche Unterstützung für das neue Regime austraten. Kardinal Theodor Innitzer begrüßte Hitler unmittelbar nach dem Einmarsch geradezu überschwänglich in einem Brief, den alle katholischen Bischöfe in Österreich unterzeichnet hatten. Auch das kein Indiz, dass die katholische Kirche in ihrem Kern antifaschistisch und bedingungslos österreich-patriotisch war.
Kirche ist selbst verantwortlich
Den Großteil der damaligen Austrittswelle hat sich die katholische Kirche selbst zuzuschreiben – vor allem ihren eigenen Repressionsmaßnahmen während des austrofaschistischen Regimes. Nur ein Teil war tatsächlich NS-gesteuert.
Nachhaltig war die Austrittswelle nicht. Die Volkszählung von 1951 weist für ganz Österreich 264.014 Konfessionsfreie aus. Weniger, als laut Literatur zwischen 1938 und 1940 austraten. Demgegenüber stehen bei einer Bevölkerung von 6,93 Millionen 6,17 Millionen KatholikInnen und 429.000 ProtestantInnen. Macht einen KatholikInnen-Anteil von 89 Prozent und etwas mehr als 6 Prozent ProtestantInnen. Die Konfessionsfreien machen nicht einmal vier Prozent der Bevölkerung aus.
Heute stellen sie mit fast zwei Millionen Mitgliedern die mit Abstand zweitgrößte Gruppe nach den KatholikInnen, die nur mehr etwa 5,5 Millionen zählen – weniger als zwei Drittel der Bevölkerung. Die Kirche hat in den vergangenen Jahrzehnten einen gewaltigen Aderlass hinter sich. Eine schleichende Austrittswelle, wenn man will. Weitaus größer und aus ihrer Sicht schmerzhafter als alles, was die Nazis jemals orchestriert haben sollen. Dafür trägt die Kirche die Hauptverantwortung. Das sollte auch ein Christoph Schönborn zur Kenntnis nehmen, statt wieder einmal die angebliche Opferrolle seiner Einrichtung mit einem Seitenhieb hervorzukehren.
Christoph Baumgarten